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Das ist ein weiterer kurzer Text, den Anton Kuh 1922 als Büchlein veröffentlichte, aber es ist ein ausgewachsener Text, der bereits die frühe Höhe von Kuhs Sprachschaffen spiegelt.

Ludwig Börne, 1837 verstorben, war ein aus einer jüdischen Familie aus Frankfurt am Main (geboren im Getto) stammender politischer Journalist, der in der Restaurationszeit 1830 nach Paris ging, wo er sich mit Heine befreundete und danach wieder zerstritt. Kuh hat ein ambivalentes Verhältnis Börne gegenüber, der ihn die richtigen Fragen stellen sieht, jedoch auch seinen Hass (vor allem gegenüber dem altersweisen, in Weimar lebenden Goethe, der sich von den Zeitgeschehnissen zurückhielt), welcher Börne es verunmöglicht habe, kreativ und in seiner Zeit wirkvoll zu werden. Was wiederum nach seinem Tod dazu geführt habe, dass Börne als Liberaler gefeiert worden ist, aber nicht als Zeitgenosse (des Vormärz) die gebührliche Anerkennung fand bzw. finde. Kuh sieht auch den Zwiespalt in Börne, dem Liberalen, der den aristokratischen Lord Byron, welcher sich um Finanzen keinerlei Sorgen zu machen hatte, neidvoll verehrte und schrieb: "Ich gäbe alle Freuden meines Lebens für ein Jahr von Byrons Schmerzen hin."

Dass Anton Kuh, ursprünglich Theater- und Gerichtsjournalist, nun als 32-Jähriger die Mächtigkeit seiner Sprache auch zu Papier bringen konnte, zeigt dieser Ausschnitt, in dem er über die Restauration der politischen Verhältnisse nach 1815 schrieb:
Die Professoren, am Hegelschen und Fichteschen Dunstbau der deutschen Philosophie fortspinnend, entwarfen damals ameiseneifrig das ästhetisch-humanistische Fundament für alle gegenwärtige und künftige Verantwortungslosigkeit des Bürgers, sie streuten den Horror vor der Politik in die Welt und erfanden als Allheilmittel für das Volk: die Standpunktshoheit des Staatssklaven. Sie gründeten damals den berühmten deutschen »Kosmos«, den heute jeder blonde Pubertätsknirps mit und ohne Bart gegen den Geist ausspielt: das ist eine uranische Kuppel der Diesseitsflucht, eine Fortsetzung des Subordinationsbedürfnisses ins Metaphysische, da nun einmal die irdische Arena solchem Hang nicht genügt. Sie züchteten den Glauben an eine Harmonie, die aus der Summe der Resignationen und Subordinationen entsteht. Nebenher aber schrieben sie – was um so drastischer ist, als die Juden damals zum größten Teil armselige, von jeglicher Staatsrolle ausgeschlossene Inhaftanten des Ghettos waren und zum andern bloß mit Tinte und Feder mittun durften – dickleibige, metaphysisch, ethnologisch, moralisch, patriotisch aufgeblähte Werke über die »Judenfrage« – eine seltsame Ausnahmsübung unter den Völkern Europas, die weder Grund hatten, ihre sklavische Überlaune dorthin abzuwälzen, wo sie die Herren waren, noch sich an menschlicher Farbe zu reiben, um selbst zu Farbe zu kommen, noch auch durch Wahrnehmung des Lebensvolleren sich in irgendeinem Schuldbewußtsein getroffen und beunruhigt zu fühlen. Welch unzeitgemäßes Spielzeug also, sich ein Volk als Farbengeber zu erwählen, die Welt in die Tafel eines willkürlichen Antipodensystems einzuzeichnen, bloß um eine Weltanschauung der Starrheit nach einer Seite wenigstens als kämpferisch und aktivistisch empfinden zu dürfen! Es war die Brutzeit des deutschen Spießers.
Wie sehr Kuh hin- und hergerissen war bezüglich der Ablehnung Goethes durch Börne, zeigt diese Passage:
Aber ist es nicht eine gottverdammte Lüge, zu glauben, daß auch nur eines Menschen Größe von der Art sein könnte, um ihm Unberührtheit vom Zeitereignis zu gestatten? Kann man groß sein und Großes zu sagen haben, ohne der Zeit Rede zu stehen? Oder die Frage, ob man auf sicheren oder schwanken Füßen steht, auf ein neutrales Schattengefilde verpflanzen? Wie kläglich sind diese »Gestalter«, die mit dem Rücken zur Menschheit sitzen! Sie denken, man könne anderes gestalten als das In-der-Zeit-Sein. Ästhetenhochmut, als Schutzwand kleinkrümeligster Spießerei, hat sie in dem Wahn bestärkt. Börne sah es im voraus. Und er sah das Umgekehrte: den antisemitischen, kleinen, feigen Schweißmützenbruder, sich mit dem Wort »Goethe« den Mund ausspülend und für jedes Vergehen seines Ungeists sich mit dem Satz verwahrend: »Schon Goethe sagt«. Er sah die verheerende Wirkung, die daraus entstehen müßte, daß gerade dieses Volk einen unpolitischen Dichter an seiner Spitze hatte, einen Bürger aus seinem Fleisch und Blut, als musengekröntes Oberhaupt. Sein Ausnahmsrecht wird, weiß er, von Stund an von jedem reklamiert, der deutsche Geniequell noch mehr verstopft werden, ichsüchtiger Schreiberdünkel sich in seinen Schatten stellen, die Bildung den Geist verraten und endlich: Menschen, die seine Visage geerbt haben, werden es ihm gleichtun und sich vom mißlichen Strand der Zeit auf noble Gestaltungshöhen zurückziehen.
Und zur bekanntesten Figur des deutschsprachigen Theaters, Faust:
Faust ist der Generalpatron aller, die ihr Lüstlingstum in Schöngeisterei tauchen, Theologie, Juristerei, Medizin und leider auch Philosophie studiert habendes Urbild des Bürgers, dessen Liebe Zerstörung ist und dessen Werk der Katzen-jammer! Der gebrochene Seelen braucht, um seinen Kanal zu bauen!
Trocken, auf den Punkt gebracht, Faust als Urbild des hässlichen Deutschen.

Der Text ist online nicht zu finden, ich zitiere nach folgender Ausgabe:
Anton Kuh: Werke Band 2. Wien: Wallstein Verlag, S. 473-490.