Die halb durchsichtige Fee und ihre Wolkentiere
27.03.2020 um 21:03Fast ein Frühlingsmärchen. Oder eine Frühlingsliebe?
Seit einigen Jahren arbeite ich in einer psychiatrischen Einrichtung. Ich bin nicht als Therapeut tätig, auch nicht als Verwaltungskraft, sondern so eine Art Kneipenwirt ohne Zapfhahn oder Telefonseelsorger ohne Telefon. Ich arbeite in einem niedrigschwelligen Projekt, einer Art Café für Menschen mit psychischen Problemen, die entweder die Tagesklinik aufsuchen oder auch stationär untergebracht sind. Den ganzen Tag habe ich eigentlich mit Menschen zu tun, denen das Schild „Irre“ auf die Stirn geklebt wurde. Dabei begegnen mir immer wieder Menschen, die ich nicht „irrer“ finde als mich, meine reale Umwelt oder meine LeserInnen.
Hier ist eine Geschichte aus dem ersten Jahr. Sie entspricht der Realität. Nur am Schluss habe ich mir die dichterische Freiheit genommen, ein wenig ins Phantastische abzugleiten, weil es irgendwie zur Story passt.
Hier ist die Geschichte:
Seit einem Monat mache ich diesen Job hier nun schon. Hinterm Tresen stehen, Kaffee, Tee, Kaltgetränke ausschenken und auch Kuchen bzw. belegte Brötchen servieren. Ja, schön hier. Jedenfalls, wenn man hier arbeitet und nicht Klient/Patient ist. Dann ist es offenbar weniger schön. Es liegt an mir, das zu ändern.
Schon in den ersten Tagen gab es Konflikte mit Vorgesetzten. Ich komme aus der, wie es so schön heißt, „freien Wirtschaft“. Für mich ist der Mensch, der zu mir kommt, zunächst einmal Kunde. Nicht Patient. Patienten gibt’s beim Arzt. Ich bin keiner. Ich schenke Kaffee aus. Ich höre zu. Ich will und muss nichts und niemanden „behandeln“. Das mögen andere machen. Ich schenke Tee ein. Ich will auch keinen ändern. Dafür werde ich nicht bezahlt. Ich höre zu und schneide Kuchen zu.
Offenbar gefällt meine hoffentlich weitestgehend vorurteilsfreie Herangehensweise nicht jedem Kollegen, nicht jeder Kollegin, die sich meiner Meinung nach von meinen Gästen nur dadurch unterscheiden, dass sie ein Namensschild auf der Brust tragen. Aber bitte: Ich bin nicht auf der Welt, um mir Freunde zu machen.
Draußen ist der Frühling ausgebrochen. Ich öffne die Tür zum Innenhof. „Patio“ wie der Euphemismus dafür heißt. Nicht zu verwechseln mit Pathologie. Im Patio sitzen die Raucher und Raucherinnen, in der Pathologie liegen die Raucher und Raucherinnen nach der allerletzten Zigarette. Weil draußen gerade niemand raucht, kann ich sogar den Geruch des Frühlings reinlassen. Heute ist offenbar nichts los. Draußen ist es schön, da will keiner drinnen hocken. Nicht mal ich. Ich muss. Ich werde dafür bezahlt. So gucke ich raus und träume so vor mich hin.
War da eine Stimme? Ich höre Stimmen, ohne jemanden zu sehen? So fängt's an, würde meine Frau sagen. Nein, da steht tatsächlich jemand vor meinem Tresen. Zu diesem Menschen gehört eine Stimme. Eine dünne, leise Kinderstimme. „Kann ich 'n Pott Kaffee haben?“ Ich blicke auf die Person, zu der dieses Stimmchen zu gehören scheint. Da steht eine Frau, oder besser ein Mädchen: Klein, erschreckend dünn, mit fast durchsichtiger weißer Haut, wie ich sie noch nie gesehen habe. Im Kontrast dazu schwarz gefärbte Haare, die am Kopf schon zwei Finger breit das ursprüngliche Strassenköter-Blond zeigen. Zwei unglaublich große wasserblaue Augen sehen mich fragend an, eine erschreckend kleine und dünne Hand schiebt mir ein 50-Cent-Stück hin. „Magersucht, verdammt böse Form von Magersucht!“ sagt mein Verstand. „Eine Elfe? Eine halb durchsichtige Elfe will einen Kaffee von mir?“ sagt die andere Hirnhälfte.
Ich bemühe mich, ihr den Pott Kaffee 'rüberzuschieben, ohne sie zu sehr anzustarren. Ihre Kleidung wirkt aus der Zeit gefallen. So sahen Hippie-Mädchen in den frühen Siebzigern aus, aber wer läuft heute noch in indischem Flatterrock und besticktem T-Shirt herum. „Zeitmaschine“ meint meine falsche Hirnhälfte.
Die Elfe mit dem Kaffeepott bewegt sich Richtung Innenhof. Es hätte mich nicht gewundert, wenn sie geschwebt wäre, so leicht sieht sie aus. Draußen setzt sie sich auf die Raucherbank. Die steht schief, weil sich die dicke Inge immer auf das eine Ende setzt, wenn sie qualmt. Dadurch hat sich das andere Ende der Bank schon ein Stück aus dem groben Kies in die Luft gehoben. Die Elfe nimmt auf dem hoch stehenden Ende Platz. Die Bank senkt sich keinen Millimeter. „Wie macht die das?“ fragt der Verstand. „Elfen wiegen nichts!“ konstatiert die andere Hirnhälfte.
