Das Knäblein aus Stein
17.10.2020 um 10:50DAS KNÄBLEIN AUS STEIN
Es war einmal ein kleines Mädchen, das lebte in einem Schloss am Waldesrand. Ihre Eltern, der Graf und die Gräfin, waren stets sehr auf ihre Sicherheit bedacht und so befand sich immer eine Kinderfrau in ihrer Nähe.
Eines Tages wollte das kleine Mädchen nicht mehr auf der Wiese hinter dem Schloss spielen. Es war ein heißer Tag im Juli und die Sonne brannte vom Himmel. Als sie schließlich bemerkte, dass ihre Kinderfrau auf der Bank ein paar Meter entfernt, eingenickt war, huschte sie an ihr vorbei und lief hinauf in den düsteren Wald. Schon nach den ersten Schritten wurde es dunkel und sie konnte die kühle Luft an ihren Beinchen spüren. Voller Bewunderung blickte sich das Mädchen um. Die Bäume ragten hoch über ihren Kopf bis in den Himmel hinein. Riesige Tannen standen gedrängt an Fichten und Föhren und mächtige Eichen breiteten ihr dichtes Blätterdach aus und nur hi und da drang ein zarter Sonnenstrahl durch das saftige Grün. Die Vögel zwitscherten vergnügt und sangen die schönsten Lieder, während nur ein paar Meter entfernt ein Hase im weichen Moos saß und sich mit den Pfoten seine Ohren putzte. Das kleine Mädchen kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Sie blickte sich um. Hinter ihr konnte sie noch deutlich die Wiese erkennen und die Bank, auf welcher die Kinderfrau noch immer vor sich hin döste. Sie wusste, dass sie nicht hier sein durfte. Ihre Eltern hatten ihr schon hunderte Male gesagt, dass sie um nichts in der Welt jemals den Wald betreten durfte. Doch es war so schön kühl hier! Und es war eine völlig neue Welt, die entdeckt werden wollte. Das kleine Mädchen überlegte kurz, ob sie nicht doch wieder zurück zu ihrer Kinderfrau laufen sollte, da raschelte es plötzlich im Laub und sie sah ein Reh, das aufgeschreckt vor ihr davon lief.
„So warte doch!“, rief das kleine Mädchen und begann dem Reh nach zu laufen.
Ein paar Schritte lang konnte sie das weiße Hinterteil des Tieres noch sehen, bis es schließlich irgendwo hinter Hecken und Büschen verschwunden war. Das kleine Mädchen war enttäuscht. Es hätte so gerne mit dem Reh gespielt, also lief sie weiter und immer weiter in den Wald hinein. Einmal links herum, dann rechts herum und wieder links. Plötzlich bemerkte sie, dass es finsterer und düsterer war als noch vor einigen Augenblicken. Sie blieb stehen und sah sich um. Voller Schrecken stellte sie fest, dass sie die Wiese nicht mehr sehen konnte.
„Wo bin ich denn nur?“, fragte sie.
Egal in welche Richtung sie blickte, überall waren nur Bäume, wilde Hecken, Laub und Moos. Selbst das Singen der Vögel schien auf einmal ganz weit weg zu sein. Verzweifelt begann das Mädchen einen schmalen Pfad entlang zu laufen, von dem es glaubte, er würde sie wieder zurück nach Hause bringen. Doch sie irrte sich. Der Weg führte sie immer tiefer und tiefer in den Wald hinein. Es wurde immer düsterer und bald waren die Vögel und ihr fröhliches Zwitschern gar nicht mehr zu hören.
Das kleine Mädchen begann zu weinen und verzweifelt um Hilfe zu rufen. Es rief so laut es nur konnte. Doch niemand schien sie zu hören. Und da. Plötzlich mündete der Weg in eine kleine, schummrige Lichtung in deren Mitte eine Statue stand. Das Mädchen ging vorsichtig näher und betrachtete sie. Die Statue war aus grauem Stein und sie zeigte einen kleinen Jungen, der nicht viel älter war, als sie selbst. Fasziniert blickte ihn das Mädchen an und strich dann sanft mit den Fingern über seinen Arm während sie langsam rund herum ging.
„Wer bist du wohl? Und was hast du hier zu suchen? Und kannst du mir vielleicht sagen, wie ich wieder nach Hause komme?“
Natürlich antwortete der Junge aus Stein nicht und so begann das Mädchen zu weinen.
