9783423249966

Vlada Urosevic, mittlerweile 85 Jahre alt, zählt zu den großen Schriftstellern Nordmazedoniens, und dieser aus 18 Episoden bestehende Roman ist der erste Text, den ich von ihm gelesen habe. Er bestätigt definitiv seinen hohen Status, den Urosevic in Literaturkreisen genießt.

Handlungsort ist Skopje am Ende des Zweiten Weltkriegs und zur Wende zum kommunistischen Jugoslawien. Der Ich-Erzähler dürfte so etwa zehn Jahre alt sein, als entfernte Verwandte, die bei den kommunistischen Partisanen engagiert sind, ihre etwas jüngere Tochter "abladen" und wieder verschwinden. Zwischen den beiden entsteht eine kindliche Freundschaft, die sich mit der Pubertät zu einer jungen Liebe entwickelt.

Durch die Episoden zieht sich eine Verbindung von realer Welt und kindlicher Traumwelt. So betrachten die beiden Kinder während Luftangriffen Mini-Elfanten im Gras und es gibt Einhörner wie auch Fantasiebäume oder Baumhexen im Garten.

In diese Traumwelt fließt immer die reale Welt ein: der Krieg, die kommunistische Umgestaltung in der Stadt, Armut, gespiegelt immer aus der Sicht von Kindern. Beeindruckend, wie die Familienmitglieder das nackte Überleben organisieren, wie die Kinder eine Zeit lang von einem Dorf mit dem Zug ins städtische Gymnasium fahren müssen, wie die Versorgung in Skopje kompliziert ist (die alten Geschäfte mit Waren aus Griechenland und dem türkisch-arabischen Raum enden, neue gibt es nicht), und selbst der typische Nebel der Wetterinversionszeit im Herbst wird eindrücklich beschrieben: die Leute finden ihr Haus nicht mehr.

Der kommunistische Umbruch wird in fantasiereichen Episoden geschildert. Das alte türkische Hamam, das nie als Bad genutzt wurde, ist ein Lager für alles Alte, das schließlich am Müll landet, aber es findet sich auch eine weibliche Mumie, die nicht identifiziert werden kann. Das gespenstische Hotel Lissabon, in dem Opa Simon Kontakt zu einem portugiesischen Advokaten pflegt, der immer mit einer schwarzen Droschke erscheint, wird nüchtern zum Hotel Fortschritt. Die alten Lehrer des Gymnasiums fliegen an einem Gewittertag im Sommer weg (nicht mit dem Flugzeug, sie entfliegen aus einem Fenster im Gymnasium wie Peter Pan), und im Herbst werden die Kinder durch ganz junge Lehrer unterrichtet.

Der junge Erzähler und Emilia finden sich in ihrer Kindheit nicht, ihre sexuellen Sehnsüchte werden nicht erfüllt. Beklemmend dabei das Kapitel, das die Pubertät abschließt: der Schuljahrgang des Erzählers zieht eines nachts in den Park, um Einhörner abzuschlachten, die von jungfräulichen Mädchen (so auch Emilia) eingefangen werden, wie es in alten mittelalterlichen Büchern steht, die Opa Simon und Onkel Filip in ihren kleinen Kammern sammeln.

Im Schlusskapitel wird die Liebesgeschichte versöhnlich abgeschlossen. Emilia lebt nach langer Zeit als Isabella im Pariser Quartier Latin und führt einen Briefmarkenladen. Der Erzähler tritt zufällig in das Geschäft ein, und beide erkennen sich.

Dies ist ein Roman der Sonderklasse mit einem erheblichen Schuss an magischem Realismus, der einem diese kleine Welt im Umbruch mit ihrer sehr schwierigen Lebenssituation überaus einfühlsam näherbringt.

Leider ist das Buch mittlerweile vergriffen, aber es gibt noch Rezensionen online. Links im Spoiler
Der Autor:
Wikipedia: Vlada Uro
https://www.dtv.de/autor/vlada-urosevic-15549/ (Archiv-Version vom 03.03.2021)

Rezensionen:
https://www.deutschlandfunkkultur.de/jugend-im-krieg-einhoerner-jagen-in-skopje.950.de.html?dram:article_id=275720
https://www.nzz.ch/feuilleton/buecher/wenn-die-welt-kopfsteht-1.18391496
https://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/124097533
https://www.focus.de/kultur/buecher/literatur-vlada-urosevic-magier-der-sprache_id_3532901.html
https://www.esslinger-zeitung.de/medien-und-kritik_artikel,-magier-der-sprache-_arid,1116917.html