Der Himmel bewölkt sich zusehends. Der NDR sagte für den Nachmittag Regen an. Die Elfe legt ihren Kopf in den Nacken und blickt unbewegt nach oben. Was guckt die da? Da ist doch nichts.
Nach gut einer Stunde sitzt sie immer noch auf der schwebenden Bank, sitzt unbeweglich da in ihren bunten Zeitreise-Klamotten und starrt in den Himmel. Immerhin hat sie Kaffee getrunken. Und sich Zigaretten gedreht. Und geraucht. Und dem Rauch nachgeblickt. Und noch weiter nach oben geguckt, als der Rauch schon längst verweht war. Was guckt die da? Was sieht sie da?
Mein Laden ist ohnehin leer. Da kann ich auch rausgehen und meine Neugier befriedigen. Außerdem kann ich von da draußen ja sehen, ob wer kommt und was von mir will. Wenn es jemand ist, der in der Betriebshierarchie über mir steht – und das tun außer dem Reinigungspersonal alle, könnte ich immer noch so tun, als würde ich die Bank 'runter drücken wollen.
Das Knirschen meiner Schritte auf dem Kies kommt mir unnatürlich laut vor. Ich frage höflich, ob ich mich setzen darf. Keine Reaktion. So lasse mich auf das Inge-Ende der Bank fallen, die gleich noch etwas tiefer im Boden versinkt. Die Elfe hat ihren Blick noch starr in den wolkigen Himmel gerichtet. Unter dem Einfluss meines Gewichtes und der zunehmenden Schräglage der Bank rutscht die Elfe gegen mich. „Entschuldigung“ flüstert die Kinderstimme. „Meine Schuld, ich bin offenbar zu schwer.“ antworte ich. Sie schweigt und blickt wieder nach oben. Ob ich sie frage, was sie da sieht? Oder besser nicht, weil ich sie nicht stören will und ich auch niemandem ein Gespräch aufzwingen will. Also sitzen wir beide da, schweigen und sehen in den Himmel. Gut, da sind Wolken. Hat der Wetterbericht ja auch angekündigt. Was gibt es an Wolken schon groß zu sehen, wenn man nicht gerade Meteorologe ist. Warum soll man die stundenlang anstarren? Wir starren und schweigen, schweigen und starren. Sie dreht sich mit ihren langen, schlanken Fingern eine Zigarette nach der anderen, ohne dabei den Blick vom Himmel zu wenden. „Entschuldigung, könnte ich vielleicht auch eine Zigarette bekommen? Heute wäre ein guter Tag, wieder mit dem Rauchen anzufangen.“ Sie dreht flink eine, reicht sie mir nebst Feuerzeug wortlos rüber, guckt mich nicht mal dabei an. Ich rauche und bereue es augenblicklich. Schwarzer Krauser, ohne Filter. Aber wenn ich jetzt huste, erschrecke ich sie vielleicht. Drinnen auftauchende Kundschaft rettet mich. Otto, der Labersack und sein Kumpel, der hin und wieder einfach laut aufschreit. Ich bin abgelenkt. Als ich endlich wieder in den Patio sehen kann, ist das Mädchen weg. Schade.
Nächster Tag. Ich warte auf die Elfe. Sie kommt tatsächlich. Selbes Outfit wie gestern. Vielleicht hat sie nichts anderes? Kaffeepott, raus, Bank, Kopf in den Nacken, Himmel anstarren. Ich nehme meinen Mut zusammen, setze mich wieder neben sie und frage leise, um sie nicht zu erschrecken: „Was siehst Du da eigentlich?“ „Wolkentiere.“ Okay, Wolkentiere also. Ich sehe nur Wolken ohne Tiere. Aber vielleicht bin ich ja blind. Oder es fehlt irgendwas in meinem Kopf. Gerade will ich sie fragen, was sie für Tiere sieht, da sagt sie, ohne den Blick von den Wolkenformationen zu wenden. „Du kannst so schön schweigen.“ Hat mir ja noch nie jemand gesagt. Aber heute will ich nicht schweigen, heute will ich was wissen. „Ich heiße Anders. Ich kann außer schweigen auch zuhören.“
„Katrin. Ich mag Menschen, die schweigen können. Und zuhören.“ „Erzähl' mir, was Du da siehst. Du hast die Augen für Wolkentiere. Ich nicht. Ich kann das nicht.“ „Aber Du kannst es bestimmt lernen. Wer schweigen kann und zuhören, der kann auch lernen und Wolkentiere sehen.“
„Was siehst Du, Katrin?“ „Da ist ein Elefant. Ein großer Elefant.“ „Ich finde, das sieht aus wie eine dicke, zusammengerollte Katze.“ „Du guckst nicht richtig. Du musst von hier gucken.“ Sie zieht mich zu sich, damit wir die selbe Blickrichtung haben. Na gut, ein Elefant, keine dicke Katze. Oder ein Elefant, der wie eine Katze aussieht. Oder irgendwie umgekehrt. Wolken halt. „Da, da kommt Deine Katze!“ sagt sie mit aufgeregter Kinderstimme und zieht sich näher an sich. „Wenn Du Dir eine Katze vorstellst, kommt eine Katze. Ich stelle mir meistens Elefanten vor.“ „Du magst Elefanten?“ „Elefanten. Ja. Die sind so groß und stark und klug. Die können sich alles merken. Ich vergesse immer alles, weil ich es vergessen will. Als Kind war ich mit meinem Papa mal im Zoo in Hamburg. Da hat ein Elefant mir mit dem Rüssel einen Spaghetti aus der Hand genommen. So groß und so sanft. Ob der mich wohl nicht vergisst. Ich hab' den nämlich nie vergessen. Sonst vergesse ich immer alles.