Schnitzler-Weg

Weniger bekannt ist, dass der Meister der Beziehungsdramen und psychoanalytischen Erzählungen auch zwei Romane geschrieben hat. Dieser ist sein erster und wurde 1908 veröffentlicht. Er wurde in den Nullerjahren des 20. Jahrhunderts geschrieben, in Schnitzlers 40ern.

Hauptheld ist - wie so oft bei Schnitzler - ein junger Wiener niedrigen Adels, Georg von Wergenthin (27), der eine Beziehung zu einer Kleinbürgerlichen, Anna Rosner (23) hält. Anna wird schwanger, doch das Kind stirbt bei der Geburt (Nabelschnurstangulation). Georg, von der Erbschaft seiner verstorbenen Eltern als dilettierender Komponist lebend, träumt von einer Komponistenkarriere, kriegt aber nichts auf die Reihe (Opernpläne mit einem in Literatur dilettierenden Freund namens Heinrich, ein nicht vollendetes Quintett, ein paar in Salonkreisen gut angekommene Lieder). Als ihm ein Bekannter einen Hofkapellmeisterposten in der ostwestfälischen Kleinstadt Detmold vermittelt, zieht Georg dorthin, noch bevor sein verstorbener Sohn begraben ist. Zu Anna bricht er das Verhältnis nicht, doch der von ihr erhoffte Heiratsantrag kommt nie. Der Roman endet mit einem Kurzbesuch in Wien, bei dem er unbewusst wie auch bewusst mit dieser Stadt bricht: mit Anna und mit seinem Freund Heinrich. Die Kapellmeisterstelle bedeutet für ihn Freiheit. Der Leser weiß: Detmold ist das Ende seiner Träume und der Beginn einer biederen, von ihm immer befürchteten Karriere als Provinzmusiker.

Dass Schnitzler diesen von der Kritik eher nicht beachteten Roman mit Goethes Wilhelm Meister oder Thomas Manns Buddenbrooks gleichsetzt, ist bei diesem Setting fast Selbstironie. Ich habe keine Ahnung, ob er dies ernst gemeint hat. Georg ist eine jener jungen Männer der Oberschicht, die Schnitzler in seinen Meisterwerken in ihre Atome zerlegt hat. Hier im Roman ja auch.

Schnitzler, selbst von Beruf Arzt und ein einer Villa in einem Nobelviertel Wiens wohnend, siedelt diesen Roman - wie so oft in seinen Werken - in der Wiener Oberschicht an (niedriger Adel, reiche Bürger, hohe Beamte), die via Politik mit den Diskussionen "niedrigerer" Schichten konfrontiert ist: dem Deutschnationalismus und der Sozialdemokratie. Mit Theresa - Tochter aus einer absteigenden jüdischen Bürgerfamilie stammend, die aber immer wieder Liebesbeziehungen mit Männern aus der Oberschicht eingeht und die "typischen" Reiseziele abklappert (Lugano, norditalienische Seen, Vereser See, Florenz, Rom, Neapel, Sizilien), wird eine sozialdemokratische Agitatorin im Roman eingeführt, die wegen angeblicher Majestätsbeleidigung von Franz Joseph zwei Monate Haft absitzen muss.

Einen noch breiteren Raum nehmen jüdische Diskussionen ein: Assimilierung vs. Zionismus. Theresas Bruder Leo ist glühender Zionist, der auf einen jüdischen Staat in Palästina hofft, während Heinrich (der jüdische Librettist) diese Idee für hirnverbrannt hält und sich die Frage stellt, warum jemand, dessen Urahnen vor 2000 Jahren Palästina aus Palästina flohen, weniger österreichisch sein soll als ein christlicher Georg, dessen Ahnen vor 200 Jahren vom Rhein nach Österreich zogen.

Bei den manchmal etwas langatmigen Diskussionen über das Judentum in Wien kann ich heutzutage trotzdem einen historischen Aspekt nicht vom Tisch wischen. Der Roman spielt 1898/99, die Hauptfiguren sind Mitte 20, also etwa 1870-75 geboren, ihnen folgte fünfzehn bis zwanzig Jahre später eine Generation, die blutigst aufmischte. Ich sehe die jüdischen jungen Menschen in diesem Roman als 65-70-Jährige in Viehwaggons nach Südpolen zur Vernichtung gekarrt.

Schnitzler konnte dies nicht wissen, nicht mal den Ersten Weltkrieg in diesem Roman. Ein Satz des Zionisten Leo jedoch ließ mich beim Lesen erschaudern:
... aber wenn die Scheiterhaufen wieder angezündet werden ...?