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Katja Happe - Viele falsche Hoffnungen
25.09.2021 um 13:47Original anzeigen (0,2 MB)
Die nunmehrige Leiterin der KZ-Gedenk- und Begegnungsstätte Ladelund, Katja Happe, hat in den Jahren 2012 bis 2015 in einem Forschungsprojekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft ein Standardwerk zur Judenverfolgung in den Niederlanden während der deutschen Besetzung von Mai 1940 bis Mai 1945 verfasst.
Etwa drei Viertel der in den Niederlanden lebenden Menschen, welche die Nationalsozialisten nach ihren rassistischen Kriterien als "Juden" kennzeichneten, wurden ermordet. Dies ist die höchste Mordquote in den besetzten Gebieten West- und Nordeuropas. Insgesamt wurden 102.994 niederländische "Juden" sowie etwa 4.000 Nicht-Niederländer deportiert, von denen insgesamt nur etwa fünftausend überlebten. Insgesamt lebten in den Niederlanden 140.552 Menschen, welche von den Nationalsozialisten als "Juden" bezeichnet wurden, dazu 14.549 "Halbjuden" sowie 5.179 "Vierteljuden". Die statistische Akribie der deutschen Nationalsozialisten erstaunt immer wieder.
Nach der Kapitulation der niederländischen Armee (nach der Bombardierung Rotterdams wurde noch mit der Bombardierung Utrechts gedroht) flohen die Regierung und Königin Wilhelmina nach Großbritannien, das Parlament wurde aufgelöst. Die politische Führung als Reichskommissar übernahm der aus Österreich stammende Arthur Seyß-Inquart, als niederländische Marionetten dienten in der Verwaltung Generalsekretäre, die niederländische Polizei wurde deutschen Weisungen unterstellt. Mitglieder der niederländischen Nationalsoziallistischen Bewegung (NSB) fungierten als Bluthunde (wie die SA in Deutschland).
Die aus jüdischen Familien stammenden Niederländer waren zumeist seit dem 16. Jahrhundert, als Religionsfreiheit eingeführt wurde, in den Niederlanden, sowohl aus Portugal stammende sephardische Juden als auch aus Mittel- und Osteuropa stammende askenasische Juden. Viele Familien waren im Laufe der Zeit zum christlichen Glauben übergetreten, die meisten verstanden sich in ihrer Identität als Niederländer. Letzteres war mit ein Grund, warum sie - im Gegensatz zu den aus Deutschland und Österreich geflohenen Juden - sich zunächst nicht sonderlich bedroht fühlten. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass die Deutschen gegen Niederländer vorgehen wie gegen deutsche Juden.
Dies entpuppte sich schnell als Trugschluss. Zunächst war die Kategorisierung als "Jude" strenger als in den Nürnberger Gesetzen (ein Großelternteil reichte), erst nach einigen Monaten wurde auf zwei Großelternteile korrigert. "Juden" wurden - wie in Deutschland - aus staatlichen Posten vertrieben, Selbständigen wurde das Gewerbe für "Nichtjuden" verboten. Die Verschärfungen gingen im Schnelldurchlauf vor sich. Nach dem erfolglosen Versuch, im Februar 1942 in Amsterdam ein Getto einzurichten, sowie einer "Judenrazzia" am 22. und 23. Februar desselben Jahres, traten am 25. und 26 Februar Arbeiter und Geschäftsleute in Amsterdam, Utrecht, Hilversum, Haarlem und weiteren kleineren Städten in Generalstreik. Dass es den Deutschen ernst war, zeigte sich daran, dass über Noord-Holland das Kriegsrecht ausgerufen wurde. Insgesamt wurden 800 junge männliche Juden in die KZs Buchenwald und Mauthausen verschleppt. Da die Deutschen noch Todesanzeigen aus den KZs in die Niederlande schickten, war der jüdischen Gemeinde bald klar, dass es sich bei diesen KZs um Mordmaschinen handelt. Sie hatte recht: insgesamt überlebte ein einziger.