“ Es sprudelt förmlich aus ihr heraus. „Ich bin nämlich irre, weißt Du. Ich bin die Bekloppte. Die mit den Drogen. Die, mit der alle alles machen können. Ich bin verrückt!“ Die Kinderstimme überschlägt sich fast. „Du bist der erste Mensch, mit dem ich Wolkentiere gucken kann. Du bist der erste Mensch, der sagt, dass er was von mir lernen will. Du sagst, dass Du etwas nicht kannst. Sonst können alle immer alles. Bloß ich nicht. Ich bin ja irre. Ich kann nix. Zeug reinballern und Wolken gucken. Tiere sehen. Tiere sehen, weil mir Menschen Angst machen. Die machen mir alle Angst. Du aber nicht. Du kannst zuhören und wenn Du willst, sogar Tiere in die Wolken machen. Das kann sonst niemand. Du bist etwas Besonderes.“
Sie hält meine Hand zwischen ihren schmalen, weißen, kalten Fingern. Ich versuche, sie zu wärmen. Wir schweigen wieder und gucken Wolkentiere. Ich Katzen, sie Elefanten. Händchenhalten im Frühling. Dann eine schrille Stimme: „Herr J., kommen Sie bitte mal eben!“ Wenn's gerade nicht passt, erscheint meine Chefin. Ich nenne sie „die Aufseherin“. Brav trabe ich an. „Ihr Platz ist hier hinter dem Tresen. Und sie wissen ganz genau, dass sie Klienten nicht berühren dürfen. Nur in Notfällen. Sie kennen die Regeln. Sie haben sie unterschrieben. Was machen Sie eigentlich da draußen mit der Fixerin. Sie sollten eine professionelle Distanz wahren. Was haben Sie da draußen gemacht?“ Als sie Luft holt und bevor sie zu einem neue Wortschwall ansetzt, antworte ich ruhig: „Ich habe sehen gelernt. Tiere sehen. Wolkentiere. Das können Sie bestimmt nicht.“ „Ihre Probezeit beträgt sechs Monate. Das wissen sie hoffentlich! Ich habe sie im Auge. Wolkentiere? So ein Blödsinn!“ Abgang Aufseherin.
Die Elfe ist natürlich schon wieder fortgeflogen. Zu den Wolkentieren. Auf einem Elefanten fortgeritten. Einem, der aussieht wie eine dicke Katze.
Am nächsten Tag kommt mein nerviger Kollege Ole an den Tresen. Trotz seines skandinavischen Namens ist er Berliner. Ost-Berliner. „Aus der Hauptstadt der DDR, wa? WA?“ Nicht allein sein ausgeprägtes Berlinern geht mir auf den Keks, sondern auch noch die Angewohnheit, hinter jedem „Wa“ am Satzende noch ein „WA“ anzuhängen, als sei man schwerhörig oder schwer von Begriff. Ole war schon in der DDR als Pfleger tätig. Er entspricht dem Klischee des „Irrenwärters“, der kräftig zupackend den Patienten in der Zwangsjacke verschnürt. „Nu aba mal nüscht als Ruhe hia, wa? WA??“ Sein geistiger Horizont wird von Fußball, Motorrädern, Dosenbier und „Weiba, wa? WA??“ begrenzt. Ich mag ihn nicht. „Na, hat die Katrin dia schon een geblasen, wa? WA?? Det macht die nämlich, wa? WA?? Füa 'n Fünfa, wa? WA?? Die braucht die Kohle füan nächsten Druck, wa? WA?? So billich krissas nie wieda, wa? WA??“
„Ole, sach ma, kommssu eigentlich ann Bahnhof vörbie? Jo? Denn tu mir ein Gefalln. Schmeiss Dich vorn Zuch. Un nu verpiss Dich, Macker. Lass n Loch inne Gegend!“ Stets kontere ich sein nerviges Berliner Gewae mit breitem Hamburger Missingsch. Das kann er nämlich nicht ab. Ich denke noch darüber nach, ob ich der Aufseherin was verraten soll von wegen „Professionelle Distanz.“ Aber das verkneife ich mir dann doch. Außerdem hat die Aufseherin diese Woche eine Fortbildung und ich bin ein freier Mensch.
Die Elfe schwebt vorbei, nimmt ihren Kaffeepott und geht raus auf die Bank, die ich immer noch nicht wieder ausgerichtet habe. Weil ich es nicht will. Weil ich will, dass die Elfe gegen mich rutscht, wenn wir Wolkentiere beobachten. Scheiß auf professionelle Distanz. Ich bin nicht Ole. Das scheint sie ja offenbar zu wissen.
Inzwischen sind wir routinierte Wolkentier-Beobachter. Wir können sogar welche herbei zaubern. Einfach an ein Tier denken und dann erscheint es in den Wolken. Katrin kann das. Sie hat mir gezeigt, wie das funktioniert. Inzwischen sehe ich nicht nur dicke, schlafende Katzen. Ich sehe einen ganzen Zoo, sogar Tiere, die es nicht mehr oder noch nicht gibt. Wir zeigen uns, was wir sehen, bis der jeweils andere das Tier auch sieht. Das ist schön. Im Frühling neben einer Elfe sitzen, Wolkentiere erschaffen und beobachten, Selbstgedrehte rauchen und nur gelegentlich von nervigen Kaffee-Kunden gestört werden. Eigentlich reden wir meist über die Tiere da oben. Selten mal etwas anderes.
