Hammerschmidt

Ein junger Historiker legte 2014 ein auf seiner Dissertation basierendes Buch über Klaus Barbie und sein Verhältnis zu Nachkriegsgeheimdiensten vor, dass einem vor Bewunderung nur eines bleibt: sich ganz tief zu verbeugen.

Hammerschmidt beschränkte sich als ca. 25-Jähriger nicht darauf, die vorhandenen Quellen auszuwerten, sondern er setzte in mehreren Ländern alles in Gang, auch juristische Schritte, um an bislang verschlossene Archivquellen zu gelangen:

In Deutschland nutzte er Gerichte, das Bundeskanzleramt, das Innenministerium, das Parlament, um an Akten zu gelagen, die ihm der BND ursprünglich verweigert hat. In den USA wurde ihm nach FOIA-Anfragen der Zugang zu CIA-Akten gewährt. In der Schweiz mussten ihm nach einem Gerichtsurteil Akten über Finanzflüsse neonazistischer Organisationen geöffnet werden. Und ein besonderer Coup: Frankreich verweigerte ihm Einsicht in verschlossene Zeugenaussagen zum Barbie-Prozess (Persönlichkeitsschutz), doch in einem US-Archiv gibt es Kopien, und diese wurden ihm geöffnet. Und nicht zuletzt: Hammerschmidt ist der erste Historiker, der die von Barbie in Haft geschriebenen Memoiren nutzen durfte.

Was Hammerschmidt gelang, war eine akribische Aufarbeitung der Zusammenarbeit zwischen westlichen Geheimdiensten und Klaus Barbie in den USA (CIC in Deutschland nach dem Krieg, der ihn über die Rattenlinie schließlich unter dem Neunamen Klaus Altmann nach Bolivien entkommen ließ), in Deutschland (der BND hatte Altmann als Informanten auf der Bezahlliste, und die Akten führen zu dem Schluss, dass die wahre Identität Altmanns bekannt sein musste), in Bolivien (Altmann verschwieg nie seine SS-Vergangenheit und seine nationalsozialistische Überzeugung, er war Logistik- und Verhörberater der bolivianischen Geheimdienste sowie des bolivianischen Militärs, mit verantwortlich für brutalstes Vorgehen gegen Oppositionelle, Mitplaner am Militärputsch von 1980).

In Bolivien begann Altmann/Barbie zunächst im Holzgewerbe und wurde mit Chinarindenexport an Böhringer Mannheim zur Chininherstellung wohlhabend, öffnete sich die Türen ins Rechtsaußen-Politesteblishment Boliviens und Südamerikas, gründete unter dem Namen einer Tarnfirma "La Estrella" ein Netzwerk hochrangiger SS-ler in Bolivien, Paraguay, Argentinien und Chile, das auch im Waffenhandel involviert war (mit der deutschen MEREX des Ex-SSlers und Kriegsverbrechers Gerhard Mertin, über den der durch Gehlen auch von Nazis dominierte BND Waffengeschäfte abwickelte, um die Sowjetunion aus dem Geschäft zu drängen, und auch mit österreichischen Firmen wie die Waffenfirma Hinterberger über den ultrarechten Generaldirektor Herbert Hadwiger und Steyr-Puch, die über Altmanns Freund und Steyr-Prokuristen Richard Brodnik Radpanzer lieferte, die beim 1980-Putsch eingesetzt wurden).

Offen bleibt, ob über die von Barbie mit gegründete bolivianische Handelsflotte auch Waffenlieferungen aus den USA erfolgten. Besuche in die USA sind belegt, die Akten geben aber keinen endgültigen Aufschluss.

Nach Abdankung der Militärdiktatur 1982 und Errichtung einer konstitutionellen Demokratie ging es mit der Auslieferung Barbies an Frankreich relativ schnell. Relativ. Die bolivianische Staatsbürgerschaft wurde ihm aberkannt, da er mit falschem Namen und daher illegitim in Bolivien lebte. In Deutschland schaffte Kohl es, eine Auslieferung nach Deutschland zu verhindern (Barbie wusste zu viel über Ex-Nazis in wichtigen Schaltstellen), Mitterand schließlich war geneigt, Barbie ins Land zu holen (er wurde bereits 1954 in Abwesenheit zum Tode verurteilt) und ihm einen Prozess unter Anklage wegen "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" zu stellen. Barbie wurde in Bolivien inhaftiert, per Flugzeug nach Französisch-Guyana und von dort nach Frankreich transportiert.