Die von den Niederlanden nach internationalem Recht in Deutschland eingesetzte Schutzmacht Schweden versuchte noch, deren Schicksal nachzuvollziehen. Um dies zu verhindern, schwenkte Deutschland um und deportierte nur mehr ins nicht zu Deutschland gehörende besetzte Generalgouvernement Polen. Ins Ausland reichte der Arm einer Schutzmacht nicht.
Im Januar 1942 war der endgültige Vernichtungsbeschluss der "europäischen Juden" bei der Wannseekonferenz zur Durchführung besiegelt. In den Niederlanden begann der Deportierungsprozess mit einem hinterhältigen juristischen Kniff. Die deutschen Besatzer ließen niederländischen "Juden" eine Einwilligungserklärung zur Emigration unterzeichnen. Dies war eine böswillige Täuschung, da die Unterzeichnenden an die Schweiz, Palästina oder die USA, also freie Gebiete dachten. Auch wurden die niederländischen "Juden" in insgesamt 50 Arbeitslagern konzentriert, um handlich einen Deportations-Pool zur Verfügung zu haben. Durchgangslager für die Transporte wurde Westerbork südlich von Groningen. Dieses Lager war ursprünglich ein niederländisches Flüchtlingslager für Deutsche und Österreicher, welches die deutschen Besatzer zu einem Konzentrationslager umfunktionierten.
Mitte Juli 1942 rollten die ersten Züge nach Auschwitz-Birkenau, nach Plan waren drei Züge pro Woche vorgesehen. Die Aufforderung zum "Arbeitseinsatz" wurde zu Beginn noch per Post zugestellt. Der von den deutschen Besatzern eingesetzte Jüdische Rat unterstützte die Deportationen, weil er hoffte, durch sogenannte "Freistellungen" (Mitglieder des Jüdischen Rats selbst, Rüstungsarbeiter, Diamantenspezialisten sowie Arbeiter im Elektronikwerk Philips, das selbst darauf achtete, "seinen" Zwangsarbeitern menschenwürdige Lebensbedingungen zu gewähren und vor der Deportation zu schützen) möglichst viele von den Deportationen bewahren zu können. Widerstand wurde aus den Erfahrungen mit den Mauthausen-Toten nicht ins Auge gefasst. Etwa 20.000 "Juden" kamen der Aufforderung zum "Arbeitseinsatz" nicht nach und tauchten unter. Am berühmtesten ist aufgrund des Tagebuchs der jungen Anna die deutsche Flüchtlingsfamilie Frank. Da regelmäßig viel weniger "Juden" zum Abtransport erschienen, als Post erhalten haben, wurde schließlich die niederländische Polizei beauftragt, die Aufgeforderten festzunehmen und dafür zu sorgen, dass sie ins Lager Westerbork verfrachtet werden.
Der Versuch, den Aufforderungen zu entkommen, wurde erhöht, als im Juni 1942 die BBC von Massenmorden in polnischen Lagern berichtete. Von bereits 700.000 Erschossenen und Vergasten war die Rede. Die Alliierten informierten offiziell am 17. Dezember 1942 die Weltöffentlichkeit von den systematischen Massenmorden.
Angesichts des Kriegsverlaufs erhöhte im Februar 1943 das Reichssicherheitshauptamt in Berlin die Schlagzahl der zu ermordenden "Juden", und bis Oktober des Jahres wurden Züge von Westerbork ins Vernichtungslager Sobibor geführt. Innerhalb eines gut halben Jahres wurden 34.313 "Juden" in 19 Transporten aus den Niederlanden nach Sobibor verschleppt, weniger als 20 überlebten.
September 1943 waren bereits so viele niederländische "Juden" deportiert, dass der Jüdische Rat aufgelöst wurde, dessen Mitglieder selbst interniert und deportiert wurden. Nur wenigen gelang es, im Land zu bleiben oder sich ins Ausland absetzen zu können. Kontext war das Ziel, die Niederlande "judenfrei" zu haben. "Juden", die in "Mischehe" lebten, wurden vor die Wahl gestellt, deportiert zu werden oder sich sterilisieren zu lassen. Danach wären sie von jeglichen Restriktionen befreit. Einige Frauen und Männer nahmen dieses zynische Angebot wahr.