Katrin fragt mich „Hast Du Kinder?“ „Ja, drei, aber alle schon erwachsen, jedenfalls fast.“
„Mögen Dich Deine Kinder?“ „Ja, ich denke schon. Ich hoffe es wenigstens.“ „Ich habe meinen Papa auch gemocht. Nun ist er schon lange weg. Ich erinnere mich nur an den Zoo.“ „Wie weg? Haben sich Deine Eltern scheiden lassen?“ „Papa ist tot. Schon lange. Ich weiß, dass er da oben in den Wolken ist. Ich sehe ihn nur nie. Immer nur Elefanten.“ „Das ist traurig, wirklich, Katrin.“ Ich überlege noch, wie ich sie trösten soll. „Willst Du mein Papa sein?“ Ich bin sprachlos und überrascht. Da sieht sie mir ins Gesicht, ihre wasserfarbenen Augen verdunkeln sich und ihre Stimme ändert sich. „Willst Du mich ficken? Ich hab ganz kleine Titten mit langen harten Nippeln. Und ein ganz enges Arschloch. Willst Du?“ Sie zieht tatsächlich ihr Shirt hoch. Oh, Mann, wenn jetzt die Aufseherin käme. Ist das schon Unzucht mit Abhängigen. Bin ich Jurist? Mann, ich will ja gar nicht.
„Nein, Katrin, ich will nicht. Ich will auch nicht, dass Du mich das fragst. Nie wieder! NEIN!“ Meine Stimme bekommt diesen Befehlston. „Aber alle Männer wollen das. Bist Du jetzt sauer? Magst Du mich nicht mehr, weil ich das tue? Ich brauche das Geld.“ Ich verstoße gegen den nächsten Kodex. Ist doch eh schon egal. Ich gebe ihr zwanzig Euro, die ich gerade in der Hosentasche finde. Gib einem Junkie niemals Geld, sagt die Verstandeshälfte in meinem Kopf. „Ich weiß, dass es falsch ist. Ich weiß, dass ich das nicht tun soll. Ich gebe Dir das Geld, damit ich Dich nicht ficken muss. Nimm es als Schulgeld. Ich bezahle Dich dafür, dass Du mich lehrst, wie man Wolkentiere guckt und erschafft. Nimm es und frag mich nie wieder.“ Schweigend nickt sie und steckt das Geld rasch in eine Rocktasche. „Ich muss weg. Du bist wirklich nicht sauer auf mich, weil ich Dich gefragt habe. Mit dem Ficken und so. Wirklich nicht sauer? Auch nicht wegen dem Papa-Sein? Sehen wir uns morgen wieder? Wolkentiere gucken?“ „Klar. Morgen gucken wir wieder. Egal, was passiert.“
Und egal was passiert. Es passiert. Abends. Holz hacken. Axtklinge vom Stiel. Rechter Fuß unter Axtklinge. Stiefel durch. Viel Blut. 112. Tatü Tata! Zehen noch dran. Aber zwei gebrochen und Platzwunde. Sie bleiben zuhause und legen die Beine hoch. Zwei Wochen Minimum. Feierabend. Egal, was passiert. Es passiert.
Nach zwei Wochen wieder im Einsatz. Übergabe mit Kollegin Ute, die mich tapfer vertreten hat. „Und, was passiert? Was machen unsere Irren so.“ „Deine Wolkenguckerin war hier. Aber Du warst nicht da. Hab ihr gesagt, dass Du so schnell nicht wieder kommst. Da hat sie mich ganz irre angestarrt und ist dann gleich wieder weg. Gerannt. Die kam auch nicht wieder. Gestern sagte Ole, dass sie sie aus dem Hafen gezogen hätten. Ist wohl im Tran da reingefallen und ersoffen. Junkies eben. Geht es Dir nicht gut, Anders? Hattest Du irgendwas mit der? Gibt da so Gerüchte im Haus. Ole hat da was erzählt.“ „Ute, ich glaube, mir tut mein Fuß doch noch so weh, dass ich nicht arbeiten kann. Ich muss noch mal zu meinem Doc. Bin schon weg. Und sag Ole, sobald mein Fuß wieder ganz ist, trete ich ihm in den Arsch. Richte ihm das bitte unbedingt aus!“
Ich humpele übertrieben zu meinem Auto und werfe einen Blick in den wolkenlosen blauen Frühlings-, inzwischen schon fast Frühsommer-Himmel. Keine Wolke da. Doch, halt. Eine. Eine ganz dünne, schmale, durchsichtige treibt der Ostwind vom Hafen her. Na ja. Wolken halt. Sind was für Meteorologen. Ich öffne das Schiebedach, lasse den Sonnenschein rein, fahre nach Hause und habe ein komisches Gefühl. Dieses Gefühl, beobachtet zu werden. Ich fahre rechts ran. Blicke durch das Schiebedach und dann ist da diese Wolke. Diese dünne, fast durchsichtige weiße Wolke. Können einem Wolken folgen? Wenn kein Wind weht? Diese Wolke kann das. Eine Fee schwebt über den Himmel. Eine fast durchsichtige Fee auf dem Weg zu ihren Wolkentieren. Winkt die mir zu? Meine Verstandes-Hirnhälfte meldet sich energisch zu Wort. Wie sagt meine Frau? „Bei all den Bekloppten um Dich herum musst Du aufpassen, dass Du nicht selber verrückt wirst. Sonst behalten sie Dich noch da.“ Ich schließe das Dach. Schluss mit Wolken. Ich will jetzt Musik. Irgendwas lautes, sehr lautes. Hey, scheint ja sogar noch eine CD drin zu sein. Leonard Cohen? Suzanne? Das ist doch keine CD von mir! Wo kommt die her?
