Lenz-Deutschstunde

1968 erschien dieser sehr erfolgreiche Roman von Siegfried Lenz über die Frage nach der Pflichterfüllung während des nationalsozialistischen Regimes. Einerseits wird ein Generationenkomflikt mit der noch jungen Generation dargestellt, andererseits wird die Frage nach der sogenannten inneren Emigration aufgeworfen. Erstaunlich ist, dass die knallharten Themen der NS-Verbrechen ausgeklammert werden. Auch das sehr erkennbare Vorbild des Künstlers Nansen in Emil Nolde erfährt eine Glättung. Kann man mit einer fiktiven Person machen, aber warum wird dann so eng an einer realen Person geschrieben? Letztlich ist es ein ziemlich weichgespülter Inhalt in schöner Sprache.

Worum geht's? Der wegen Bilderdiebstahls angeklagte etwa 20-jährige und damit noch nicht volljährige Siggi Jepsen befindet sich in einer Jugendbesserungsanstalt in Hamburg und soll einen Aufsatz mit dem Titel "Die Freuden der Pflicht" schreiben. Er gibt ein leeres Heft ab und wird in seine Zelle eingesperrt, um den Aufsatz nachzuliefern. Daraus werden mehrere Monate und er schreibt einen etwa 500-seitigen Rückblick auf sein Leben.

Siggi wächst im Nordwesten Schleswigs, an der dänischen Grenze auf, und sein Vater ist Dorfpolizist in dem fiktiven Ort Rügbüll. Dieser erhält 1943 den Auftrag, ein wegen "entarteter Kunst" begründetes Malverbot gegen den Jugendfreund Max Ludwig Nansen zu überbringen und zu überwachen sowie die Gemälde der letzten zwei Jahre zu beschlagnahmen. Der neunjährige Siggi ist mit Nansen befreundet und hilft ihm, Gemälde in einer Mühle zu verstecken, die schließlich abbrennt (vermutlich vom Vater angezündet).

Nach dem Krieg versteht der Vater nicht, warum sein ehemaliger Auftrag nicht mehr Pflicht ist und verfolgt den Künstler weiterhin. Siggi entwickelt einen Wahn und sieht in Visionen die Gemälde Nansens von Feuer bedroht, stiehlt viele von ihnen und versteckt sie am Dachboden des Elternhauses. In Hamburg, wo sein Bruder als Fotograf lebt, wird Siggi schließlich festgenommen und in die Besserungsanstalt gesteckt.

Abgesehen von Nansen, der sich als ehemaliger Nationalsozialist losgesagt hat (nicht wie Nolde, der auch kein Malverbot hatte, sondern aus der Reichskulturkammer augeschlossen wurde und keine Bilder mehr verkaufen oder ausstellen durfte), versucht Lenz anhand der älteren Geschwister Siggis eine dem Nationalsozialismus und dem Krieg entgegenstehende junge Generation zu zeichnen. Sein Bruder Klaas verstümmelt sich selbst, um nicht in den Krieg zu müssen, flieht aus einem Militärlazarett, wird bei einem englischen Tieffliegerangriff schwer verletzt, überlebt jedoch, um nach dem Krieg als Fotograf tätig zu werden. Seine Schwester fühlt sich einem Hamburger Akkordeonspieler zugetan, den die Eltern als "Zigeuner" abqualifizieren.

Insgesamt ist es eine sehr an den Haaren herbeigezogene Geschichte. Das Handeln von Siggi und dessen Vater wird versucht, psychologisch zu deuten, zu einer Erklärung kommt es nicht. Lenz lässt Unmengen an internationalen Psycholgen in der Besserungsanstalt aufmarschieren, aber zu mehr als echten und erfundenen schlagwortartigen "Diagnosen" kommt es nicht (weder bei Sohn noch bei Vater). Auch der Siggi begleitende Psychologiestudent Wolfgang Mackenroth schreibt nur eine trockene Lebensgeschichte und erklärt das "Retten-Müssen" Siggis als "Jepsen-Phobie". Und um diesen Ansatz wieder zu relativieren, hat Siggi auch einen Sammelwahn von Schlössern und Schlüsseln (hat nichts mit Rettung zu tun, sondern nun ist Siggi wiederum ein manischer Sammler). Es scheint, als ob Lenz eine psychologische Erklärung suchen, aber nicht finden würde. So lässt er Siggi am Ende eine Begründung für sein Eingesperrtsein finden: Er sei in der Besserungsanstalt anstelle der Alten, der Täter, da diese sich nicht mehr "umtrimmen" lassen können und auch "unabkömmlich" seien.

So bleibt der Vater und Dorfpolizist "ein ewiger Ausführer", ein Mann, der ohne Auftrag nur ein "halber Mensch" sei, für den "brauchbare Menschen sich fügen müssen", der nur seine Pflicht tue, der dem Maler zeigen werde, "dass Verbote für alle gemacht seien" (Nansen bricht das Verdunkelungsverbot), der Drang zur Pflichterfüllung sei ein "Tick". Aus dem Mund Nansens ist Pflicht etwas Bedrohliches, die Opfer fordere und vor der sich andere in Acht nehmen müssen, sobald von Pflicht die Rede ist.

Und warum manche Leute Zukunftsvisionen haben, erschließt sich nur mehr sehr schwer. Einzig der Wendehals, ein Redakteur einer NS-Kunstzeitschrift, aus der Nansen ausgeschlossen worden ist, hat sehr viel Fleisch und Blut: Er taucht nach dem Krieg bei Nansen auf, die Zeitschrift hat einen neuen Namen, und will ihn wieder gewinnen. Nansen lehnt angeekelt ab.

Auch wenn der Roman ein großer Erfolg war, nach über 50 Jahren erscheint er mir nicht der ganz große Wurf eines Epochenromans zu sein. Dazu gibt es zu viele Leerläufe und eine zum Teil nur schwer nachvollziehbare Charakterentwicklung der Figuren. Sie bleiben letztlich flach gezeichnet.