Schirach-Kluge-Trotzdem

Beide sind Juristen, beide sind Schriftsteller, Kluge ist dazu noch Filmemacher. Schirach war im März 2020 fünfundfünfzig Jahre alt, Kluge achtundachzig. Schirach lebt in München, Kluge in Berlin. Es ist der 30. März 2020, beide führen an diesem Tag zwei Diskurse via einem Messenger-Dienst. Deutschland ist im Lockdown.

Was sich die beiden gegenseitig schreiben, was sie diskutieren, ist bis jetzt das Interessanteste, was ich aus der Lockdown-Zeit der frühen Corona-Krise gelesen habe. Ausgehend von der These der Gefahr der Gewöhnung an ein Verordnungsregime, reflektieren sie zunächst über von Tieren auf Menschen überspringende Viren, da der Mensch immer mehr in unberührte Regionen vordringt.

Zweiter Themenkern ist die Lage der im Gesundheitswesen Arbeitenden, die mit Triage konfrontiert seien. Schirach stellt die dringliche moralische Frage an einen fiktiven Arzt:
Stellen Sie sich vor, Sie stehen im Flur Ihres Krankenhauses und zwei Patienten werden in Betten hereingefahren, eine 92-jährige Dame mit ganz guten Aussichten und ein 21-jähriger Mann, der auch mit medizinischer Hilfe nur eine Chance von 25 Prozent hat, zu überleben. Beide Patienten müssen beatmet werden, sonst sterben sie sicher. Sie haben im Krankenhaus aber nur ein Beatmungsgerät. Was tun Sie?
Westliche Demokratien hätten zum Grundsatz gemacht, dass ausschließlich die Erlebenswahrscheinlichkeit unabhängig von Alter als Kriterium herangezogen werde. In der Schweiz wären Menschen von der Beatmungsmaschine genommen worden, wenn ihre Überlebenswahrscheinlichkeit gegenüber nicht Beatmeten sich verringert hatte. Ärzte und Pfleger seien an solchen Entscheidungen zerbrochen.

Von der aktuellen Situation ausgehend, führt der Diskurs zu historischen Katastrophen: zur Attischen Seuche 430–426 v. Chr., zur Pest des Jahres 1348, zum Erdbeben in Lissabon 1755. Davon ausgehend werden die großen Ideen der Aufklärung befragt, was für eine Gesellschaft grundlegend ist. Freiheit oder Sicherheit. Antworten werden gesucht bei Hobbes, Hume, Montesquieu, Voltaire, Rousseau sowie bei den großen Dokumenten der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 (Recht auf Leben und Recht auf Glück) sowie der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1789).

Es ist mit 80 Seiten ein dünnes Buch, aber für einen zweiteiligen Chat eines Tages sehr umfangreich. Und was die beiden sich zu sagen haben, beeindruckt. Auch sprachlich.