Seit einigen Jahren arbeite ich in einer psychiatrischen Einrichtung. Ich bin nicht als Therapeut tätig, auch nicht als Verwaltungskraft, sondern so eine Art Kneipenwirt ohne Zapfhahn oder Telefonseelsorger ohne Telefon. Ich arbeite in einem niedrigschwelligen Projekt, einer Art Café für Menschen mit psychischen Problemen, die entweder die Tagesklinik aufsuchen oder auch stationär untergebracht sind. Den ganzen Tag habe ich eigentlich mit Menschen zu tun, denen das Schild „Irre“ auf die Stirn geklebt wurde. Dabei begegnen mir immer wieder Menschen, die ich nicht „irrer“ finde als mich, meine reale Umwelt oder meine LeserInnen.
Hier ist eine Geschichte aus dem ersten Jahr. Sie entspricht der Realität. Nur am Schluss habe ich mir die dichterische Freiheit genommen, ein wenig ins Phantastische abzugleiten, weil es irgendwie zur Story passt.
Hier ist die Geschichte:
Seit einem Monat mache ich diesen Job hier nun schon. Hinterm Tresen stehen, Kaffee, Tee, Kaltgetränke ausschenken und auch Kuchen bzw. belegte Brötchen servieren. Ja, schön hier. Jedenfalls, wenn man hier arbeitet und nicht Klient/Patient ist. Dann ist es offenbar weniger schön. Es liegt an mir, das zu ändern.
Schon in den ersten Tagen gab es Konflikte mit Vorgesetzten. Ich komme aus der, wie es so schön heißt, „freien Wirtschaft“. Für mich ist der Mensch, der zu mir kommt, zunächst einmal Kunde. Nicht Patient. Patienten gibt’s beim Arzt. Ich bin keiner. Ich schenke Kaffee aus. Ich höre zu. Ich will und muss nichts und niemanden „behandeln“. Das mögen andere machen. Ich schenke Tee ein. Ich will auch keinen ändern. Dafür werde ich nicht bezahlt. Ich höre zu und schneide Kuchen zu.
Offenbar gefällt meine hoffentlich weitestgehend vorurteilsfreie Herangehensweise nicht jedem Kollegen, nicht jeder Kollegin, die sich meiner Meinung nach von meinen Gästen nur dadurch unterscheiden, dass sie ein Namensschild auf der Brust tragen. Aber bitte: Ich bin nicht auf der Welt, um mir Freunde zu machen.
Draußen ist der Frühling ausgebrochen. Ich öffne die Tür zum Innenhof. „Patio“ wie der Euphemismus dafür heißt. Nicht zu verwechseln mit Pathologie. Im Patio sitzen die Raucher und Raucherinnen, in der Pathologie liegen die Raucher und Raucherinnen nach der allerletzten Zigarette. Weil draußen gerade niemand raucht, kann ich sogar den Geruch des Frühlings reinlassen. Heute ist offenbar nichts los. Draußen ist es schön, da will keiner drinnen hocken. Nicht mal ich. Ich muss. Ich werde dafür bezahlt. So gucke ich raus und träume so vor mich hin.
War da eine Stimme? Ich höre Stimmen, ohne jemanden zu sehen? So fängt's an, würde meine Frau sagen. Nein, da steht tatsächlich jemand vor meinem Tresen. Zu diesem Menschen gehört eine Stimme. Eine dünne, leise Kinderstimme. „Kann ich 'n Pott Kaffee haben?“ Ich blicke auf die Person, zu der dieses Stimmchen zu gehören scheint. Da steht eine Frau, oder besser ein Mädchen: Klein, erschreckend dünn, mit fast durchsichtiger weißer Haut, wie ich sie noch nie gesehen habe. Im Kontrast dazu schwarz gefärbte Haare, die am Kopf schon zwei Finger breit das ursprüngliche Strassenköter-Blond zeigen. Zwei unglaublich große wasserblaue Augen sehen mich fragend an, eine erschreckend kleine und dünne Hand schiebt mir ein 50-Cent-Stück hin. „Magersucht, verdammt böse Form von Magersucht!“ sagt mein Verstand. „Eine Elfe? Eine halb durchsichtige Elfe will einen Kaffee von mir?“ sagt die andere Hirnhälfte.
Ich bemühe mich, ihr den Pott Kaffee 'rüberzuschieben, ohne sie zu sehr anzustarren. Ihre Kleidung wirkt aus der Zeit gefallen. So sahen Hippie-Mädchen in den frühen Siebzigern aus, aber wer läuft heute noch in indischem Flatterrock und besticktem T-Shirt herum. „Zeitmaschine“ meint meine falsche Hirnhälfte.
Die Elfe mit dem Kaffeepott bewegt sich Richtung Innenhof. Es hätte mich nicht gewundert, wenn sie geschwebt wäre, so leicht sieht sie aus. Draußen setzt sie sich auf die Raucherbank. Die steht schief, weil sich die dicke Inge immer auf das eine Ende setzt, wenn sie qualmt. Dadurch hat sich das andere Ende der Bank schon ein Stück aus dem groben Kies in die Luft gehoben. Die Elfe nimmt auf dem hoch stehenden Ende Platz. Die Bank senkt sich keinen Millimeter. „Wie macht die das?“ fragt der Verstand. „Elfen wiegen nichts!“ konstatiert die andere Hirnhälfte.
Der Himmel bewölkt sich zusehends. Der NDR sagte für den Nachmittag Regen an. Die Elfe legt ihren Kopf in den Nacken und blickt unbewegt nach oben. Was guckt die da? Da ist doch nichts.
