David Graeber - Inside Occupy
08.08.2019 um 01:37Graeber ist als US-Bürger Ethnologe an der London School of Economics and Political Science und Anarchist. Als Letzterer war er einer der Aktivisten der Occupy Wallstreet-Aktion 2011 in New York.
Das Buch, das 2012 auf den Markt gebracht wurde, teilt sich in drei Bereiche:
1. Die Entstehung der Bewegung und die Besetzung des Zuccotti-Parks in New York
2. Die ökonomischen Hintergründe anhand von Einzelbeispielen
3. Reflexion über die Bewegung aus anarchistischer Sicht
Für Graeber ist Punkt 3 der wichtigste und auch im Buch der ausführlichste. Letztlich ist für ihn das Bedeutende das Ausprobieren einer Konsensdemokratie (anarchistisch) gegenüber einer Mehrheitsdemokratie, und genau in diese Richtung die Occupy Wallstreet-Bewegung zu bringen, war ihm wichtig.
Wenn ich nun seine interessanten Ausführungen über die Entstehung der Bewegung (Banken-Bailout bzw. Senkung der Sozialausgaben durch die Obama-Regierung) bzw. die vorgestellten Einzelfälle (Unfähigkeit Schulden zu bezahlen und die damit verbundene desaströse persönliche Lage, falls keinerlei Ersparnisse im Hintergrund vorhanden sind) betrachte, ist nicht nur das Zusammenbrechen der Bewegung, sondern auch das Nicht-mehr-Aufflammen dieser, verständlich.
Da hat man als junger Mensch Studienkredite, die nicht mehr bedienbar sind, oder als junge Mutter Schulden, die einem kein Geld mehr lassen, um auch noch Arztrechnungen zu bezahlen, und das Wichtige der Bewegungsaktivisten wie Graeber ist auszutesten, ob eine Sesselkreisdemokratie funktioniert, ohne irgendwelche wirtschaftlichen oder politischen Forderungen zu stellen, dann wird wohl nach erster Euphorie langsam der Frust steigen (auf einem Betonplatz zu zelten und von der Polizei traktiert zu werden, ist dann auch nicht unbedingt der utopische Traum eines freien Lebens, vor allem wenn dauernd Grundschule gespielt wird).
Graeber ist durchaus ein wohlwollender Mensch mit ein paar schrägen Argeumenten für auch gewalttätige "direkte Aktionen", und die Idee der Konsensdemokratie hat schon was, nur dass dann Leute mit sehr realen materiellen Problemen herhalten müssen, um die Utopie eines solidarischen, friedlichen und liebevollen Zusammenlebens auszutesten, hat schon was von Affen im Zoo.
Auch frage ich mich beim Schreibstil über die konkreten Ereignisse, ob die dauernden direkten Reden nur als literarisches Stilmittel Authentizität vermitteln wollen oder ob Graeber da wirklich mit einem Diktiergerät rumgelaufen ist und alles aufgenommen hat. Wenn Graeber als "teilnehmender Beobachter" (eine Methode der Sozialwissenschaften) partizipiert hat, könnte ich mir Letzteres sogar vorstellen.
Fazit: Das Buch versucht "positive Vibes" zu vermitteln, aber je länger ich gelesen habe, desto unsympathischer ist mir Graeber geworden.
Infolinks im Spoiler
Interviews:
https://www.spiegel.de/wirtschaft/interview-mit-david-graeber-von-occupy-a-833789.html
https://www.n-tv.de/leute/buecher/Kapitalismus-loswerden-article6403936.html
Rezensionen:
https://www.iz3w.org/zeitschrift/ausgaben/333_Krise/occupy
https://kritisch-lesen.de/rezension/occupy-insights
https://www.socialnet.de/rezensionen/18089.php
https://www.deutschlandfunk.de/occupy-von-innen.700.de.html?dram:article_id=207429
https://www.sueddeutsche.de/politik/buch-zur-occupy-bewegung-ansichten-eines-aufgeschlossenen-anarchisten-1.1362106
https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/occupy-ist-am-ende-doch-ihr-vordenker-gibt-nicht-auf
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/david-graeber-in-frankfurt-wieso-stellt-sich-das-bankenviertel-tot-11757629.html?printPagedArticle=true#pageIndex_0
https://jungle.world/artikel/2012/42/unpersoenliche-arithmetik