Während 1944 noch Züge nach Auschwitz rollten, begannen die deutschen Machthaber nach der Invasion der Alliierten in der Normandie Verhandlungen aufzunehmen. Verdiente "Juden" (was immer die deutschen Behördern darunter verstanden) wurden ins Musterlager Theresienstadt bei Prag verfrachtet, in der Hoffnung, dort in Frieden leben zu können, was jedoch ein Trugschluss war. 3000 der 4000 nach Theresienstadt deportierten Niederländer wurden nach Auschwitz weitergeleitet, wo die meisten ermordet wurden. Das Lager hatte nur die Funktion, gegenüber der Weltöffentlichkeit via Rotem Kreuz ein Lager ohne Zwang und Hunger zu präsentieren. Dass es eine hohe Fluktuationsrate wegen der Transporte nach Polen gab, war nicht relevant.
Ein weiteres Ziel der Deportationen wurde das Konzentrationslager Bergen-Belsen südöstlich von Bremen. Angepriesen wurde es als "Austauschlager". Den von Januar bis September 1944 dorthin verfrachteten Menschen wurde in Aussicht gestellt, mit in Palästina internierten Deutschen ausgetauscht zu werden. Was aber für die meisten nicht der Fall war. Von den etwa 1.500 Niederländern, die nach Bergen-Belsen deportiert wurden, wurde für 222 das vorgegaukelte Ziel Palästina zur Realität. Am 10. Juli 1944 erreichten sie Haifa. Das Lager war chronisch überbelegt, und die Versorgung mit Lebensmitteln war dermaßen prekär, dass unzählige gefangen Gehaltene verhungerten. Selbst nach der Befreiung 1945 war der Gesundheitszustand vieler so erbärmlich, dass sie in den nächsten Monaten verstarben. Sie konnten nicht gerettet werden.
Die Befreiung der Niederlande selbst gestaltete sich schwierig. Im September 1944 befreiten die Alliierten den Süden der Niederlande, beschlossen jedoch wegen des heftigen deutschen Widerstands, den Rhein erst im Frühjahr 1945 zu übersetzen. Der Norden der Niederlande blieb besetzt. Nach einem Eisenbahnerstreik beschlossen die deutschen Besatzer, die Lebensmittel- und Brennstoffversorgung für drei Monate auszusetzen. Für die Menschen im Norden der Niederlande begann ein Hungerwinter, für die untergetauchten "Juden" ein Kampf gegen das Verhungern.
Die Alliierten überquerten schließlich am 23. März 1945 den Rhein bei Remagen, kanadische und britische Truppen zogen nach Nordwesten Richtung der noch besetzten Niederlande. Am 5. Mai kapitulierte schließlich die deutsche Wehrmacht. Nicht alle deutschen Truppenteile hielten sich an den Waffenstillstand. So schossen am 7. Mai 1945 deutsche Soldaten in Amsterdam in eine feiernde Menschenmenge. Bei diesem Terroranschlag kamen 20 Menschen ums Leben, mehr als 100 wurden verletzt.
Die erste Zeit nach der Befreiung war weiterhin eine schwere Zeit, die meisten von den Deutschen als "Juden" deklarierten Niederländer waren tot, die Überlebenden hatten nichts mehr. Sie mussten versuchen, ihr geraubtes Eigentum zurückzuerhalten, die Reintegration ins Erwerbsleben musste in Angriff genommen werden. Besondere Zuwendungen lehnte der niederländische Staat ab, da für ihn alle Niederländer gleichberechtigt waren und er nicht gewillt war, niederländische Staatsbürger in Ethnien unterschiedlichen Rechts einzuteilen. Dadurch wäre ein Grundprinzip der Niederlande aufgehoben worden.
Anders das Problem mit den aus Deutschland und Österreich geflohenen "Juden". Diesen wurde vom deutschen Staat im November 1941 die Staatsbürgerschaft aberkannt und sie waren staatenlos. Nach anfänglichen Ressentiments wurde ihnen nach allgemeinem Bekanntwerden der massenhaften Vernichtung eine Integration in die Niederlande erleichtert, so sie beabsichtigten, zu bleiben.