„So hilf mir doch.“, schluchzte sie. „Meine Eltern machen sich bestimmt schon große Sorgen und alleine finde ich den Weg nicht mehr hinaus aus diesem Wald!“
„Für wahr.“, sagte plötzlich eine sanfte Stimme hinter dem kleinen Mädchen.
Erschrocken fuhr sie herum und sah eine Frau am Rande der kleinen Lichtung stehen. Sie sah seltsam aus. Ihr Haar war feuerrot, und hing ihr in wilden Locken über die Schultern. Am Leib trug sie ein Kleid, welches aus Moos und Laub zu bestehen schien und sie hatte keine Schuhe an.
„Wer bist du?“, fragte das kleine Mädchen entsetzt und drückte sich ängstlich an die Statue heran, so als könne ihr das Knäblein aus Stein Schutz bieten.
„Die Frage ist doch wohl eher, wer du bist, meine Kleine.“, antwortete die Frau und trat näher an sie heran.
Das Mädchen sagte nichts und drückte sich noch ein wenig fester an die Statue heran und so fuhr die Frau fort: „Lass mich raten: du bist die Tochter vom Grafen.“
Das kleine Mädchen blickte zu Boden und nickte stumm.
„Aha.“, meinte die Frau und lächelte. „Dann wirst du ja bestimmt wissen, wer das hier ist.“
Mit diesen Worten deutete sie auf den Jungen aus Stein. Das Mädchen blickte sie kurz an und schüttelte dann den Kopf.
Überrascht zog die Frau ihre Augenbrauen hoch. „Also haben dir deine Eltern nichts von ihm erzählt? Nun denn, dann werde ich das tun.“
Langsam ging sie um das steinerne Knäblein und das kleine Mädchen herum und begann zu erzählen: „Vor langer Zeit, als du noch nicht geboren warst, hatten der Graf und die Gräfin schon einmal ein Kind. Einen kleinen Jungen. Sie liebten ihn über alles. Doch eines Tages gaben sie nicht genügend Acht auf ihn und er lief in den Wald. Dort traf er auf eine Hexe. Sie war ein mürrisches, böses Weib und hegte großen Groll auf den Grafen und seine Gemahlin, weil man sie nicht in der Nähe des Schlosses haben wollte. Also schnappte sie den Jungen, zerrte ihn noch tiefer in den Wald hinein, bis hier her, an diese Stelle! Und hier verwandelte sie ihn dann einfach zu Stein.“
Die Frau blieb stehen und sah das kleine Mädchen an, welches sie mit großen Augen anstarrte. Dann fuhr sie fort: „Dieses steinerne Knäblein ist also dein Bruder, der für seinen Ungehorsam mit dem Leben bezahlen musste.“
Das kleine Mädchen blickte verzweifelt in das Gesicht des Jungen und da sah sie es: er weinte! Aus seinen steinernen Augen liefen Tränen! Erschrocken schrie das kleine Mädchen auf und schlug die Hände vor ihr Gesicht.
„Bitte!“, flehte sie leise. „Bitte, bitte, Hexe, tu mir nicht das gleiche an, was du meinem Bruder angetan hast!“
Da begann die Frau zu lachen. „Keine Sorge. Ich bin nicht diese böse Hexe, die deinem Bruder dies hier angetan hat. Damals, als deine Eltern ihren Sohn hier gefunden haben, haben sie nach der Hexe suchen lassen. Natürlich hat sie ihre Tat voller Hohn und Schadenfreude gestanden und als sie auch nach vielem Bitten und Betteln nicht gewillt war, den Zauber wieder rückgängig zu machen, hat der Graf befohlen, dass man sie in den Kerker wirft wo sie dann irgendwann gestorben ist. Nein mein Kind. Ich bin keine Hexe. Ich bin eine Waldnymphe und die Macht des Zauberns habe ich nie gelernt. Aber ich kenne diesen Wald besser, als jedes andere Wesen dieser Erde. Und wenn du mir versprichst, nie wieder alleine hier her zu kommen, werde ich dich zurück zu deinen Eltern bringen.“
Das kleine Mädchen nickte. „Ich verspreche es! Wirklich! Ich will zurück zu Mutter und Vater und ich werde nie wieder alleine den Wald betreten.“
Sie begann wieder zu weinen und Frau, die Waldnymphe, kam zu ihr und nahm sie bei der Hand.
