Lehrerdaemmerung

Christoph Türcke war bis 2014 Professor für Philosophie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig, und 2016 erschien dieses Werk, das mich vor allem wegen des reißerischen Titels angezogen hat. Darin arbeitet er sich an den Kompetenz-Anforderungen an Schulen ab, die er als neoliberalistische Individualisierung sieht, die keinerlei Bildung vermitteln kann, sondern die erbrachten Leistungen ausschließlich in die Verantwortung der Kinder verlegt. Der Horrortrip wäre das Vorlegen eines Portfolios nach Schulabschluss, aus dem Universitäten, Hochschulen bzw. Arbeitgeber extrapolieren, was ein Kind kann oder nicht. Wenn was nicht passt: Schuld des Kindes. Denn an Schulen würde ja nun differenziert unterrichtet werden, jeder und jedem sein individualisiertes Arbeitsblatt. Im O-Ton:
Den Frontalunterricht machen jetzt nicht die Lehrer, sondern den machen die Arbeitsblätter. ... Die ganzen autoritären Strukturen sind nicht etwa weg, sondern bloß an einen anderen Ort verlegt.
Alternativ sieht er die Rolle der Unterrichtenden immer noch als wesentlich, da sie den Kindern etwas zeigen können und nicht als Lerngebleitung auf sich alleine gestellt lassen. Dabei greift Türcke sowohl in die Menschheitsgeschichte als auch in die frühkindliche Geschichte zurück. Triadisches Zeigen auf etwas Drittes, einen Sachverhalt, sei ein Alleinstellungsmerkmal des Menschen gegenüber Tieren, die nur dyadisch, nachahmend lernen. Dieses Zeigen beginne etwa ab dem neunten Lebensmonat, wenn das Kind von der Mutterbrust entwöhnt werde und nun von den Eltern auf etwas hingewiesen würden. Es werde lehrend und zeigend eingegriffen. Das schulische Lernen sei nur eine Fortsetzung dieses für Kinder unabdingbar wichtige zeigende Verhalten. Wenn nun Lehrerinnen und Lehrer angewiesen sind, sich selbst zurückzunehmen und Kindern alles selbst erforschen ließe (von Rechtschreibung bis Rechnen), um sogenannte Kompetenzen zu erwerben, führe dies in eine Katastrophe.

Nicht nur den kompetenzorientierten Unterricht, der Kinder allein ließe, sondern auch das Diktat der Inklusion, also des Unterrichtens aller Kinder, auch mit körperlichen Einschränkungen, in einem Klassenraum, einer Schule unterzieht Türcke einer heftigen Kritik. Es sei lobenswert, Kinder mit körperlichen Behinderungen nicht aus der Gesellschaft auszugliedern, aber der gemeinsame Unterricht mit körperlich nicht eingeschränkten Kindern würde sie brutalst zu jedem Zeitpunkt auf ihre Nichtfähigkeiten hinweisen, gegen die sie nichts unternehmen können. Dagegen helfe auch kein noch so differenzierter Unterricht. Dass die anderen eine Rolle rückwärts können, die selbst nie ausgeführt werden kann, gegen diesen Schock werde auch der beste inklusive Unterricht nichts unternehmen können.

Was wünscht sich Türcke? Unterrichtende, welche durch Zeigen Kinder nicht nur zu Kompetenzen, sondern zu Bildung führen, die mehr als nur Arbeitsblattlösungskompetenz oder PISA-Aufgabenlösungskompetenz bedeutet.

Reibebaum für Türcke ist der in den Medien sehr häufig präsente Philosoph und Protagonist für individualisierte kompetenzorientierte Schulen Richard David Precht und mit einem Zitat zum Titelbegriff möchte ich enden:
Man kann das Wort «Lehrerdämmerung» depressiv verstehen: Lehrer erübrigen sich; Lernbegleiter genügen. Man kann es aber auch hoffnungsvoll lesen: Den Lehrern dämmert, daß sie sich das nicht gefallen lassen müssen.