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Grundthemen der Literaturwissenschaft: Lesen
03.01.2021 um 13:53Original anzeigen (0,2 MB)
Dies ist ein grundlegendes Werk der aktuellen Literaturwissenschaften im deutschsprachigen Raum zum Thema Lesen, die Beiträge stammen größtenteils von der Creme der deutschen Literaturwissenschaft. Dennoch stellt sich bei vielen Beiträgen die Frage: Was zum Teufel lese ich da?
Wenn ich nun ein Postulat hernehme, dass ein Text „umso lustvoller wirkt“ „je weniger Worte gebraucht werden, um eine bestimmte Informationsmenge zu vermitteln“ (Thomas Anz), dann verhalten sich die meisten Beiträge umgekehrt proportional. Alle scheinen nach einem gleichen Bauschema gestaltet zu sein:
- Ich packe den Text mit möglichst vielen Abstrakta und Fachwörtern voll.
- Ich zitiere möglichst viele grundlegende wissenschaftliche Werke.
- Ich zeige meine umfassende Belesenheit.
Damit werden die Texte sprunghaft und oberflächlich, noch dazu schwer zu lesen. Und manchmal werden nicht nur Banalitäten, sondern auch Unsinnigkeiten kaschiert.
Wenn zum Beispiel postuliert wird, dass „in den Mittelschichtmilieus der Teilmodernisierten“ gerne Perry Rhodan gelesen und in den „Milieus der Modernisierungsverlierer und Deklassierten“ zu „Geisterjägerromanen“ gegriffen wird (Jost Schneider), ohne auf irgendwelche empirische Daten zurückzugreifen, dann ist das Schwurbelei und nicht Wissenschaft.
Auch möge mir niemand mehr sagen, dass hinter „Gender Studies“ nicht ultrareaktionäre Ansichten fröhliche Urständ feiern können. So wird „Backfisch-Literatur“ (also Mädchenliteratur) gefeiert und das Wenigerlesen von Buben in der Pubertät darauf zurückgeführt, dass „Lesevorbilder … in der Regel Frauen“ seien und sich Buben daher von Lektüre distanzieren müssten. (Andrea Bertschi-Kaufmann und Natalie Plangger) Die Daten sind korrekt, die Interpretation basiert jedoch auf keinerlei Informationen, die ist dahergeschwurbelt.
Nach einer britischen Studie sollen regelmäßige Leser*innen von fiktiver Literatur eine höhere Lebenserwartung haben als Nicht-Leser*innen. Mindestens 30 Minuten pro Tag sei der Schwellenwert. (Elke Kronshage) Nicht erörtert wird dabei, ob es sich um eine Korrelation oder eine Kausalität handelt.
Nicht zu verstehen ist, warum manche Beiträger*innen „E-Book“ mit „E-Reader“ verwechseln (also die Datei mit dem Gerät).
Die interessanteren Aussagen muss man sich zusammenfischen, so die Geschichte des Lesens und der Texturen (Trägermaterialien) seit den Sumerern oder die Frage, warum das Lesen fiktiver Texte so attraktiv ist (Rezeptionsästhetik). Letzteres wegen der Möglichkeit, „Leerstellen“ aufzufüllen, wegen der „Flüchtigkeit und Ungenauigkeit der Vorstellungsbilder“. (Renate Brosch) Darum seien Literaturverfilmungen unbefriedigend, weil die Vorstellungsbilder vorgekaut sind. Literatur könne daher „als Trainingsfeld für interpersonale Kompetenz dienen“. (Renate Brosch)
Relativ stark empirisch gestützt ist auch der Teil über Leseerziehung. So gäbe es einen Leseknick bei 8-12-Jährigen, der auch darauf zurückzuführen sei, weil an Schulen zu wenig auf das Lesebedürfnis dieser Altersgruppe Rücksicht genommen wird. Studien hätten gezeigt, dass in diesem Alter Raum für „Tagträume und Phantasiereisen“ (Ulrike Preußer) geboten werden muss, der durch „phantastische Literatur oder Abenteuergeschichten“ ausgefüllt wird.
Auch müsse darauf geachtet werden, dass lautes und stilles Lesen nicht verflochten wird, da unterschiedliche Hirnregionen angesprochen werden. Ich kenne das noch aus meinem Schulunterricht: Was habe ich es gehasst, wenn ich was vorgelesen habe und im Anschluss gefragt wurde, was ich gelesen habe. Jetzt weiß ich, dass ich nicht blöd war, sondern völlig normal. Hingegen unterstütze das Vorgelesen-Werden von Texten das Erlernen von Textmustern und somit das Lesen-Lernen.
Was also ist Lesen? Jost Schneider definiert vier Niveaustufen:
Kompetenzniveau 1: Erkennen von Buchstaben und Wörtern (keine Schulbildung)
Kompetenzniveau 2: Gelernte Lesekompetenz vergessen (Entziffern von Wörtern)
Kompetenzniveau 3: Flüssiges Lesen von Alltagstexten (mittlere Schulbildung)
Kompetenzniveau 4: Teilnahme an gehobener Schriftkommunikation (höhere Schulbildung)
Niveau 2 geistert auch als „funktionaler Analphabetismus“ durch die Medien.
Die historische Verteilung der Lesekompetenzstufen in Deutschland wird in einer Grafik wiedergegeben:
Auf Kapitel über das digitale Lesen bzw. das Lesen von Nicht-Schrift gehe ich nicht ein. Erstere sind zum Teil sehr subjektiv geprägt, letztere (wie zum Beispiel über das „Lesen von Städten“ bei Barthes) zu spekulativ.