Von den mit den deutschen Besatzern kollaborierenden Niederländern wurden noch im Jahr 1945 etwa 100.000 inhaftiert. Die Behörden und die Polizei wurden entnazifiziert, vor allem betraf dies Mitglieder der NSB. Täter hohen Ranges (Leiter von Lagern, aber auch der Vorsitzende der NSB, Anton Mussert) wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet. Arthur Seyß-Inquart wurde am Nürnberger Prozess zum Tode verurteilt und hingerichtet. Hochrangige deutsche Besatzer kamen im Nachkriegsdeutschland vor Gericht.
Das Buch von Happe lässt einen manchmal fast das Atmen vergessen. Ich selbst habe noch kein so ausführliches Werk darüber gelesen, wie die deutsche Besatzung und die Deportationen organisiert waren. Sprachlich ist der Text sehr lesbar gestaltet, ohne jedoch auf Wissenschaftlichkeit zu verzichten. Drei Jahre lang hat Katja Happe in verschiedenen Archiven Dokumente ausgehoben. In der Rezension auf H/Soz/Kult werden manche Wiederholungen kritisch angemerkt, die mir jedoch beim Lesen durchaus geholfen haben. Was ich anmerken möchte, ist die Unstimmigkeit in der Bewertung des Verhaltens der Niederländer. Es wird beklagt, dass sie sich mehr oder weniger kaum um das Schicksal ihrer jüdischen Landsleute gekümmert haben, dann liest man jedoch, dass wegen der Judenaktionen der deutschen Besatzer es einen Generalstreik gegeben hat, viele Niederländer auch aus Selbstlosigkeit (nicht wegen Geldgier) jüdische Menschen versteckt haben und dass die Widerstandsbewegung sehr wohl auch wegen Deportationen und Massenmorde ihre Aktionen verschärft hat. Dies ist nicht ganz stimmig und bedürfte einer differenzierteren Studie. Jedoch schmälert dies nicht den Wert dieser von Happe vorgelegten Gesamtschau.
Die nunmehrige Leiterin der KZ-Gedenk- und Begegnungsstätte Ladelund, Katja Happe, hat in den Jahren 2012 bis 2015 in einem Forschungsprojekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft ein Standardwerk zur Judenverfolgung in den Niederlanden während der deutschen Besetzung von Mai 1940 bis Mai 1945 verfasst.
Etwa drei Viertel der in den Niederlanden lebenden Menschen, welche die Nationalsozialisten nach ihren rassistischen Kriterien als "Juden" kennzeichneten, wurden ermordet. Dies ist die höchste Mordquote in den besetzten Gebieten West- und Nordeuropas. Insgesamt wurden 102.994 niederländische "Juden" sowie etwa 4.000 Nicht-Niederländer deportiert, von denen insgesamt nur etwa fünftausend überlebten. Insgesamt lebten in den Niederlanden 140.552 Menschen, welche von den Nationalsozialisten als "Juden" bezeichnet wurden, dazu 14.549 "Halbjuden" sowie 5.179 "Vierteljuden". Die statistische Akribie der deutschen Nationalsozialisten erstaunt immer wieder.
Nach der Kapitulation der niederländischen Armee (nach der Bombardierung Rotterdams wurde noch mit der Bombardierung Utrechts gedroht) flohen die Regierung und Königin Wilhelmina nach Großbritannien, das Parlament wurde aufgelöst. Die politische Führung als Reichskommissar übernahm der aus Österreich stammende Arthur Seyß-Inquart, als niederländische Marionetten dienten in der Verwaltung Generalsekretäre, die niederländische Polizei wurde deutschen Weisungen unterstellt. Mitglieder der niederländischen Nationalsoziallistischen Bewegung (NSB) fungierten als Bluthunde (wie die SA in Deutschland).
