Kjell Westö - Das Trugbild
03.02.2020 um 23:06Westö ist finnischer Schriftsteller schwedischer Sprache und thematisiert in diesem kurzen, streng komponierten Roman die schwedischsprachige Gesellschaft Helsinkis/Helsingfors von März bis November 1938, als sich Brüche zeigten, welche die Menschen Finnlands zerriss.
In diesem kammerspielartigen Roman werden die Ereignisse aus zwei Perspektiven erzählt:
- Claes Thune (Rechtsanwalt)
- Milja Matilda Wiik (seine Kontoristin)
Thune trifft sich seit Jahren mittwochs mit einem Freundeskreis schwedischer Intellektueller (Ärzte, Schauspieler, Unternehmer) mit dem ursprünglichen Ziel, die schwedische Sprache in Finnland zu fördern, und dem privaten Ziel zu saufen. Ein Bruch dabei ist, dass einer der Mittwochsklubmitglieder, der Arzt, Robert Lindmark, Thunes Frau ausgespannt hat, was zur Scheidung geführt hat. Thune versucht mit Lindmark ein freundschaftliches Verhältnis aufrecht zu erhalten, nicht zuletzt wegen Joachim Jagy, dem jüdischen Schauspieler, der immer mehr in Depression verfällt und von Lindmark in einer geschlossenen Anstalt ärztlich betreut wird.
Wiik stammt - im Gegensatz zum bürgerlichen Thune - aus der Arbeiterschicht, und mit ihren Rückerinnerungen geht Westö in die Jahre 1918/19 zurück, in die Zeit des finnischen Bürgerkriegs, in dem die "Roten" militärisch geschlagen wurden. Wiik wurde als junge Frau in Lagern inhaftiert, deren Grausamkeiten Schritt für Schritt enthüllt werden (Hunger, willikürliche Erschießungen, Vergewaltigungen).
Die Rechtsanwaltskanzlei wird immer wieder von einem "Hauptmann" aufgesucht, der sich Wiik annähert, und sie erkennt bei einem der Treffen, dass er derjenige ist, der in einem der Lager sie regelmäßig nächtens aufgesucht und vergewaltigt hat. Sie lädt ihn schließlich zu sich in die Wohnung, schläft mit ihm und erschießt ihn und sich selbst.
Anfangs- und Endkapitel umfassen den 16. November 1938 (Wiik erscheint nicht in der Kanzlei, Thune fährt zu ihrer Wohnung bzw. Thune sieht, wie zwei Leichen aus Wiiks Haus getragen werden). In diesen Rahmen werden die Ereignisse ab dem 16. März 1938 chronlogisch eingebettet - aus der Sicht Thunes und Wiiks.
Der Titel "Trugbild" bezieht sich einerseits auf ein Lied, das Wiiks Bruder komponiert hat, andererseits auf die Sicht der Einzelnen auf die Welt wie auch auf die anderen Menschen. So stellt sich am Ende heraus, dass der "Hauptmann", den Wiik erschießt, niemand anderer ist als Robert Lindmark.
Auch zerfällt in diesen sechs Monaten der Kitt, mit dem familiäre wie freundschaftliche Verhältnisse zusammengebunden sind. Die Brüche des Bürgerkriegs tun sich wieder auf, verschärft duch radikalen Nationalismus (Finnen vs. Schweden, die beide ihre auch gewaltbereiten faschistischen Organisationen bilden). Thune als Liberaler, der Pathos und Liederlichkeit als zwei Seiten derselben Medaille sieht, ist am Ende alleine. Joachim Jagy ist als Jude nicht nur gesellschaftlich ausgegrenzt, sondern verzweifelt an den ihn umgebenden Verhältnissen in einer psychiatrischen Anstalt.
In die Reflexionen und Gespräche bricht immer (positiv kommentierend wie verabscheut ablehnend) die deutsche Politik ein: die Annexion Österreichs, die Judenquälereien in Wien, die Annexion des Sudetenlandes, die Reichspogromnacht.
Die Kehrseite dieses nicht sehr umfangreichen Psychothrillers ist, dass sehr viel angesprochen ist, aber nicht in die Tiefe geht. Vieles bleibt an der Oberfläche, als ob Westö sich nicht wirklich getraut, in die Abgründe der finnischen Geschichte einzutauchen, sondern sie nur andeutet.
Dennoch: lesenswerte Lektüre, da es Westö gelingt, die Spannung aufrecht zu erhalten und für einen mit der finnischen Geschichte nicht ganz so vertrauten Leser wie mich doch Neues anspricht. Als Finne wäre es mir vermutlich zu seicht, da ich nicht davon ausgehe, dass der finnische Faschismus eine Geheimakte ist.
Infolinks im Spoiler
Verlagsinfo:
https://www.randomhouse.de/Taschenbuch/Das-Trugbild/Kjell-Westoe/btb-Taschenbuch/e491602.rhd (Archiv-Version vom 30.10.2020)
Rezensionen:
https://www.nzz.ch/feuilleton/buecherherbst/finnlandschwedische-weltliteratur-1.18395039 (Archiv-Version vom 09.08.2016)
https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article133165716/Finnland-ist-ein-absurdes-Land.html