revanche

Michael Thumann kennt Russland sehr gut, zum dritten Mal ist er bereits Ressortleiter des Moskaubüros der ZEIT. In diesem Buch (Stand Herbst 2022) ordnet er Putins Politik in den zeithistorischen Kontext. "Revanche" nennt Thumann sein Buch, da er den Kern von Putins Befindlichkeiten darin sieht, dass nach Gorbatschows Öffnung schließlich Jelzin mit dem Vertrag von Belowesch im Dezember 1991 die Auflösung der Sowjetunion ohne Not besiegelt habe. Ein Hirngespinst, da bereits 12 Sowjetrepubliken vor diesem Vertrag zwischen Russland, Belarus und der Ukraine ihre Unabhängigkeit erklärt haben.

Seine Hauptthese ist eindeutig: Motivator für Putins diktatorische und aggresssive Politik ist nicht eine sich erweiternde NATO, sondern sie ist innenpolitisch motiviert. Zunächst war es die Zerschlagung von Eigenständigkeitsbewegungen im Kaukasus, und vor der Haustüre waren für Putin die Demonstrationen gegen seine dritte Wiederwahl und Wahlmanipulationen Ende 2011 bis Mai 2012 Auslöser für Demokratieabbau und Errichtung eines autoritären Regimes. Putin wurde in Folge Nationalist. Außenpolitik lenkt ab, die Krim wurde zur Begeisterung vieler Russ:innen annektiert. Der nächste Schub in Richtung Diktatur war nach diesem Zwischenhoch eine nicht populäre Rentenreform 2018. Putins Beliebtheitswerte sanken in den Keller. Die Daumenschraube gegen die Opposition wurde angezogen, die außenpolitische Rhetorik Putins wurde aggressiv, er sprach bereits damals zum ersten Mal von einem möglichen Atomschlag gegen den Westen:
Wenn jemand Russland zerstören will, haben wir das Recht zu antworten. Das wäre eine Katastrophe für die Menschheit und die Welt. Aber als Bürger Russlands und als russischer Präsident frage ich: Wozu brauchen wir eine Welt, in der es kein Russland gibt?
Putin im März 2018 in einem Fernsehinterview vor den Präsidentschaftswahlen, Beleg im FOCUS am 8. März 20218

Thumann ist unschlüssig, wie weit die Atomdrohungen nur Einschüchterungsgehabe sind oder reale Drohung. Bisher habe Putin seine Ankündigung immer radikalst Realität werden lassen. Thumann weiter:
Schon 2018 sagte er, halb im Scherz, halb ernst, dass die Russen im Falle eines Atomkriegs «als Märtyrer ins Paradies kommen, aber sie (im Westen) werden einfach krepieren». In Moskau wird eine Bemerkung von Putin herumgereicht, die er 2018 in einem Gespräch mit dem liberalen Oppositionspolitiker Grigorij Jawlinskij fallen ließ. Jawlinskij bestätigte mir, er habe den Präsidenten damals gefragt, ob er wisse, dass seine Außenpolitik zum Atomkrieg führen könne. «Ja», soll Putin schnippisch geantwortet haben, «und wir werden ihn gewinnen.»
Beleg des Märtyrer-Sagers in der WELT vom 18. 10. 2018

Seitens der ideologischen und propagandistischen Rechtfertigungen für den Angriffskrieg gegen die Ukraine sind die Angst vor einer Bedeutungslosigkeit Russlands auf der Weltbühne und russischer Nationalismus noch nachvollziehbar. Die Idee, dass das ukrainische Volk (Ruthenen nannten sie die Österreicher) kein eigenständiges Volk, sondern Russen mit einem komischen, von der polnischen Sprache verunreinigten Dialekt seien, stammt nicht von Putin. Russen - Weißrussen - Kleinrussen: das ist alter imperialistischer russischer Wortgebrauch. Weder Belarus noch der Ukraine wird eine Eigenständigkeit zugestanden, schon gar keine unabhängige Eigenstaatlichkeit.

Dass die russische Armee einen "Genozid" an der russischen Bevölkerung der Ostukraine verhindern soll, sei faktischer Nonsense. 2020 starben wegen des Konflikts 26 Zivilisten, 2021 waren es 25. Die meisten Zivilisten starben 2014 und 2015, viele davon jedoch bei Unfällen mit Minen.

Auch die NATO-Osterweiterung ist kein Grund. Die hat Putin nie gestört. Am 2. April 2004, drei Tage nach dem Beitritt der drei baltischen Staaten zur NATO sagte Putin bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem deutschen Kanzler Gerhard Schröder:
Hinsichtlich der Nato-Erweiterung haben wir keine Sorgen mit Blick auf die Sicherheit der Russischen Föderation.
Beleg in der Deutschen Welle vom 2. April 2004

Am 8. April 2004 sagte Putin in Moskau zum damaligen NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer:
Jedes Land hat das Recht, sich für jene Sicherheitslösung zu entscheiden, die ihm am wirksamsten erscheint.
Beleg in der FAZ vom 8. April 2004

So viel zur Mär von der NATO-Osterweiterungs-Aggression. Danach gab es keine mehr. Gegen eine Aufnahme der Ukraine und Georgiens in die NATO wandten sich Deutschland und Frankreich (Merkel und Sarkosy), diese beiden Staaten erhielten nie einen Membership Action Plan, eine Grundvoraussetzung für eine NATO-Aufnahme. Sie stand nie zur konkreten Debatte.

