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Der im Westen aufgewachsene Journalist Christian Booß legt mit dieser gut 800 Seiten umfassenden Dissertation eine sehr detaillierte Geschichte des Rechtsanwaltswesens in der DDR von den Anfängen bis 1990 vor. In Einzelstudien konzentriert er sich auf MfS-ermittelte Verfahren der Jahre 1972, 1984 und 1988.

So erfahren wir, dass noch während der Stalin-Zeit die Rechtsanwaltskammern zerschlagen und Einzelanwälte zurückgedrängt wurden, die Rechtsanwälte in Kollegien genossenschaftlich zusammengefasst wurden, die durch die SED über Nomenklaturkader (zum Beispiel Vorsitzende; der langjährige Vorsitzende Friedrich Wolff ist durch spektakuläre Prozesse auch international bekannt) angeleitet waren, deshalb aber auch eine gewisse Selbständigkeit auch bezüglich dienstrechtliche Verfahren bewahren konnten. Es wurde zwar mit dem MfS zusammengearbeitet, aber wenige Rechtsanwälte waren IM, da das MfS Bedenken hatte, dass damit der Zugang zu Informationen bei Mandanten erschwert werden könnte.

So sei es korrekt, dass der mit guten Kontakten zur SED-Spitze versehene Jungstar-Anwalt Gregor Gysi, der unter anderem Rudolf Bahro und Robert Havemann als Anwalt vertrat, nie IM war, jedoch als sogenannter GMS (Gesellschaftlicher Mitarbeiter für Sicherheit) unter Klarnamen Kontakte zum MfS pflegte, die jedoch nicht sehr eng waren.

Einzelanwälte (Spezialkanzleien), die nicht in den Kollegien organisiert waren, wurden zumeist zugelassen, um SED und Staat international zu vertreten oder das MfS bzw. seine Offiziere selbst. Berühmt ist zum Beispiel die Anwaltskanzlei von Wolfgang Vogel (spezialisiert auf Ausreiseverfahren inkl. Freikaufverhandlungen mit der BRD).

Insgesamt ermittelt Booß aus den vorhandenen Akten, dass es viele Prozesse ohne anwaltliche Vertretung gab und die Anwälte selbst sehr inaktiv waren, zumeist die Strafanträge der Staatsanwaltschaft gebilligt wurden und höchstens auf Milde oder ein geringeres Strafmaß plädiert wurde. Beklagte fühlten sich - laut Interviews - nicht so richtig vertreten. Interessant ist, dass diejenigen Anwälte mit engeren Kontakten zur SED bzw. zum MfS sich mehr getrauten, die Interessen der Beklagten zu vertreten. Gysi ist ein exemplarisches Beispiel. Im allgemeinen wurde jedoch meist dahin gearbeitet, dass Beklagte ein Geständnis abliefern, Anwälte wurden aufgefordert, ihre Mandanten nicht auf ihr Schweigerecht hinzuweisen. Erst gegen Ende der DDR ist eine rückläufige Tendenz dieser Praxis erkennbar.

Ein diese Tendenz zu anwaltsfreien Prozessen fördernder Aspekt ist der strukturelle Anwaltsmangel in der DDR. Ihre Zahl war ständig am Sinken, da anwaltliche Vertretung keine Priorität des SED-Staats war. Auch wurden zum Beispiel Bewerberinnen und Bewerber eher nicht genommen, wenn sie beim Bewerbungsprozess als Motivation die Durchsetzung von Rechten ihrer Mandanten angaben. Anwälte sollten dem sozialistischen Rechtssystem dienen. Eher ging durch, wenn gesellschaftlicher und finanzieller Status (Anwälte verdienten etwa das Dreifache eines durchschnittlichen Angestelltengehalts) als motivierend empfunden wurden.

Die Aktenlage ergab auch, dass das MfS sich weniger in Verfahren einmischte als erwartet, eine politische Steuerung bereits durch SED und Nomenklaturkader stattfand. Eine Einmischung von höchster Ebene ist aus dem Skinheadprozess von 1987 bekannt, als Erich Honecker selbst eine Verhandlung in zweiter Instanz mit höherem Strafmaß einforderte und erhielt. Anders war der Kriegsverbrecherprozess gegen den durch Friedrich Wolff vertretenen Heinz Barth (Oradour-Prozess 1983) gelagert, dem international zugestanden wurde, dass juristisch einwandfrei gearbeitet wurde. Barth wurde nicht zum Tode verurteilt.

1990 wurden die Kollegien aufgelöst und Anwaltskammern eingerichtet. Noch vor der Vereinigung der beiden deutschen Staaten gründeten viele ehemalige MfS-Offiziere und SED-Kader Anwaltskanzleien. Als Deutschland 1992 für Neuanträge Untersuchungskommissionen einrichtete, um zum Beispiel MfS-Mitgliedschaften zu überprüfen, war dieses Vorgehen durchaus nicht unumstritten, da es sich mit dem Freien Beruf eines Anwalts spießte und sich die Frage stellte, ob nicht außschließlich strafrechtlich Relevantes eine Zulassung verhindern könne.

Diese Dissertation ist sehr lesbar geschrieben, manchmal wie ein Thriller, und ich schätze sehr, dass die rein juristische Argumentation und Diskussion in den Fußnotenapparat ausgelagert ist.

Eine informative Rezension findet sich auf H/Soz/Kult