„Komm – es ist nicht all zu weit. Aber gib Acht, dass du nicht hinfällst, der Boden ist sehr uneben.“
Und so führte die Waldnymphe das kleine Mädchen zurück zum Schloss ihrer Eltern. Die Kinderfrau hatte das Fehlen ihres Schützlings schon längst bemerkt und Alarm geschlagen. Und als das kleine Mädchen an der Hand der Waldnymphe zurück auf die Wiese trat, kamen ihre Eltern gefolgt von der weinenden Kinderfrau gerade aus dem Schloss gelaufen.
„Mutter! Vater!“ rief das kleine Mädchen und rannte seinen Eltern entgegen.
Die Waldnymphe blieb stehen und blickte ihr nach. Der Graf wollte zu ihr gehen und sich bedanken, dass sie seine Tochter heil zurück gebracht hatte, doch da drehte sie sich um und verschwand ,so flink wie zuvor das Reh, in der Dunkelheit des Waldes.
Viele Jahre spätere, als das Mädchen erwachsen war und nun selbst über das Schloss herrschte, schickte sie die fünf stärksten Männer im Lande in den Wald, um ihren Bruder, das steinerne Knäblein, zu holen. Sie wollte ihn bei sich haben, hier, auf dem Schloss. Doch die Männer kamen mit leeren Händen zurück. So sehr sie auch versucht hatten, die Statue vom Boden weg zu heben, es wollte ihnen einfach nicht gelingen. Es schien, als waren die steinernen Füße des Jungen tief in der Erde verwurzelt. Also ließ die Herrin des Schlosses alle Bäume rund um die Lichtung fällen, damit die Sonne täglich auf ihren Bruder aus Stein scheinen konnte. Und sie ließ Blumen zu seinen Füssen pflanzen, damit er sich an ihren bunten Farben erfreuen konnte.
Sie besuchte ihn jeden Tag, Sommer wie Winter, bei Regen wie bei Sonnenschein. Doch sie war nie alleine. Stets nahm sie jemanden zu ihrem Schutz mit sich, denn sie wusste, dass sie damals, als sie ein kleines Mädchen war, sehr viel Glück gehabt hatte. Alleine hätte sie den Weg nach Hause nie wieder gefunden. Und bis zu ihrem Tode hielt sie das Versprechen, welches sie der Waldnymphe damals gegeben hatte: niemals wieder hatte sie alleine einen Fuß in den Wald gesetzt.
©Enya Van Bran
Es war einmal ein kleines Mädchen, das lebte in einem Schloss am Waldesrand. Ihre Eltern, der Graf und die Gräfin, waren stets sehr auf ihre Sicherheit bedacht und so befand sich immer eine Kinderfrau in ihrer Nähe.
Eines Tages wollte das kleine Mädchen nicht mehr auf der Wiese hinter dem Schloss spielen. Es war ein heißer Tag im Juli und die Sonne brannte vom Himmel. Als sie schließlich bemerkte, dass ihre Kinderfrau auf der Bank ein paar Meter entfernt, eingenickt war, huschte sie an ihr vorbei und lief hinauf in den düsteren Wald. Schon nach den ersten Schritten wurde es dunkel und sie konnte die kühle Luft an ihren Beinchen spüren. Voller Bewunderung blickte sich das Mädchen um. Die Bäume ragten hoch über ihren Kopf bis in den Himmel hinein. Riesige Tannen standen gedrängt an Fichten und Föhren und mächtige Eichen breiteten ihr dichtes Blätterdach aus und nur hi und da drang ein zarter Sonnenstrahl durch das saftige Grün. Die Vögel zwitscherten vergnügt und sangen die schönsten Lieder, während nur ein paar Meter entfernt ein Hase im weichen Moos saß und sich mit den Pfoten seine Ohren putzte. Das kleine Mädchen kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Sie blickte sich um. Hinter ihr konnte sie noch deutlich die Wiese erkennen und die Bank, auf welcher die Kinderfrau noch immer vor sich hin döste. Sie wusste, dass sie nicht hier sein durfte. Ihre Eltern hatten ihr schon hunderte Male gesagt, dass sie um nichts in der Welt jemals den Wald betreten durfte. Doch es war so schön kühl hier! Und es war eine völlig neue Welt, die entdeckt werden wollte. Das kleine Mädchen überlegte kurz, ob sie nicht doch wieder zurück zu ihrer Kinderfrau laufen sollte, da raschelte es plötzlich im Laub und sie sah ein Reh, das aufgeschreckt vor ihr davon lief.
„So warte doch!“, rief das kleine Mädchen und begann dem Reh nach zu laufen.