Der Krieg in der Ukraine selbst sei wie ein klassischer Kolonialkrieg geführt: die Ukraine wird als Kolonie gesehen und in der russischen Armee kämpften bis zur Mobilisierung im September 2022 hauptsächlich Nicht-Russen: Burjaten, Inguschen, Dagestaner, Tschetschenen. Die Ukrainer stünden vor der Wahl Assimilierung oder Vernichtung. Einen rassistisch motivierten Krieg sieht Thumann nicht: Auch während der Kampfhandlungen um Mariupol sei es für ukrainische Staatsbürger möglich gewesen durch Russland nach Lettland oder Estland zu fliehen: über Rostow-am-Don per Zug oder Auto nach Pskow und von dort weiter. In den Filtrationslagern sei nur nach Nazi-Tätowierungen gesucht worden. Wer die nicht hatte (wohl kaum jemand) durfte weiterreisen. Auch Hilfsleistungen der russischen Bevölkerung gegegen Geflohene wurden nicht unterbunden. Insgesamt seien bis Herbst fast 2 Millionen Ukrainer:innen über Russland geflohen.

Bezüglich eines Widerstands gegen Putin, der seine Entscheidungen allein treffe, ist Thumann skeptisch. Die wenigen Demonstrationen wurden brutalst aufgelöst, Protest jeglicher Art gegen die "Spezialoperation" wird mit hohen Strafen geahndet. Die Machtelite ist von ihm abhängig. Einzig Lokalparlamentarier in in mehreren Städten, darunter Moskau und St. Petersburg, hätten nach den Niederlagen im Herbst 2022 Putin zum Rücktritt aufgefordert und einen Hochverratsprozess gewünscht (Bericht im ZDF (Archiv-Version vom 07.06.2023)).

Abgestimmt wurde im September 2022 mit den Füßen: Hunderttausende Männer, die eine Einberufung befürchteten, flohen ins Ausland. Die Mobilisierung selbst lief chaotisch und erinnert beinahe an Press Gangs der Royal Navy im 17. und 18. Jahrhundert, die Männer von der Straße weg entführten. Thumann schreibt:
Unterdessen kamen für die Männer in Russland die Einberufungsbefehle vom Hausmeister, vom Polizisten um die Ecke, vom Pizzaboten. Feldjäger brachen Wohnungen auf, um Zivilisten einzuziehen, die nie eine Waffe in der Hand hatten. Selbst Blinde erhielten Einberufungsbescheide. Feldjäger holten die Männer aus Hotels, Krankenhäusern, Besenschränken und aus Flugzeugen, die bereits auf der Startbahn rollten. Es gab Schießereien in Kreiswehrersatzämtern, Handgemenge auf den Straßen, weinende Kinder und Frauen, die von ihren Vätern Abschied nahmen. In Moskau fuhren Busse durch die Stadt, um Leute einzufangen.
Insgesamt zieht Thumann die Schlussfolgerung, dass der Angriff auf die Ukraine keine Reaktion auf äußeren Druck war (einzig eine ukrainische Demokratie werde als Vorbild für die russische Opposition gefürchtet), sondern ein Mix aus Weltmachtstreben (Obamas Regionalmacht-Sager dürfte ihn immer noch wurmen), Angst vor innerem Machtverlust und dem richtigen Zeitpunkt des Losschlagens (geplant war es schon länger, Aufrüstung und Energie- wie Cyberkrieg gegen die EU liefen schon seit Mitte der Zehnerjahre): Biden wird als schwach eingeschätzt, die EU scheint zerstritten und von Rechtspopulisten, die großzügig unterstützt werden, von innen aufgeweicht. Dazu komme die jahrzehntelange freundliche Politik gegenüber Russland, die sich bezüglich der Energieversorgung Russland ausgeliefert habe. Viele deutsche Politiker und ganz besonders Gerhard Schröder nimmt Thumann in die Kritik. Nun jedoch habe Putin den Moment gesehen, das Ziel der Vorherrschaft in Europa bzw. Eurasien (von Wladiwostok bis Lissabon) in Angriff zu nehmen. Wie sagte Putin bereits 2016 bei der Russischen Geographischen Gesellschaft?
Russlands Grenzen enden nirgendwo.
Beleg im Business Insider vom 25. 11. 2016

Auch wenn Putin keine Ideologie habe, so befürchtet Thumann dennoch eine Radikalisierung. Seine Schlusszusammenfassung ist durchaus pessimistisch:
Wladimir Putin hat Deutschland und viele gutgläubige Politiker in die Irre geführt. Er hat das Erbe der Putschisten gegen Michail Gorbatschow von 1991 fortgeführt und die demokratischen Institutionen der 1990er Jahre zerstört. Er hat die tschetschenische Diktatur als Blaupause für ganz Russland verwendet. Er hat sich mit Nationalisten und Diktatoren in der ganzen Welt verbündet. Er setzt seine Bevölkerung einer täglichen Gehirnwäsche durch die Propaganda aus, die die russische Bevölkerung gegen sich selbst und die ganze Welt aufhetzt. Er hat das sowjetische System der Strafverfolgung und der Lager wiederbelebt. Er hat sein Land in eine Diktatur mit totalitären Zügen und Führerkult verwandelt. Er missbraucht die russische Vergangenheit, um das Land zu vergiften und einen Angriffskrieg zu rechtfertigen. Er lässt einen Vernichtungsfeldzug gegen das Nachbarland führen. Er schottet sein Land gegen die Welt und die Wirklichkeit ab und zerrüttet die Zukunft aller Russen. Er ruft einen heiligen Krieg gegen den Westen aus und droht der ganzen Welt mit dem nuklearen Untergang, wenn die Dinge nicht so laufen, wie er will. Zusammengenommen würde das für die Entfesselung der größten Katastrophe der Menschheitsgeschichte reichen. Putins Herrschaft radikalisiert sich weiter. Es ist das bedrohlichste Regime der Welt.