Die psychologischen Begutachtungen oder wie ich fast wahnsinnig wurde
19.02.2022 um 17:37
Meine psychologischen Begutachtungen
Es ist 2001, als ich endlich mal herausgefunden habe, wohin ich mich wenden muss und was ich dafür tun muss, um endlich meiner geschlechtlichen Identität entsprechend leben zu können.
Mein Outing im Famien- und Freundeskreis ist mittlerweile drei Jahre her.
Ich trage meine Haare schulterlang, habe angefangen, mir die Augenbrauen zu zupfen und bin kleidungsmäßig relativ geschlechtsneutral unterwegs, um eine Art fließenden Übergang hinzubekommen, damit die Umgewöhnung für alle so einfach wie möglich fällt.
Dass meine permanente Art, immer zuerst an alle anderen zu denken, es allen grundsätzlich immer rechtmachen zu wollen, mir mehr als einmal zum Verhängnis werden wird, weiß ich da noch nicht. Erster Grundsatz: Meine Umgebung soll sich möglichst wohl mit mir fühlen.
Auf meine Außenwelt wirke ich jetzt sehr androgyn; Menschen, die mich zum ersten Mal kennenlernen, sind sich sichtlich unsicher, wie sie mich einordnen sollen.
Mein Plan ist, so schnell wie möglich mit der Hormonbehandlung zu beginnen und die geschlechtsangleichende OP hinter mich zu bringen, damit ich danach noch als junge Frau eine Ausbildung beginnen und mir endlich "unter den richtigen Bedingungen" ein Leben aufbauen kann.
Dass es nicht so einfach ist, wie ich es mir erhoffe, merke ich schnell.
Der Psychologe, zu dem ich mit 18 gehe, geht nicht auf meine Transsexualität ein, sondern macht ausschließlich eine Art Berufsberatung.
Ich soll mich unbedingt darauf konzentrieren, erstmal was Vernünftiges zu lernen, bevor ich irgendwelche Entscheidungen treffe, die ich später womöglich bereue.
Wäre ich nicht so schüchtern und unsicher, hätte ich ihm vielleicht klarmachen können, dass das für mich auf keinen Fall in Frage kommt. Ich kann solange nicht mehr warten.
Ich weiß seit meiner frühesten Kindheit, dass ich eigentlich ein Mädchen bin und seit mir im Alter von vierzehn bewusst wurde, dass es tatsächlich einen Begriff und sogar eine Lösung für das Problem gibt, das seit vielen Jahren mein Leben überschattet, KANN ich nicht mehr warten.
Endlich man selbst sein zu können, sich endlich wie Gleichaltrige im Einklang mit dem eigenen Geschlecht zu fühlen, endlich man selbst sein zu können, ist nichts was man einfach hintanstallen kann.
Hinzu kommt, dass ich unbedingt noch eine junge Frau sein möchte, wenn ich alles hinter mir habe. Ich will nicht eines Tages auf mein Leben zurückblicken und einer Jugend hinterher trauern müssen, die ich nie wirklich leben konnte. Schließlich habe ich (höchstwahrscheinlich) nur dieses eine Leben.
Der Psychologe hilft mir nicht weiter, und der Endokrinologe, den ich zwecks körperlicher Untersuchung zu einer evtl. nicht äußerlich sichtbaren Intersexualität aufsuche, sagt mir rüde auf den Kopf zu, ich solle mir das "Frausein" aus dem Kopf schlagen.
Andere Leute würden schließlich auch gerne einen Mercedes fahren und müssten damit klarkommen, sich niemals einen leisten zu können.
"Dank" meiner schüchternen und zurückhaltenden Art nimmt mich niemand so richtig in der Sache ernst und permanent wird mir von Medizinern geraten, möglichst lange zu warten, ich sei einfach noch zu jung. Irgendwie kommt es mir so vor, als sei ich jedem mit meinem Anliegen einfach nur lästig.
Mit 21 bin ich noch keinen Schritt weiter gekommen, da ich permanent nur zwischen Beratungsstellen hin und her geschickt werde und niemand mir wirklich sagen kann, welche Schritte ich ganz konkret einleiten muss, um einen "Geschlechtswechsel" einzuleiten.
Das Internet ist auch keine große Hilfe zu dieser Zeit. Sobald man irgendwas mit "Trans" in die Suche eingibt, landet man nur auf irgendwelchen Sexseiten.
Ich jobbe inzwischen tagsüber in einem Baumarkt und hole abends auf dem zweiten Bildungsweg mein Abi nach.