Ein paar Schritte lang konnte sie das weiße Hinterteil des Tieres noch sehen, bis es schließlich irgendwo hinter Hecken und Büschen verschwunden war. Das kleine Mädchen war enttäuscht. Es hätte so gerne mit dem Reh gespielt, also lief sie weiter und immer weiter in den Wald hinein. Einmal links herum, dann rechts herum und wieder links. Plötzlich bemerkte sie, dass es finsterer und düsterer war als noch vor einigen Augenblicken. Sie blieb stehen und sah sich um. Voller Schrecken stellte sie fest, dass sie die Wiese nicht mehr sehen konnte.
„Wo bin ich denn nur?“, fragte sie.
Egal in welche Richtung sie blickte, überall waren nur Bäume, wilde Hecken, Laub und Moos. Selbst das Singen der Vögel schien auf einmal ganz weit weg zu sein. Verzweifelt begann das Mädchen einen schmalen Pfad entlang zu laufen, von dem es glaubte, er würde sie wieder zurück nach Hause bringen. Doch sie irrte sich. Der Weg führte sie immer tiefer und tiefer in den Wald hinein. Es wurde immer düsterer und bald waren die Vögel und ihr fröhliches Zwitschern gar nicht mehr zu hören.
Das kleine Mädchen begann zu weinen und verzweifelt um Hilfe zu rufen. Es rief so laut es nur konnte. Doch niemand schien sie zu hören. Und da. Plötzlich mündete der Weg in eine kleine, schummrige Lichtung in deren Mitte eine Statue stand. Das Mädchen ging vorsichtig näher und betrachtete sie. Die Statue war aus grauem Stein und sie zeigte einen kleinen Jungen, der nicht viel älter war, als sie selbst. Fasziniert blickte ihn das Mädchen an und strich dann sanft mit den Fingern über seinen Arm während sie langsam rund herum ging.
„Wer bist du wohl? Und was hast du hier zu suchen? Und kannst du mir vielleicht sagen, wie ich wieder nach Hause komme?“
Natürlich antwortete der Junge aus Stein nicht und so begann das Mädchen zu weinen.
„So hilf mir doch.“, schluchzte sie. „Meine Eltern machen sich bestimmt schon große Sorgen und alleine finde ich den Weg nicht mehr hinaus aus diesem Wald!“
„Für wahr.“, sagte plötzlich eine sanfte Stimme hinter dem kleinen Mädchen.
Erschrocken fuhr sie herum und sah eine Frau am Rande der kleinen Lichtung stehen. Sie sah seltsam aus. Ihr Haar war feuerrot, und hing ihr in wilden Locken über die Schultern. Am Leib trug sie ein Kleid, welches aus Moos und Laub zu bestehen schien und sie hatte keine Schuhe an.
„Wer bist du?“, fragte das kleine Mädchen entsetzt und drückte sich ängstlich an die Statue heran, so als könne ihr das Knäblein aus Stein Schutz bieten.
„Die Frage ist doch wohl eher, wer du bist, meine Kleine.“, antwortete die Frau und trat näher an sie heran.
Das Mädchen sagte nichts und drückte sich noch ein wenig fester an die Statue heran und so fuhr die Frau fort: „Lass mich raten: du bist die Tochter vom Grafen.“
Das kleine Mädchen blickte zu Boden und nickte stumm.
„Aha.“, meinte die Frau und lächelte. „Dann wirst du ja bestimmt wissen, wer das hier ist.“
Mit diesen Worten deutete sie auf den Jungen aus Stein. Das Mädchen blickte sie kurz an und schüttelte dann den Kopf.
Überrascht zog die Frau ihre Augenbrauen hoch. „Also haben dir deine Eltern nichts von ihm erzählt? Nun denn, dann werde ich das tun.“
Langsam ging sie um das steinerne Knäblein und das kleine Mädchen herum und begann zu erzählen: „Vor langer Zeit, als du noch nicht geboren warst, hatten der Graf und die Gräfin schon einmal ein Kind. Einen kleinen Jungen. Sie liebten ihn über alles. Doch eines Tages gaben sie nicht genügend Acht auf ihn und er lief in den Wald. Dort traf er auf eine Hexe. Sie war ein mürrisches, böses Weib und hegte großen Groll auf den Grafen und seine Gemahlin, weil man sie nicht in der Nähe des Schlosses haben wollte. Also schnappte sie den Jungen, zerrte ihn noch tiefer in den Wald hinein, bis hier her, an diese Stelle! Und hier verwandelte sie ihn dann einfach zu Stein.“
Die Frau blieb stehen und sah das kleine Mädchen an, welches sie mit großen Augen anstarrte. Dann fuhr sie fort: „Dieses steinerne Knäblein ist also dein Bruder, der für seinen Ungehorsam mit dem Leben bezahlen musste.“
Das kleine Mädchen blickte verzweifelt in das Gesicht des Jungen und da sah sie es: er weinte! Aus seinen steinernen Augen liefen Tränen! Erschrocken schrie das kleine Mädchen auf und schlug die Hände vor ihr Gesicht.