Nach gut einer Stunde sitzt sie immer noch auf der schwebenden Bank, sitzt unbeweglich da in ihren bunten Zeitreise-Klamotten und starrt in den Himmel. Immerhin hat sie Kaffee getrunken. Und sich Zigaretten gedreht. Und geraucht. Und dem Rauch nachgeblickt. Und noch weiter nach oben geguckt, als der Rauch schon längst verweht war. Was guckt die da? Was sieht sie da?
Mein Laden ist ohnehin leer. Da kann ich auch rausgehen und meine Neugier befriedigen. Außerdem kann ich von da draußen ja sehen, ob wer kommt und was von mir will. Wenn es jemand ist, der in der Betriebshierarchie über mir steht – und das tun außer dem Reinigungspersonal alle, könnte ich immer noch so tun, als würde ich die Bank 'runter drücken wollen.
Das Knirschen meiner Schritte auf dem Kies kommt mir unnatürlich laut vor. Ich frage höflich, ob ich mich setzen darf. Keine Reaktion. So lasse mich auf das Inge-Ende der Bank fallen, die gleich noch etwas tiefer im Boden versinkt. Die Elfe hat ihren Blick noch starr in den wolkigen Himmel gerichtet. Unter dem Einfluss meines Gewichtes und der zunehmenden Schräglage der Bank rutscht die Elfe gegen mich. „Entschuldigung“ flüstert die Kinderstimme. „Meine Schuld, ich bin offenbar zu schwer.“ antworte ich. Sie schweigt und blickt wieder nach oben. Ob ich sie frage, was sie da sieht? Oder besser nicht, weil ich sie nicht stören will und ich auch niemandem ein Gespräch aufzwingen will. Also sitzen wir beide da, schweigen und sehen in den Himmel. Gut, da sind Wolken. Hat der Wetterbericht ja auch angekündigt. Was gibt es an Wolken schon groß zu sehen, wenn man nicht gerade Meteorologe ist. Warum soll man die stundenlang anstarren? Wir starren und schweigen, schweigen und starren. Sie dreht sich mit ihren langen, schlanken Fingern eine Zigarette nach der anderen, ohne dabei den Blick vom Himmel zu wenden. „Entschuldigung, könnte ich vielleicht auch eine Zigarette bekommen? Heute wäre ein guter Tag, wieder mit dem Rauchen anzufangen.“ Sie dreht flink eine, reicht sie mir nebst Feuerzeug wortlos rüber, guckt mich nicht mal dabei an. Ich rauche und bereue es augenblicklich. Schwarzer Krauser, ohne Filter. Aber wenn ich jetzt huste, erschrecke ich sie vielleicht. Drinnen auftauchende Kundschaft rettet mich. Otto, der Labersack und sein Kumpel, der hin und wieder einfach laut aufschreit. Ich bin abgelenkt. Als ich endlich wieder in den Patio sehen kann, ist das Mädchen weg. Schade.
Nächster Tag. Ich warte auf die Elfe. Sie kommt tatsächlich. Selbes Outfit wie gestern. Vielleicht hat sie nichts anderes? Kaffeepott, raus, Bank, Kopf in den Nacken, Himmel anstarren. Ich nehme meinen Mut zusammen, setze mich wieder neben sie und frage leise, um sie nicht zu erschrecken: „Was siehst Du da eigentlich?“ „Wolkentiere.“ Okay, Wolkentiere also. Ich sehe nur Wolken ohne Tiere. Aber vielleicht bin ich ja blind. Oder es fehlt irgendwas in meinem Kopf. Gerade will ich sie fragen, was sie für Tiere sieht, da sagt sie, ohne den Blick von den Wolkenformationen zu wenden. „Du kannst so schön schweigen.“ Hat mir ja noch nie jemand gesagt. Aber heute will ich nicht schweigen, heute will ich was wissen. „Ich heiße Anders. Ich kann außer schweigen auch zuhören.“
„Katrin. Ich mag Menschen, die schweigen können. Und zuhören.“ „Erzähl' mir, was Du da siehst. Du hast die Augen für Wolkentiere. Ich nicht. Ich kann das nicht.“ „Aber Du kannst es bestimmt lernen. Wer schweigen kann und zuhören, der kann auch lernen und Wolkentiere sehen.“
„Was siehst Du, Katrin?“ „Da ist ein Elefant. Ein großer Elefant.“ „Ich finde, das sieht aus wie eine dicke, zusammengerollte Katze.“ „Du guckst nicht richtig. Du musst von hier gucken.“ Sie zieht mich zu sich, damit wir die selbe Blickrichtung haben. Na gut, ein Elefant, keine dicke Katze. Oder ein Elefant, der wie eine Katze aussieht. Oder irgendwie umgekehrt. Wolken halt. „Da, da kommt Deine Katze!“ sagt sie mit aufgeregter Kinderstimme und zieht sich näher an sich. „Wenn Du Dir eine Katze vorstellst, kommt eine Katze. Ich stelle mir meistens Elefanten vor.“ „Du magst Elefanten?“ „Elefanten. Ja. Die sind so groß und stark und klug. Die können sich alles merken. Ich vergesse immer alles, weil ich es vergessen will. Als Kind war ich mit meinem Papa mal im Zoo in Hamburg. Da hat ein Elefant mir mit dem Rüssel einen Spaghetti aus der Hand genommen. So groß und so sanft. Ob der mich wohl nicht vergisst. Ich hab' den nämlich nie vergessen. Sonst vergesse ich immer alles.