Angriff

Der in Russland geborene und nun in Harvard lehrende ukrainische Historiker Serhii Plokhy hat mit Stand Dezember 2022 einen detaillierten, mit unzähligen Quellen belegten Ablauf des russischen Überfalls auf die Ukraine vorgelegt, der des Weiteren auch auf die ideologischen Grundlagen Putins sowie die Einbettung in einen historischen wie weltpolitischen Zusammenhang eingeht, wobei der 65-Jährige auf seine lebenslange Expertise als Historiker zurückgreifen kann.

Kernfrage für Plokhy ist, welche Ideologie hinter Putins Überfall steht, dass er Gebiete in der Ukraine als russisch deklariert. Dabei geht er mit Iwan III. (den "Großen") und Iwan den IV. (den "Schrecklichen") ins 15. und 16. Jahrhundert zurück. Iwan III. sah sich als biologischer Nachfahre der Herrscherfamilie des Kyjiver Rus und gründete damit die Tradition, die Ukraine gehöre zum Moskowiter Herrschaftsbereich. Sein Enkel Iwan IV. übernahm diese Abstammungserzählung und verlängerte seine Herkunft bis Augustus (ob jetzt Italien auch aufpassen muss?). Ab dem 19. Jahrhundert wurde auch die nationale und ethnische Frage gestellt, wer Russen sind. Die erste Antwort war, dass Russen, Ukrainer und Weißrussen ein Volk sind. Die Sprache der Letzteren sei durch Fremdherrschaften verunreinigt worden. In den 1860er Jahren ließ sich dieser Standpunkt nicht mehr durchsetzen und offizielle Diktion des Zarenreichs wurde, dass das russische Volk aus drei Nationalitäten bestehe: Russen, Weißrussen und Ukrainer. Und genau dies ist auch der ideologische, nationalistisch-imperialistische Standpunkt Putins, den er mehrfach in den letzten Jahren auch öffentlich bekundet hat und worauf seine kriegerische Kolonialpolitik aufbaut.

Auch der Nationswerdungsprozess der Ukraine war schwierig. Im 19. Jahrhundert war das Land fremdbeherrscht von Russland, Polen und Österreich-Ungarn, außerdem ein Vielvölkergebiet (Ukrainer, Russen, Juden und weitere). Ein Teil der nataionalistischen Intellektuellen war prorussisch, ein anderer antirussisch. Ein ukrainisches Nationalbewusstsein begann im österreichisch-ungarischen Teil, als ruthenische Intellektuelle sich von Wien im Stich gelassen fühlten. Sie knüpften überstaatliche Verbindungen. Der erste Versuch einer Eigentstaatlichkeit wurde von Lenins Roter Armee zerschossen, eine Integration und gewisse Rechte erhielt die Ukraine erst mit Chrustschow und Breschnew. Der zweite Staatswerdungsprozess 1991 gelang, die Grenzen der Sowjetrepublik konnten gehalten werden (Plokhy geht sehr ausführlich auf die Zeit von 1917 bis zu Breschnew ein), der Preis war aber die nukleare Entwaffnung sowie die fast gänzliche Übergabe der sowjetischen Schwarzmeerflotte an Russland inklusive Nutzungsrecht des Hafens von Sewastopol. Dass die Ukraine zerrissen ist, zeigen die Ereignisse der Orangen Revolution sowie des Euromaidan. Dennoch habe sich mit der Besetzung der Krim durch Russland aber auch durch eine neue Generation eine Änderung des Nationalgefühls eingestellt. Russland ging bei den Wahlen 2019 noch davon aus, dass Poroschenko den nationalistischen Westen der Ukraine repräsentiere, der aus einer jüdischen Familie stammende und russischsprachige Selenskyj den russlandfreundlichen Osten. Damit habe sich Russland wie auch Putin verschätzt: Selenskyj wird zum Symbol einer überethnischen ukrainischen Identität. Plokhy unterlegt diesen Teil des Buchs akribisch mit unzähligen Quellen.

Dass Putin seine Ideologie 2014 begann, auch militärisch Wirklichkeit zu werden, sei ein Zusammenspiel vieler und auch äußerer Faktoren. Der Westen war in den Nuller- und Zehnerjahren zersplittert, von unterschiedlichen Interressen getrieben. 2008 haben Frankreich und Deutschland verhindert, dass die Ukraine einen Aktionsplan für die Mitgliedschaft (Membership Action Plan) der NATO vorgelegt bekommt. 2014 hätten die USA mit Obama das Interesse an Europa mehr oder weniger verloren und sich auf Ost- und Südostasien konzentriert, die Ukraine hatte eine Interimsregierung der Euromaidan-Organisatoren, was der ideale Zeitpunkt gewesen wäre, die Krim zu annektieren und zwei Gebiete in der Ostukraine zu separieren. Die Reaktion: Zahnlose Sanktionen, keine weiteren Unterstützungen für die Ukraine, schon gar nicht militärisch. Die beiden Minsker Abkommen zementierten die Erweiterung der russischen Einflusssphäre in der Ukraine und schwächten den ukrainischen Staat. Putins Vorstellung war die Föderalisierung der Ukraine mit weitgehenden, auch außenpolitischen Rechten der Regionen, was eine zentralstaatliche Annäherung an die NATO und die EU grundsätzlich mehr oder weniger verunmöglicht hätte. Mit Selenskyj waren die ideologischen Traumbilder Putins zerplatzt, er sah sich mit einer völlig neuartigen ukrainischen Identität konfrontiert.