Ich wohne inzwischen mit einem guten Kumpel in einer WG zusammen.
Es ist kein Leben, sondern ein reines Durchhalten. Ich versuche mich im Alltag abzulenken, so gut es eben geht.
Irgendwann wird es so schlimm, dass ich einfach zusammenbreche. Ich kann nicht mehr.
Die Freundin meines Mitbewohners empfiehlt mir ihren Gynäkologen als Ansprechpartner für die Einleitung einer Hormontherapie. Sie sieht auch, dass es so einfach nicht weitergehen kann mit mir. Ich glaube, sie hat Angst um mich.
Bei meinem Termin dort bricht es aus mir heraus. Zum ersten Mal öffne ich mich wirklich, bringe mein Anliegen nicht nur zaghaft vor, sondern spreche offen von meiner Verzweiflung, meinen depressiven Phasen, der Dringlichkeit, dieses Problem unbedingt angehen zu müssen, weil ich so einfach nicht weiterleben kann.
Dieser Arzt hört zu. Hat Verständnis, verspricht mir, mir zu helfen.
Tatsächlich fährt er sogar zu einem Wochenend-Seminar nach Hamburg zum Thema Transsexualität, wie ich später erfahre.
Beim zweiten Termin erklärt er mir, wie wir vorgehen.
Ich muss zuallererst beim Amtsgericht einen Antrag auf Vornamensänderung nach dem sogenannten Transsexuellen-Gesetz stellen, damit dieses offiziell eine Begutachtung veranlasst.
Hierzu bestellt das Gericht zwei voneinander unabhängige Gutachter, die beide zu dem Ergebnis kommen müssen, dass wirklich eine Transsexualität vorliegt.
Mein Arzt sagt mir, dass er bereit ist, die Hormonbehandlung einzuleiten, sobald diese Gutachten vorliegen. Mit diesen beiden Gutachten könne ich mir auch einen Operatur für die geschlechtsangleichende Operation suchen, da die Krankenkasse dann die Behandlung übernehmen würde.
Ich bin überglücklich. Nur noch ein bisschen durchhalten, in ein oder zwei Jahren habe ich diesen Mist endlich hinter mir.
Mann, sollte ich mich mal wieder irren.
Die erste Begutachtung beginnt in meiner Heimatstadt.
Ich muss alle möglichen psychologischen Tests über mich ergehen lassen, werde die intimsten Dinge gefragt.
Das zweite Gutachtergespräch wird etwa einen Monat später angesetzt.
Als ich in der Klinik erscheine, werde ich bereits vorn am Schalter abgewiesen, der Arzt sei nicht im Hause.
Ich bin verwirrt, erkläre, dass ich einen Termin habe und mir extra freigenommen habe.
Achselzucken.
Ich hinterlasse meine Handynummer, damit der Gutachter mich anrufen kann, um einen Nachholtermin zu vereinbaren.
Der Arzt ruft nicht zurück, es dauert Wochen, bis ich ihn endlich erreiche, um einen Nachholtermin zu vereinbaren.
Dann das gleiche Spiel: Ich habe mir extra freigenommen (als Aushilfe natürlich unbezahlt), aber der Gutachter ist nicht da.
Nun bin ich etwas ungehalten und sage zu der Dame am Schalter, dass man mich hätte anrufen und absagen können, schließlich hätte der Arzt meine Handynummer.
Die Dame blafft mich an: "Offensichtlich hat er die nicht, sonst hätte er sich ja gemeldet."
Aber der unglaubliche Hammer kommt ein paar Wochen später, als mir ein Schreiben vom Amtsgericht ins Haus geflattert kommt.
Man weist mich darauf hin, dass ich meine Termine beim Gutachter unbedingt wahrnehmen müsse, da sonst "die Sache nicht gefördert werden könne."
Ich rufe sofort beim Gericht an, um zu erfragen, was bitte los sei.
Man sagt mir, der Gutachter hätte nach einer Sachstandsanfrage seitens des Gerichts erklärt, die Sache zöge sich hin, da ich zweimal nicht zum Termin erschienen wäre.
Ich bin sprachlos. Und unglaublich wütend.
Eine Psychologin, die ich begleitend zu meiner Begutachtung regelmäßig aufsuche, rät mir, mich direkt bei der Klinikleitung zu beschweren, und genau das tue ich auch.