Dies ist ein grundlegendes Werk der aktuellen Literaturwissenschaften im deutschsprachigen Raum zum Thema Lesen, die Beiträge stammen größtenteils von der Creme der deutschen Literaturwissenschaft. Dennoch stellt sich bei vielen Beiträgen die Frage: Was zum Teufel lese ich da?
Wenn ich nun ein Postulat hernehme, dass ein Text „umso lustvoller wirkt“ „je weniger Worte gebraucht werden, um eine bestimmte Informationsmenge zu vermitteln“ (Thomas Anz), dann verhalten sich die meisten Beiträge umgekehrt proportional. Alle scheinen nach einem gleichen Bauschema gestaltet zu sein:
- Ich packe den Text mit möglichst vielen Abstrakta und Fachwörtern voll.
- Ich zitiere möglichst viele grundlegende wissenschaftliche Werke.
- Ich zeige meine umfassende Belesenheit.
Damit werden die Texte sprunghaft und oberflächlich, noch dazu schwer zu lesen. Und manchmal werden nicht nur Banalitäten, sondern auch Unsinnigkeiten kaschiert.
Wenn zum Beispiel postuliert wird, dass „in den Mittelschichtmilieus der Teilmodernisierten“ gerne Perry Rhodan gelesen und in den „Milieus der Modernisierungsverlierer und Deklassierten“ zu „Geisterjägerromanen“ gegriffen wird (Jost Schneider), ohne auf irgendwelche empirische Daten zurückzugreifen, dann ist das Schwurbelei und nicht Wissenschaft.
Auch möge mir niemand mehr sagen, dass hinter „Gender Studies“ nicht ultrareaktionäre Ansichten fröhliche Urständ feiern können. So wird „Backfisch-Literatur“ (also Mädchenliteratur) gefeiert und das Wenigerlesen von Buben in der Pubertät darauf zurückgeführt, dass „Lesevorbilder … in der Regel Frauen“ seien und sich Buben daher von Lektüre distanzieren müssten. (Andrea Bertschi-Kaufmann und Natalie Plangger) Die Daten sind korrekt, die Interpretation basiert jedoch auf keinerlei Informationen, die ist dahergeschwurbelt.
Nach einer britischen Studie sollen regelmäßige Leser*innen von fiktiver Literatur eine höhere Lebenserwartung haben als Nicht-Leser*innen. Mindestens 30 Minuten pro Tag sei der Schwellenwert. (Elke Kronshage) Nicht erörtert wird dabei, ob es sich um eine Korrelation oder eine Kausalität handelt.
Nicht zu verstehen ist, warum manche Beiträger*innen „E-Book“ mit „E-Reader“ verwechseln (also die Datei mit dem Gerät).
Die interessanteren Aussagen muss man sich zusammenfischen, so die Geschichte des Lesens und der Texturen (Trägermaterialien) seit den Sumerern oder die Frage, warum das Lesen fiktiver Texte so attraktiv ist (Rezeptionsästhetik). Letzteres wegen der Möglichkeit, „Leerstellen“ aufzufüllen, wegen der „Flüchtigkeit und Ungenauigkeit der Vorstellungsbilder“. (Renate Brosch) Darum seien Literaturverfilmungen unbefriedigend, weil die Vorstellungsbilder vorgekaut sind. Literatur könne daher „als Trainingsfeld für interpersonale Kompetenz dienen“. (Renate Brosch)
Relativ stark empirisch gestützt ist auch der Teil über Leseerziehung. So gäbe es einen Leseknick bei 8-12-Jährigen, der auch darauf zurückzuführen sei, weil an Schulen zu wenig auf das Lesebedürfnis dieser Altersgruppe Rücksicht genommen wird. Studien hätten gezeigt, dass in diesem Alter Raum für „Tagträume und Phantasiereisen“ (Ulrike Preußer) geboten werden muss, der durch „phantastische Literatur oder Abenteuergeschichten“ ausgefüllt wird.
Auch müsse darauf geachtet werden, dass lautes und stilles Lesen nicht verflochten wird, da unterschiedliche Hirnregionen angesprochen werden. Ich kenne das noch aus meinem Schulunterricht: Was habe ich es gehasst, wenn ich was vorgelesen habe und im Anschluss gefragt wurde, was ich gelesen habe. Jetzt weiß ich, dass ich nicht blöd war, sondern völlig normal. Hingegen unterstütze das Vorgelesen-Werden von Texten das Erlernen von Textmustern und somit das Lesen-Lernen.
Was also ist Lesen? Jost Schneider definiert vier Niveaustufen:
Kompetenzniveau 1: Erkennen von Buchstaben und Wörtern (keine Schulbildung)
Kompetenzniveau 2: Gelernte Lesekompetenz vergessen (Entziffern von Wörtern)
Kompetenzniveau 3: Flüssiges Lesen von Alltagstexten (mittlere Schulbildung)
Kompetenzniveau 4: Teilnahme an gehobener Schriftkommunikation (höhere Schulbildung)
Niveau 2 geistert auch als „funktionaler Analphabetismus“ durch die Medien.
Die historische Verteilung der Lesekompetenzstufen in Deutschland wird in einer Grafik wiedergegeben:
Auf Kapitel über das digitale Lesen bzw. das Lesen von Nicht-Schrift gehe ich nicht ein. Erstere sind zum Teil sehr subjektiv geprägt, letztere (wie zum Beispiel über das „Lesen von Städten“ bei Barthes) zu spekulativ.