„Bitte!“, flehte sie leise. „Bitte, bitte, Hexe, tu mir nicht das gleiche an, was du meinem Bruder angetan hast!“
Da begann die Frau zu lachen. „Keine Sorge. Ich bin nicht diese böse Hexe, die deinem Bruder dies hier angetan hat. Damals, als deine Eltern ihren Sohn hier gefunden haben, haben sie nach der Hexe suchen lassen. Natürlich hat sie ihre Tat voller Hohn und Schadenfreude gestanden und als sie auch nach vielem Bitten und Betteln nicht gewillt war, den Zauber wieder rückgängig zu machen, hat der Graf befohlen, dass man sie in den Kerker wirft wo sie dann irgendwann gestorben ist. Nein mein Kind. Ich bin keine Hexe. Ich bin eine Waldnymphe und die Macht des Zauberns habe ich nie gelernt. Aber ich kenne diesen Wald besser, als jedes andere Wesen dieser Erde. Und wenn du mir versprichst, nie wieder alleine hier her zu kommen, werde ich dich zurück zu deinen Eltern bringen.“
Das kleine Mädchen nickte. „Ich verspreche es! Wirklich! Ich will zurück zu Mutter und Vater und ich werde nie wieder alleine den Wald betreten.“
Sie begann wieder zu weinen und Frau, die Waldnymphe, kam zu ihr und nahm sie bei der Hand.
„Komm – es ist nicht all zu weit. Aber gib Acht, dass du nicht hinfällst, der Boden ist sehr uneben.“
Und so führte die Waldnymphe das kleine Mädchen zurück zum Schloss ihrer Eltern. Die Kinderfrau hatte das Fehlen ihres Schützlings schon längst bemerkt und Alarm geschlagen. Und als das kleine Mädchen an der Hand der Waldnymphe zurück auf die Wiese trat, kamen ihre Eltern gefolgt von der weinenden Kinderfrau gerade aus dem Schloss gelaufen.
„Mutter! Vater!“ rief das kleine Mädchen und rannte seinen Eltern entgegen.
Die Waldnymphe blieb stehen und blickte ihr nach. Der Graf wollte zu ihr gehen und sich bedanken, dass sie seine Tochter heil zurück gebracht hatte, doch da drehte sie sich um und verschwand ,so flink wie zuvor das Reh, in der Dunkelheit des Waldes.
Viele Jahre spätere, als das Mädchen erwachsen war und nun selbst über das Schloss herrschte, schickte sie die fünf stärksten Männer im Lande in den Wald, um ihren Bruder, das steinerne Knäblein, zu holen. Sie wollte ihn bei sich haben, hier, auf dem Schloss. Doch die Männer kamen mit leeren Händen zurück. So sehr sie auch versucht hatten, die Statue vom Boden weg zu heben, es wollte ihnen einfach nicht gelingen. Es schien, als waren die steinernen Füße des Jungen tief in der Erde verwurzelt. Also ließ die Herrin des Schlosses alle Bäume rund um die Lichtung fällen, damit die Sonne täglich auf ihren Bruder aus Stein scheinen konnte. Und sie ließ Blumen zu seinen Füssen pflanzen, damit er sich an ihren bunten Farben erfreuen konnte.
Sie besuchte ihn jeden Tag, Sommer wie Winter, bei Regen wie bei Sonnenschein. Doch sie war nie alleine. Stets nahm sie jemanden zu ihrem Schutz mit sich, denn sie wusste, dass sie damals, als sie ein kleines Mädchen war, sehr viel Glück gehabt hatte. Alleine hätte sie den Weg nach Hause nie wieder gefunden. Und bis zu ihrem Tode hielt sie das Versprechen, welches sie der Waldnymphe damals gegeben hatte: niemals wieder hatte sie alleine einen Fuß in den Wald gesetzt.
©Enya Van Bran