Die aus jüdischen Familien stammenden Niederländer waren zumeist seit dem 16. Jahrhundert, als Religionsfreiheit eingeführt wurde, in den Niederlanden, sowohl aus Portugal stammende sephardische Juden als auch aus Mittel- und Osteuropa stammende askenasische Juden. Viele Familien waren im Laufe der Zeit zum christlichen Glauben übergetreten, die meisten verstanden sich in ihrer Identität als Niederländer. Letzteres war mit ein Grund, warum sie - im Gegensatz zu den aus Deutschland und Österreich geflohenen Juden - sich zunächst nicht sonderlich bedroht fühlten. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass die Deutschen gegen Niederländer vorgehen wie gegen deutsche Juden.
Dies entpuppte sich schnell als Trugschluss. Zunächst war die Kategorisierung als "Jude" strenger als in den Nürnberger Gesetzen (ein Großelternteil reichte), erst nach einigen Monaten wurde auf zwei Großelternteile korrigert. "Juden" wurden - wie in Deutschland - aus staatlichen Posten vertrieben, Selbständigen wurde das Gewerbe für "Nichtjuden" verboten. Die Verschärfungen gingen im Schnelldurchlauf vor sich. Nach dem erfolglosen Versuch, im Februar 1942 in Amsterdam ein Getto einzurichten, sowie einer "Judenrazzia" am 22. und 23. Februar desselben Jahres, traten am 25. und 26 Februar Arbeiter und Geschäftsleute in Amsterdam, Utrecht, Hilversum, Haarlem und weiteren kleineren Städten in Generalstreik. Dass es den Deutschen ernst war, zeigte sich daran, dass über Noord-Holland das Kriegsrecht ausgerufen wurde. Insgesamt wurden 800 junge männliche Juden in die KZs Buchenwald und Mauthausen verschleppt. Da die Deutschen noch Todesanzeigen aus den KZs in die Niederlande schickten, war der jüdischen Gemeinde bald klar, dass es sich bei diesen KZs um Mordmaschinen handelt. Sie hatte recht: insgesamt überlebte ein einziger.
Die von den Niederlanden nach internationalem Recht in Deutschland eingesetzte Schutzmacht Schweden versuchte noch, deren Schicksal nachzuvollziehen. Um dies zu verhindern, schwenkte Deutschland um und deportierte nur mehr ins nicht zu Deutschland gehörende besetzte Generalgouvernement Polen. Ins Ausland reichte der Arm einer Schutzmacht nicht.
Im Januar 1942 war der endgültige Vernichtungsbeschluss der "europäischen Juden" bei der Wannseekonferenz zur Durchführung besiegelt. In den Niederlanden begann der Deportierungsprozess mit einem hinterhältigen juristischen Kniff. Die deutschen Besatzer ließen niederländischen "Juden" eine Einwilligungserklärung zur Emigration unterzeichnen. Dies war eine böswillige Täuschung, da die Unterzeichnenden an die Schweiz, Palästina oder die USA, also freie Gebiete dachten. Auch wurden die niederländischen "Juden" in insgesamt 50 Arbeitslagern konzentriert, um handlich einen Deportations-Pool zur Verfügung zu haben. Durchgangslager für die Transporte wurde Westerbork südlich von Groningen. Dieses Lager war ursprünglich ein niederländisches Flüchtlingslager für Deutsche und Österreicher, welches die deutschen Besatzer zu einem Konzentrationslager umfunktionierten.
Mitte Juli 1942 rollten die ersten Züge nach Auschwitz-Birkenau, nach Plan waren drei Züge pro Woche vorgesehen. Die Aufforderung zum "Arbeitseinsatz" wurde zu Beginn noch per Post zugestellt. Der von den deutschen Besatzern eingesetzte Jüdische Rat unterstützte die Deportationen, weil er hoffte, durch sogenannte "Freistellungen" (Mitglieder des Jüdischen Rats selbst, Rüstungsarbeiter, Diamantenspezialisten sowie Arbeiter im Elektronikwerk Philips, das selbst darauf achtete, "seinen" Zwangsarbeitern menschenwürdige Lebensbedingungen zu gewähren und vor der Deportation zu schützen) möglichst viele von den Deportationen bewahren zu können. Widerstand wurde aus den Erfahrungen mit den Mauthausen-Toten nicht ins Auge gefasst. Etwa 20.000 "Juden" kamen der Aufforderung zum "Arbeitseinsatz" nicht nach und tauchten unter. Am berühmtesten ist aufgrund des Tagebuchs der jungen Anna die deutsche Flüchtlingsfamilie Frank. Da regelmäßig viel weniger "Juden" zum Abtransport erschienen, als Post erhalten haben, wurde schließlich die niederländische Polizei beauftragt, die Aufgeforderten festzunehmen und dafür zu sorgen, dass sie ins Lager Westerbork verfrachtet werden.