Ich besitze nicht mal einen eigenen PC oder eine elektrische Schreibmaschine, ich schreibe den dreiseitigen Brief einfach per Hand und bringe ihn noch am selben Tag zur Post.
Einige Wochen später sitze ich bei meinem zweiten Gutachtergespräch. Die Stimmung könnte besser sein.
Der Gutachter hat zwei weitere Kollegen dabei, und alle drei scheinen verstimmt wegen meiner Beschwerde zu sein.
Einer von ihnen, ein Arzt, den ich noch nie zuvor gesehen habe, murmelt vorwurfsvoll etwas davon, dass man das alles ja auch "intern hätte klären können."
Aber zumindest erfahre ich wenige Wochen später, dass das Gutachten positiv
beschieden wurde.
Auch, wenn es schwer zu glauben ist, die zweite Begutachtung läuft leider noch schlimmer.
Das Amtsgericht lässt mir die Wahl zwischen zwei verschiedenen Kliniken in zwei verschiedenen Städten, und aus Bequemlichkeit wähle ich diejenige, die dichter dran ist (leider).
Bereits das erste Gespräch empfinde ich als etwas unglücklich.
Der Gutachter fragt mich, ob ich diese ganze Sache mit Alltagstest (= man muss ein Jahr lang in der Rolle des sog. "Zielgeschlechts" leben, ohne dass irgendwelche körperlichen Maßnahmen eingeleitet werden), Hormonbehandlung und OP wirklich durchziehen will.
Da ich aus Erfahrung weiß, dass meine schüchterne, vorsichtige Art leider meistens Zweifel an der Ernsthaftigkeit meines Vorhabens weckt, antworte ich fest: "Bis zum bitteren Ende."
Der Gutachter lacht laut, als hätte ich einen Witz gemacht. Ich fühle mich ein bisschen ausgelacht, ehrlich gesagt.
Beim zweiten Termin einige Wochen später sind auf Wunsch meines Gutachters auch meine Eltern dabei.
Sie erzählen ihm, dass sie spätestens seit meiner Pubertät das Gefühl hatten, dass ich irgendein Riesenproblem, über das ich nicht reden will oder kann, mit mir herumschleppe, und dass es ihnen wie Schuppen von den Augen fiel, als ich mich outete.
Schließlich hätte ich schon im Kindergarten lieber mit den Mädchen und ihren Puppen gespielt.
Das dritte Gutachtergespräch verlässt meinem Leben eine wahnsinnig traurige Wendung.
Eine Kollegin "meines" Gutachters, die ich bereits beim Gespräch zuvor kennengelernt hatte, ist als seine Vertreterin da.
Sie eröffnet mir, dass sie Zweifel wegen meines jungen Alters und meiner androgynen Art zu kleiden hätten.
Lange Haare, Jeans und Pulli und hin und wieder Hosenanzug im Kombi mit dezentem Make Up seien nicht "eindeutig" genug.
Sie erzählt mir, dass sie die Begutachtung für ein Jahr aussetzen möchten, damit ich mich "tiefer in die weibliche Rolle begeben könne."
Ihre anschließenden Worte "Sie können dabei nur gewinnen" klingt wie Hohn in meinen Ohren.
Wie betäubt verlasse ich die Klinik und gehe zum Bahnhof. Ich glaube heute, ich stand buchstäblich unter Schock.
Mit nicht einmal 22 erscheint mir ein Jahr wie eine Ewigkeit.
Ich verbringe einige Tage wie betäubt, dann setzt die erste, richtige klinische Depression ein.
Ich stehe tagelang nicht mehr aus dem Bett auf. Ertränke mein elendes Dasein in Alkohol. Gehe nicht mehr zum Abendgymnasium, verliere meinen Job, zuletzt die Wohnung, die ich nach der Hochzeit und dem Auszug meines Mitbewohners eh nicht mehr allein finanziell hätte halten können.
Mein Leben geht jetzt vollends in die Binsen.
Nach einem Selbstmordversuch, den ich hier nicht näher erläutern will, lande ich wieder bei meinen Eltern.
Ich lasse tagsüber die Jalousien unten und tue wochenlang nichts
anderes, als eine Zigarette nach der anderen im stockdunklen Zimmer zu rauchen.
Ich weiß nicht, wie ich dieses Jahr ohne Medikamente, ohne Therapie rumgekriegt habe.
Wahrscheinlich konnte ich mich einigermaßen berappeln, weil ich ein Ziel hatte und das Ende dieses furchtbaren Jahres irgendwann in greifbare Nähe zu rücken begann.