Im Prozess in Frankreich wurde Barbie schließlich zu lebenslanger Haft verurteilt. Doch das ist kein Endpunkt, sondern auch der Prozess in Frankreich ist mit Unglaublichkeiten gespickt. Der Schweizer Bankier Francis Genoud, tätig unter anderem als NS-Fluchthelfer, Nachlassverwalter Bormanns, Rechtebesitzer der Goebbels-Tagebücher, Finanzier des Eichmann-Anwalts, Förderer palästinensischen Terrorismus, Vertrauter und Finanzier des Terroristen Ilich Ramírez Sánchez (Carlos der Schakal), bezahlte den französischen Staranwalt Jacques Verges, dessen Karriere mehr als illuster ist (Verteidiger von afrikanischen Diktatoren, später auch Carlos und schließlich Milosevic) und über dessen Zeit zwischen 1970 und 1978 nichts bekannt ist, außer dass er zu Terrororganisationen und den Roten Khmer Kontakt gehabt haben soll und bei Letzteren in Kambodscha gelebt haben soll.

Aber zurück zum Barbie-Prozess. Akte des MfS der DDR bringen Unglaubliches zutage. Mit Hilfe des vom MfS vermittelten rumänischen Geheimdienstes sollen Verges und Carlos (der von der DDR geschützt war) eine Entführung von Barbie organisieren und ihn nach Syrien (damals sehr sowjetfreundlich) bringen, wo er von einem in Syrien lebenden Dr. Georg Fischer in Empfang genommen werden soll. Fischer war niemand anders als Alois Brunner, Eichmanns engster Mitarbeiter (Logistiker) des Holocausts. Brunner hatte engste Verbindungen zum Assad-Clan.

Diese Aktion wurde nicht in die Tat umgesetzt.

Damit endet dieses furiose Buch (etwa 2000 Fußnoten!), und ich möchte noch anmerken, dass Hammerschmidt auch noch Akten über die Stay-Behind-Organisationen der USA (bekannt unter "Gladio") ausgehoben hat und dieser Abschnitt des Buches hochinteressant ist und sich das Bild ergibt, dass nicht die USA sich an Ex-SSlern bedienten, sondern umgekehrt, diese bedienten sich an den von den USA sich ergebenden Möglichkeiten (Geld, Waffen).

Die Ur-Version dieses Buches, Hammerschmidts Dissertation, stellt die Universität Mainz übrigens frei als PDF zur Verfügung, siehe in den nun folgenden Infolinks im

Spoiler
Die Dissertation:
https://publications.ub.uni-mainz.de/theses/volltexte/2014/3815/pdf/3815.pdf

Verlagsinfo:
https://www.fischerverlage.de/buch/deckname_adler/9783100296108

Medienecho im Vorfeld der Dissertation:
https://taz.de/BND-bezahlte-Gestapo-Mann/!5127065/
https://www.zeit.de/politik/deutschland/2011-02/bnd-historiker-kommission/komplettansicht
https://www.mdr.de/zeitreise/stoebern/damals/bnd-klaus-barbie100.html
http://hu-marburg.de/2011/10/27/massenmoerder-als-geheimagent-des-bnd-peter-hammerschmidts-forschungen-ueber-klaus-barbie/
https://www.deutschlandfunkkultur.de/ein-historiker-kaempft-um-die-geheimakte-klaus-barbie.954.de.html?dram:article_id=146982
https://www.dw.com/de/nachkriegskarriere-des-schlächters-von-lyon/a-16564666

Interviews:
https://www.heise.de/tp/features/Ausgepraegte-antikommunistische-Haltung-3388316.html
https://www.heise.de/tp/features/Aufarbeitung-der-braunen-Vergangenheit-ist-laengst-ueberfaellig-3388320.html
https://www.untergrund-blättle.ch/audio/521090/klaus_barbie_in_diensten_von_bnd_und_ciccia_ein_gespraech_mit_peter_hammerschmidt.html

Rezensionen:
https://www.faz.net/aktuell/politik/politische-buecher/peter-hammerschmidt-deckname-adler-moral-kann-sich-ein-dienst-kaum-leisten-13192597.html
https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-21636
http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/index.asp?id=22975&view=pdf&pn=rezensionen&type=rezbuecher
http://www.sehepunkte.de/2015/07/26495.html
https://www.h-net.org/reviews/showpdf.php?id=43746
https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/barbies-netzwerk/
https://www.deutschlandfunk.de/nachkriegsgeschichte-der-schlaechter-von-lyon.1310.de.html?dram:article_id=296997
https://taz.de/!285885/
https://www.focus.de/wissen/mensch/geschichte/nationalsozialismus/tv-doku-ueber-den-schlaechter-von-lyon-keine-reue-bis-zuletzt_id_4925039.html