Bleibt der Blick in den Westen. Auch 2021/22 sah Putin einen zersplitterten Westen. Das Vereinigte Königreich ist nicht mehr EU-Mitglied, Deutschlands Wirtschaft ist abhängig von russischem Gas, in manchen Staaten sind eher moskaufreundliche Rechtspopulisten einflussreich oder gar in der Regierung. Dass die USA unter Biden die Allianz zusammenschweißen könnte, damit war nicht zu rechnen. Und zu Beginn des Überfalls sah es auch danach aus, dass Europa dem Vierpunkteplan US-Generasl Milley bezüglich des Überfalls auf Russland mit Hauptziel einer Verhinderung eines Atomkriegs nicht übernehmen werde. Dieser sah vor:


  1. Kein kinetischer Konflikt mit Russland (= Kampfhandlungen der USA/NATO)
  2. Den Krieg innerhalb der Grenzen der Ukraine halten
  3. Bewahrung und Stärkung der Einheit der NATO
  4. Stärkung der Ukraine mit Kampfmitteln

Nachzulesen in derhttps://www.washingtonpost.com/national-security/interactive/2022/ukraine-road-to-war/

Es war nun klar: Die USA reagieren auf einem anderen Niveau als 2014 nach der Annexion der Krim und beim hybriden Krieg Russlands in der Ostukraine. Die Frage war, ob die europäischen NATO-Partner mitziehen. In den ersten Monaten des Überfalls sah es nicht danach aus.

Anders als die zögerlichen Staaten Frankreich und Deutschland stand Großbritannien unter Boris Johnson hinter der Strategie der USA. Mehr noch, er wollte Großbritannien am europäischen Kontinent wieder als Großmacht platzieren. Anfang Februar 2022 unterzeichneten Großbritannien, Polen und die Ukraine eine gemeinsame Militärinitiative. Italienische Medien berichteten vor Johnsons Kyjiv-Besuch im April 2022, dass er einen Europäischen Commonwealth mit Großbritannien, Polen, den drei baltischen Staaten und der Ukraine anstrebe. Sprich: die EU soll zerrissen werden.

Die Kernstaaten der EU (Frankreich, Deutschland, Italien) versuchten eine Friedensintiative, um Russland und die Ukraine an den Verhandlungstisch zu bringen, doch weder Russland noch die Ukraine konnten mit den Kompromissvorschlägen der drei Staaten irgendwas anfangen, Russland machte sie lächerlich. Hinzu kam noch die Satellitenaufklärung über mutmaßliche Massaker russischer Truppen an der ukrainischen Zivilbevölkerung. Macron, Scholz und Draghi machten eine Kehrtwende: Sie versprachen der Ukraine auch Waffenunterstützung. Und die EU (Parlament, Kommission und Rat) erklärten im Juni 2022 für die Ukraine und Moldau den Kandidatenstatus. Das transatlantische Bündnis war nun geeint.

Die Gegenoffensive der Ukraine für den Herbst 2022 wurde nun gemeinsam von Militärsstrategen der Ukraine, der USA und Großbritanniens ausgearbeitet und war ein militärisches Meisterstück: Die russische Armee wurde getäuscht, dass ein Angriff im Süden erfolge, sie zog Truppen aus dem Raum Charkiw ab und übersah den Aufmarsch der ukrainischen Armee. Charkiw wurde eingenommen. In dieses Chaos hinein wurde der Angriff Richtung Cherson durchgeführt, wie in Charkiw flohen die russischen Einheiten. Russlands Militärführung wurde zweimal hinters Licht geführt.

Plokhy stellt diesen Krieg in einen historischen Kontext. Für die Ukraine sei dies ein Nationswerdungskrieg, wie es sie leider viele in der Geschichte gegeben habe, und für Russland sei dies ein Aufbäumen einer imperialistischen Kolonialmacht gegen ihren Zerfall (leider auch viel zu oft in der Geschichte beobachtbar).

Geopolitisch habe dieser Krieg auch Auswirkungen. Eine Einigung und Stärkung der transatlantischen Bündnisse habe stattgefunden, die NATO sei mit Finnland noch näher an die russischen Grenzen gestoßen. China profitiere von diesem Konflikt, es könne nun Russland als billige Rohstoffquelle nutzen und am Gängelband führen. Plokhy schätzt, dass die Nachkriegswelt wieder eine bipolare sein wird wie zu Zeiten des Kalten Kriegs, nur diesmal mit den USA und China als die mächtigen Gegenpole. Putins Traum einer multipolaren Welt werde nicht Realität werden, Russland scheint sowohl militärisch wie auch wirtschaftlich zu schwach zu sein, um noch ein mächtiger globaler Player zu sein. Symbol dafür sei auch gewesen, dass Putin bei einem Treffen mit Xi in Samarkand (einem "Hinterhof" Russlands) diesen in seinem Hotel hat besuchen müssen. Xi war also der Gastgeber.

Regional könnte die Türkei gestärkt im Nahen Osten hervortreten. Obowhl sie den Krimtataren bedingungslose Unterstützung gegen Russland zugesagt hat und Russland jegliche Waffenlieferung sowie auf Basis eines Vertrags aus 1936 russischen Kriegsschiffen die Durchfahrt durch den Bosporus verweigert, während die Ukraine mit Drohnen ausgestattet werden, bleibt die Türkei ein Vermittler, da die wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen Russland und der Türkei eng und für beide Seiten von Bedeutung sind. Die Türkei hat sich den Sanktionen nicht angeschlossen und fungiert als Verhandlungsort für den Getreideexport aus der Ukraine wie aus Russland. Das neue Selbstbewusstsein der Türkei drückte sich aus, als bei einem Treffen zwischen Putin und Erdogan in Teheran dieser seinen russischen Amtskollegen fast eine Minute lang vor versammelter Presse hat warten lassen (das Video auf YouTube im Kanal des englischen Telegraph).