Friedrich Dürrenmatt - Die Physiker
24.06.2020 um 21:33Und noch ein Werk, das ich vor Jahrzehnten gelesen und nun wieder hervorgekramt habe. In manchen Bereichen ist es (oder bin ich) nicht so gut gealtert, so manche Dialoge erscheinen mir doch etwas übertrieben gekünstelt, so zum Beispiel die hysterische Abschiedsrede von Möbius an seine Familie, bei der er sich mit dem "Psalm an die Weltraumfahrer" als König Salomo ausgibt. Dies dürfte aber dem Zeitgeist der 1950er Jahre mit den Träumen nach einer Weltraumeroberung geschuldet sein, die hier mit einem todbringenden Weltall konterkariert werden.
Das Stück dürfte vermutlich immer noch bekannt sein, das Setting ist die Auseinandersetzung der beiden Atommächte im Kalten Krieg, der Physiker Möbius gibt vor, verrückt zu sein, weil der sowohl die Gravitationstheorie als auch die allgemeine Feldtheorie ausgearbeitet hat, und diese Grundlagenforschungen würden der Menschheit ermöglichen, Waffen von ungeahnter Stärke zu produzieren. Er wird in ein Schweizer Luxusirrenhaus gesteckt (seine Frau zahlt) und zwei Geheimdienstler (Ost und West) folgen ihm nach. Drei Krankenschwestern werden von ihnen ermordet, weil sie entweder ihre Geheimdiensttätigkeit aufgedeckt oder sich in Möbius verliebt haben.
Am Ende sind alle drei eingesperrt, keiner kann seine Ziele durchsetzen: Die Forschungen von Möbius sind von der Anstaltsleiterin kopiert worden, die mit diesen einen Industriekomplex aufbaut, und sie sperrt die drei ein (sie können ja nicht weg, da sie gemordet haben). Die Geheimdienstler haben keine Chance gegen sie und ihren privaten Wachdienst, und Möbius will sowieso nicht mehr weg.
Was Dürrenmatt geschrieben und in seinen Thesen zum Stück am Ende formuliert hat, kommt für mich nicht mehr ganz so rüber, wie er es intendiert hat. Die drei Physiker hätten ihre Ziele wegen eines Zufalls (der Anstaltleiterin) nicht durchsetzen können (darum verbrüdern sie sich am Schluss und bleiben im Irrenhaus), lässt sich nicht mehr so lesen. Viel stärker dringt durch, dass ein individuell Handelnder wie Möbius, aber auch Geheimdienstler der mächtigsten Imperien keine Chance gegen jemanden hat, der ein Fabriksimperium aufbaut. Das Kapital obsiegt. Dies erscheint mir aus heutiger Sicht eine sehr realistische Einschätzung, die Dürrenmatt vor gut 50 Jahren zu einem kurzen Theaterstück hat gerinnen lassen.
Fazit: Mit Abstrichen immer noch sehr lesenswert.