Der Versuch, den Aufforderungen zu entkommen, wurde erhöht, als im Juni 1942 die BBC von Massenmorden in polnischen Lagern berichtete. Von bereits 700.000 Erschossenen und Vergasten war die Rede. Die Alliierten informierten offiziell am 17. Dezember 1942 die Weltöffentlichkeit von den systematischen Massenmorden.
Angesichts des Kriegsverlaufs erhöhte im Februar 1943 das Reichssicherheitshauptamt in Berlin die Schlagzahl der zu ermordenden "Juden", und bis Oktober des Jahres wurden Züge von Westerbork ins Vernichtungslager Sobibor geführt. Innerhalb eines gut halben Jahres wurden 34.313 "Juden" in 19 Transporten aus den Niederlanden nach Sobibor verschleppt, weniger als 20 überlebten.
September 1943 waren bereits so viele niederländische "Juden" deportiert, dass der Jüdische Rat aufgelöst wurde, dessen Mitglieder selbst interniert und deportiert wurden. Nur wenigen gelang es, im Land zu bleiben oder sich ins Ausland absetzen zu können. Kontext war das Ziel, die Niederlande "judenfrei" zu haben. "Juden", die in "Mischehe" lebten, wurden vor die Wahl gestellt, deportiert zu werden oder sich sterilisieren zu lassen. Danach wären sie von jeglichen Restriktionen befreit. Einige Frauen und Männer nahmen dieses zynische Angebot wahr.
Während 1944 noch Züge nach Auschwitz rollten, begannen die deutschen Machthaber nach der Invasion der Alliierten in der Normandie Verhandlungen aufzunehmen. Verdiente "Juden" (was immer die deutschen Behördern darunter verstanden) wurden ins Musterlager Theresienstadt bei Prag verfrachtet, in der Hoffnung, dort in Frieden leben zu können, was jedoch ein Trugschluss war. 3000 der 4000 nach Theresienstadt deportierten Niederländer wurden nach Auschwitz weitergeleitet, wo die meisten ermordet wurden. Das Lager hatte nur die Funktion, gegenüber der Weltöffentlichkeit via Rotem Kreuz ein Lager ohne Zwang und Hunger zu präsentieren. Dass es eine hohe Fluktuationsrate wegen der Transporte nach Polen gab, war nicht relevant.
Ein weiteres Ziel der Deportationen wurde das Konzentrationslager Bergen-Belsen südöstlich von Bremen. Angepriesen wurde es als "Austauschlager". Den von Januar bis September 1944 dorthin verfrachteten Menschen wurde in Aussicht gestellt, mit in Palästina internierten Deutschen ausgetauscht zu werden. Was aber für die meisten nicht der Fall war. Von den etwa 1.500 Niederländern, die nach Bergen-Belsen deportiert wurden, wurde für 222 das vorgegaukelte Ziel Palästina zur Realität. Am 10. Juli 1944 erreichten sie Haifa. Das Lager war chronisch überbelegt, und die Versorgung mit Lebensmitteln war dermaßen prekär, dass unzählige gefangen Gehaltene verhungerten. Selbst nach der Befreiung 1945 war der Gesundheitszustand vieler so erbärmlich, dass sie in den nächsten Monaten verstarben. Sie konnten nicht gerettet werden.