“ Es sprudelt förmlich aus ihr heraus. „Ich bin nämlich irre, weißt Du. Ich bin die Bekloppte. Die mit den Drogen. Die, mit der alle alles machen können. Ich bin verrückt!“ Die Kinderstimme überschlägt sich fast. „Du bist der erste Mensch, mit dem ich Wolkentiere gucken kann. Du bist der erste Mensch, der sagt, dass er was von mir lernen will. Du sagst, dass Du etwas nicht kannst. Sonst können alle immer alles. Bloß ich nicht. Ich bin ja irre. Ich kann nix. Zeug reinballern und Wolken gucken. Tiere sehen. Tiere sehen, weil mir Menschen Angst machen. Die machen mir alle Angst. Du aber nicht. Du kannst zuhören und wenn Du willst, sogar Tiere in die Wolken machen. Das kann sonst niemand. Du bist etwas Besonderes.“
Sie hält meine Hand zwischen ihren schmalen, weißen, kalten Fingern. Ich versuche, sie zu wärmen. Wir schweigen wieder und gucken Wolkentiere. Ich Katzen, sie Elefanten. Händchenhalten im Frühling. Dann eine schrille Stimme: „Herr J., kommen Sie bitte mal eben!“ Wenn's gerade nicht passt, erscheint meine Chefin. Ich nenne sie „die Aufseherin“. Brav trabe ich an. „Ihr Platz ist hier hinter dem Tresen. Und sie wissen ganz genau, dass sie Klienten nicht berühren dürfen. Nur in Notfällen. Sie kennen die Regeln. Sie haben sie unterschrieben. Was machen Sie eigentlich da draußen mit der Fixerin. Sie sollten eine professionelle Distanz wahren. Was haben Sie da draußen gemacht?“ Als sie Luft holt und bevor sie zu einem neue Wortschwall ansetzt, antworte ich ruhig: „Ich habe sehen gelernt. Tiere sehen. Wolkentiere. Das können Sie bestimmt nicht.“ „Ihre Probezeit beträgt sechs Monate. Das wissen sie hoffentlich! Ich habe sie im Auge. Wolkentiere? So ein Blödsinn!“ Abgang Aufseherin.
Die Elfe ist natürlich schon wieder fortgeflogen. Zu den Wolkentieren. Auf einem Elefanten fortgeritten. Einem, der aussieht wie eine dicke Katze.
Am nächsten Tag kommt mein nerviger Kollege Ole an den Tresen. Trotz seines skandinavischen Namens ist er Berliner. Ost-Berliner. „Aus der Hauptstadt der DDR, wa? WA?“ Nicht allein sein ausgeprägtes Berlinern geht mir auf den Keks, sondern auch noch die Angewohnheit, hinter jedem „Wa“ am Satzende noch ein „WA“ anzuhängen, als sei man schwerhörig oder schwer von Begriff. Ole war schon in der DDR als Pfleger tätig. Er entspricht dem Klischee des „Irrenwärters“, der kräftig zupackend den Patienten in der Zwangsjacke verschnürt. „Nu aba mal nüscht als Ruhe hia, wa? WA??“ Sein geistiger Horizont wird von Fußball, Motorrädern, Dosenbier und „Weiba, wa? WA??“ begrenzt. Ich mag ihn nicht. „Na, hat die Katrin dia schon een geblasen, wa? WA?? Det macht die nämlich, wa? WA?? Füa 'n Fünfa, wa? WA?? Die braucht die Kohle füan nächsten Druck, wa? WA?? So billich krissas nie wieda, wa? WA??“
„Ole, sach ma, kommssu eigentlich ann Bahnhof vörbie? Jo? Denn tu mir ein Gefalln. Schmeiss Dich vorn Zuch. Un nu verpiss Dich, Macker. Lass n Loch inne Gegend!“ Stets kontere ich sein nerviges Berliner Gewae mit breitem Hamburger Missingsch. Das kann er nämlich nicht ab. Ich denke noch darüber nach, ob ich der Aufseherin was verraten soll von wegen „Professionelle Distanz.“ Aber das verkneife ich mir dann doch. Außerdem hat die Aufseherin diese Woche eine Fortbildung und ich bin ein freier Mensch.
Die Elfe schwebt vorbei, nimmt ihren Kaffeepott und geht raus auf die Bank, die ich immer noch nicht wieder ausgerichtet habe. Weil ich es nicht will. Weil ich will, dass die Elfe gegen mich rutscht, wenn wir Wolkentiere beobachten. Scheiß auf professionelle Distanz. Ich bin nicht Ole. Das scheint sie ja offenbar zu wissen.
Inzwischen sind wir routinierte Wolkentier-Beobachter. Wir können sogar welche herbei zaubern. Einfach an ein Tier denken und dann erscheint es in den Wolken. Katrin kann das. Sie hat mir gezeigt, wie das funktioniert. Inzwischen sehe ich nicht nur dicke, schlafende Katzen. Ich sehe einen ganzen Zoo, sogar Tiere, die es nicht mehr oder noch nicht gibt. Wir zeigen uns, was wir sehen, bis der jeweils andere das Tier auch sieht. Das ist schön. Im Frühling neben einer Elfe sitzen, Wolkentiere erschaffen und beobachten, Selbstgedrehte rauchen und nur gelegentlich von nervigen Kaffee-Kunden gestört werden. Eigentlich reden wir meist über die Tiere da oben. Selten mal etwas anderes.
Katrin fragt mich „Hast Du Kinder?“ „Ja, drei, aber alle schon erwachsen, jedenfalls fast.“
„Mögen Dich Deine Kinder?“ „Ja, ich denke schon. Ich hoffe es wenigstens.“ „Ich habe meinen Papa auch gemocht. Nun ist er schon lange weg. Ich erinnere mich nur an den Zoo.“ „Wie weg? Haben sich Deine Eltern scheiden lassen?“ „Papa ist tot. Schon lange. Ich weiß, dass er da oben in den Wolken ist. Ich sehe ihn nur nie. Immer nur Elefanten.“ „Das ist traurig, wirklich, Katrin.“ Ich überlege noch, wie ich sie trösten soll. „Willst Du mein Papa sein?“ Ich bin sprachlos und überrascht. Da sieht sie mir ins Gesicht, ihre wasserfarbenen Augen verdunkeln sich und ihre Stimme ändert sich. „Willst Du mich ficken? Ich hab ganz kleine Titten mit langen harten Nippeln. Und ein ganz enges Arschloch. Willst Du?“ Sie zieht tatsächlich ihr Shirt hoch. Oh, Mann, wenn jetzt die Aufseherin käme. Ist das schon Unzucht mit Abhängigen. Bin ich Jurist? Mann, ich will ja gar nicht.
„Nein, Katrin, ich will nicht. Ich will auch nicht, dass Du mich das fragst. Nie wieder! NEIN!“ Meine Stimme bekommt diesen Befehlston. „Aber alle Männer wollen das. Bist Du jetzt sauer? Magst Du mich nicht mehr, weil ich das tue? Ich brauche das Geld.“ Ich verstoße gegen den nächsten Kodex. Ist doch eh schon egal. Ich gebe ihr zwanzig Euro, die ich gerade in der Hosentasche finde. Gib einem Junkie niemals Geld, sagt die Verstandeshälfte in meinem Kopf. „Ich weiß, dass es falsch ist. Ich weiß, dass ich das nicht tun soll. Ich gebe Dir das Geld, damit ich Dich nicht ficken muss. Nimm es als Schulgeld. Ich bezahle Dich dafür, dass Du mich lehrst, wie man Wolkentiere guckt und erschafft. Nimm es und frag mich nie wieder.“ Schweigend nickt sie und steckt das Geld rasch in eine Rocktasche. „Ich muss weg. Du bist wirklich nicht sauer auf mich, weil ich Dich gefragt habe. Mit dem Ficken und so. Wirklich nicht sauer? Auch nicht wegen dem Papa-Sein? Sehen wir uns morgen wieder? Wolkentiere gucken?“ „Klar. Morgen gucken wir wieder. Egal, was passiert.“
Und egal was passiert. Es passiert. Abends. Holz hacken. Axtklinge vom Stiel. Rechter Fuß unter Axtklinge. Stiefel durch. Viel Blut. 112. Tatü Tata! Zehen noch dran. Aber zwei gebrochen und Platzwunde. Sie bleiben zuhause und legen die Beine hoch. Zwei Wochen Minimum. Feierabend. Egal, was passiert. Es passiert.
Nach zwei Wochen wieder im Einsatz. Übergabe mit Kollegin Ute, die mich tapfer vertreten hat. „Und, was passiert? Was machen unsere Irren so.“ „Deine Wolkenguckerin war hier. Aber Du warst nicht da. Hab ihr gesagt, dass Du so schnell nicht wieder kommst. Da hat sie mich ganz irre angestarrt und ist dann gleich wieder weg. Gerannt. Die kam auch nicht wieder. Gestern sagte Ole, dass sie sie aus dem Hafen gezogen hätten. Ist wohl im Tran da reingefallen und ersoffen. Junkies eben. Geht es Dir nicht gut, Anders? Hattest Du irgendwas mit der? Gibt da so Gerüchte im Haus. Ole hat da was erzählt.“ „Ute, ich glaube, mir tut mein Fuß doch noch so weh, dass ich nicht arbeiten kann. Ich muss noch mal zu meinem Doc. Bin schon weg. Und sag Ole, sobald mein Fuß wieder ganz ist, trete ich ihm in den Arsch. Richte ihm das bitte unbedingt aus!“
Ich humpele übertrieben zu meinem Auto und werfe einen Blick in den wolkenlosen blauen Frühlings-, inzwischen schon fast Frühsommer-Himmel. Keine Wolke da. Doch, halt. Eine. Eine ganz dünne, schmale, durchsichtige treibt der Ostwind vom Hafen her. Na ja. Wolken halt. Sind was für Meteorologen. Ich öffne das Schiebedach, lasse den Sonnenschein rein, fahre nach Hause und habe ein komisches Gefühl. Dieses Gefühl, beobachtet zu werden. Ich fahre rechts ran. Blicke durch das Schiebedach und dann ist da diese Wolke. Diese dünne, fast durchsichtige weiße Wolke. Können einem Wolken folgen? Wenn kein Wind weht? Diese Wolke kann das. Eine Fee schwebt über den Himmel. Eine fast durchsichtige Fee auf dem Weg zu ihren Wolkentieren. Winkt die mir zu? Meine Verstandes-Hirnhälfte meldet sich energisch zu Wort. Wie sagt meine Frau? „Bei all den Bekloppten um Dich herum musst Du aufpassen, dass Du nicht selber verrückt wirst. Sonst behalten sie Dich noch da.“ Ich schließe das Dach. Schluss mit Wolken. Ich will jetzt Musik. Irgendwas lautes, sehr lautes. Hey, scheint ja sogar noch eine CD drin zu sein. Leonard Cohen? Suzanne? Das ist doch keine CD von mir! Wo kommt die her?
Suzanne LEONARD COHEN (with lyrics)
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