Die Befreiung der Niederlande selbst gestaltete sich schwierig. Im September 1944 befreiten die Alliierten den Süden der Niederlande, beschlossen jedoch wegen des heftigen deutschen Widerstands, den Rhein erst im Frühjahr 1945 zu übersetzen. Der Norden der Niederlande blieb besetzt. Nach einem Eisenbahnerstreik beschlossen die deutschen Besatzer, die Lebensmittel- und Brennstoffversorgung für drei Monate auszusetzen. Für die Menschen im Norden der Niederlande begann ein Hungerwinter, für die untergetauchten "Juden" ein Kampf gegen das Verhungern.
Die Alliierten überquerten schließlich am 23. März 1945 den Rhein bei Remagen, kanadische und britische Truppen zogen nach Nordwesten Richtung der noch besetzten Niederlande. Am 5. Mai kapitulierte schließlich die deutsche Wehrmacht. Nicht alle deutschen Truppenteile hielten sich an den Waffenstillstand. So schossen am 7. Mai 1945 deutsche Soldaten in Amsterdam in eine feiernde Menschenmenge. Bei diesem Terroranschlag kamen 20 Menschen ums Leben, mehr als 100 wurden verletzt.
Die erste Zeit nach der Befreiung war weiterhin eine schwere Zeit, die meisten von den Deutschen als "Juden" deklarierten Niederländer waren tot, die Überlebenden hatten nichts mehr. Sie mussten versuchen, ihr geraubtes Eigentum zurückzuerhalten, die Reintegration ins Erwerbsleben musste in Angriff genommen werden. Besondere Zuwendungen lehnte der niederländische Staat ab, da für ihn alle Niederländer gleichberechtigt waren und er nicht gewillt war, niederländische Staatsbürger in Ethnien unterschiedlichen Rechts einzuteilen. Dadurch wäre ein Grundprinzip der Niederlande aufgehoben worden.
Anders das Problem mit den aus Deutschland und Österreich geflohenen "Juden". Diesen wurde vom deutschen Staat im November 1941 die Staatsbürgerschaft aberkannt und sie waren staatenlos. Nach anfänglichen Ressentiments wurde ihnen nach allgemeinem Bekanntwerden der massenhaften Vernichtung eine Integration in die Niederlande erleichtert, so sie beabsichtigten, zu bleiben.
Von den mit den deutschen Besatzern kollaborierenden Niederländern wurden noch im Jahr 1945 etwa 100.000 inhaftiert. Die Behörden und die Polizei wurden entnazifiziert, vor allem betraf dies Mitglieder der NSB. Täter hohen Ranges (Leiter von Lagern, aber auch der Vorsitzende der NSB, Anton Mussert) wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet. Arthur Seyß-Inquart wurde am Nürnberger Prozess zum Tode verurteilt und hingerichtet. Hochrangige deutsche Besatzer kamen im Nachkriegsdeutschland vor Gericht.
Das Buch von Happe lässt einen manchmal fast das Atmen vergessen. Ich selbst habe noch kein so ausführliches Werk darüber gelesen, wie die deutsche Besatzung und die Deportationen organisiert waren. Sprachlich ist der Text sehr lesbar gestaltet, ohne jedoch auf Wissenschaftlichkeit zu verzichten. Drei Jahre lang hat Katja Happe in verschiedenen Archiven Dokumente ausgehoben. In der Rezension auf H/Soz/Kult werden manche Wiederholungen kritisch angemerkt, die mir jedoch beim Lesen durchaus geholfen haben. Was ich anmerken möchte, ist die Unstimmigkeit in der Bewertung des Verhaltens der Niederländer. Es wird beklagt, dass sie sich mehr oder weniger kaum um das Schicksal ihrer jüdischen Landsleute gekümmert haben, dann liest man jedoch, dass wegen der Judenaktionen der deutschen Besatzer es einen Generalstreik gegeben hat, viele Niederländer auch aus Selbstlosigkeit (nicht wegen Geldgier) jüdische Menschen versteckt haben und dass die Widerstandsbewegung sehr wohl auch wegen Deportationen und Massenmorde ihre Aktionen verschärft hat. Dies ist nicht ganz stimmig und bedürfte einer differenzierteren Studie. Jedoch schmälert dies nicht den Wert dieser von Happe vorgelegten Gesamtschau.