Todd Moderne


Der französische Anthropologe und Historiker Emmanuel Todd interpretiert politische Strukturen, religiöse Strukturen, wirtschaftliche Strukturen, Reproduktionsraten, Bildungsgrad und historische Abläufe auf Basis anthropologischer Familienstrukturen.

Die wichtigsten Familienstrukturen sind:

Reine Kernfamilie: Im Haushalt leben Eltern und Kinder, die als Erwachsene das Elternhaus verlassen.
Absolute Kernfamilie: Die Eltern entscheiden, welche Kinder wie viel erben. (USA, NZ, AUS, Engl.)
Egalitäre Kernfamilie: Alle erben gleich. (Pariser Becken, Süditalien, Zentralspanien, Zentralportugal)
Kernfamilie mit Koresidenz: Kinder bleiben nach Erwachsenenwerden im Haushalt.

Stammfamilie: Ein Alleinerbe wird bestimmt, meist der älteste Sohn. (JAP, D, Korea, SWE, SW-Frankr.)

Kommunitäre Familie: Brüder sind gleichrangig, Männer höhergestellt.
Exogame kommunitäre Familie: Keine Cousinenheiraten. (China, RUS)
Endogame kommunitäre Familie: Viele Cousinenheiraten. (arabische und islamische Welt)

Es sind diese anthropologischen Familienstrukturen, auf welchen politische und gesellschaftliche Einstellungen und Ideologien beruhen: der Liberalismus der Anglosphäre, welcher gesellschaftliche Unterschiede auf Basis des Wohlstands akzeptiert, oder der französische Liberalismus, der sich für die Gleichheit aller Menschen einsetzt, ruht auf den Schultern absoluter bzw. egalitärer Kernfamilien.

In Gesellschaften mit Stammfamilien sind in der Regel hierarchische Strutkturen akzeptiert, wirtschaftliche Entwicklung ist langfristig angelegt (Firmen als Familienerbe), was für den industriellen Aufstieg Deutschlands wie Japans von Bedeutung war und die liberale, chaotisch verlaufende frühere Industrialisierung der liberalen Staaten ein- und überholen konnte, auch in Bezug auf langfristige Entwicklung qualitativ hochwertiger Produkte.

Sowohl in Gesellschaften mit Kern- als auch Stammfamilien besitzt Bildung einen sehr hohen Stellenwert. In liberalen Gesellschaften als Mittel zum sozialen Aufstieg, aber auch zur sozialen Abgrenzung, in Gesellschaften mit Stammfamilien zur technologischen Bildung, um qualitativ hochwertige Produktion zu gewährleisten.

Gesellschaften mit kommunitären Familien sind eher bildungshemmend, da Männer eine abgeschlossene soziale Gruppe gegenüber Frauen bilden. Vor allem in Gesellschaften mit endogamer kommunitärer Familienstruktur werden Frauen aus dem gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen, haben beinahe keinen Zugang zu Bildung, womit wiederum produktives und kreatives Potenzial ungenutzt bleibt. Verschärft wird die Bildungsferne dieser Gesellschaften dadurch, dass die Frau das Monopol auf Haushalt und Erziehung hat, männliche Nachkommen wachsen in einem bildungslosen Umfeld auf. Damit tendieren Gesellschaften mit endogamen kommunitären Familien zu einem intellektuellen Niedergang, exogame kommunitäre Familienstrukturen können diese Tendenz zum Teil damit abfangen, dass Frauen nicht aus der Gesellschaft und dem Bildungswesen ausgeschlossen sind.

Der politische und gesellschaftliche Spiegel der exogamen kommunitären Familie sind der Sowjetstaat bzw. das System Putin: es sind männlich dominierte autoritäre Gesellschaften, in denen Frauen jedoch einen Spielraum haben. Ebenso fällt China in diese Kategorie, wobei in China ein demographische Zeitbombe tickt.

Der politische und gesellschaftliche Spiegel der endogamen kommunitären Familie sind die durch die Scharia geregelten islamischen Staaten.

Komplexer wird es in Staaten mit dominierenden Kernfamilien, die zunächst demokratische Strukturen (durch die sich zunächst immer eine Gruppe von anderen Gruppen, denen der Zugang zu demokratischen Entscheidungsfindungen verwehrt war, abgrenzten - von Athen bis zur Gründung der USA) und im Anschluss ein egalitäres liberales Wirtschaftssystem entwickelten. Die ursprüngliche Egalität (alle haben die gleichen Chancen) wurde durch das Bildungssystem des 20. Jahrhunderts in ihr Gegenteil verkehrt: die unterschiedlichen Bildungsstufen bedeuten unterschiedlichen Zugang zu materiellem Wohlstand wie gesellschaftlichem Ansehen. Dies ist besonders stark in den USA, aber auch in England und Frankreich zu beobachten.

Menschen mit einer tertiären Bildung (Hochschulen, Universitäten) bilden eine auf persönliche Leistungen und Verdienste (Meritokratie) beruhende Schicht, die sich von formal nicht so hoch Gebildeten nichts dreinreden lassen will. Das Problem ist, dass die meisten Vertreter der traditionellen Linken, welche die Anliegen der Produzierenden und weniger formal Gebildeten vertraten, seit nun fast einem halben Jahrhundert selbst zu der Gruppe der höchstgebildeten Elite zählen und sich deren Ideologie von einem sozialen und wirtschaftlichen Schwerpunkt hin zu einem liberalen und globalen Schwerpunkt gewandelt hat, die jedoch nur ihre eigene Gruppe der Höchstgebildeten anspricht und nicht die Interessen der lohnabhängig Produzierenden.

Anhand dieser Entwicklungen ist zu verstehen, dass die durch Bildung und durch ihre Stellung im Produktionsprozess in einer anderen gesellschaftlichen Sphäre Lebenden sich durch die vorgebliche Linke nicht mehr vertreten fühlen, denn ihr Interesse liegt nicht in der Globalisierung bzw. Mondialisation oder gar in der Mobilität und Flexibilität, sie haben Interesse an Stabilität, Sicherheit und Territorialität. Diese Interessen, die bis Ende des 20. Jahrhunderts in einem politischen Vakuum sich befanden, werden seit Beginn des 21. Jahrhunderts durch sogenannte populistische Strömungen mit Erfolg aufgegriffen. Die Wahlerfolge Trumps, des Front Nationale/Rassemblement National bzw. der Brexit-Bewegung sind so erklärbar.

Gesellschaften mit hauptsächlich Stammfamilienstruktur sind in der Regel streng hierarchisch gegliedert (Musterbeispiele sind Deutschland und Japan) und bieten auf unterer Ebene ein Sicherheitssystem von oben, während die herrschende Elite tendenziell auf sich gestellt und nicht kontrolliert ist, was wiederum zu hoher Risikobereitschaft, Abenteurertum und Negierung der Interessen Anderer führt. Höhepunkte dieses letztlich menschenverachtenden Egomanentums einer kleinen Elite waren der japanische und deutsche Imperialismus der 1930er und 1940er Jahre.

Andererseits konnten Japan und Deutschland nach den für diese Länder katastrophalen Kriege an Traditionen anknüpfen und beide schafften binnen kürzester Zeit den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wiederaufstieg.

Japan schloss nach dem Krieg ein enges Bündnis mit den USA, die praktisch über seiner Elite steht, die dadurch in ein Sicherheitssystem eingebunden ist. Bezüglich der Interessen der Bevölkerung bewahrt die japanische Regierung das strenge Prinzip der Territorialität, hat sich mit dem demographischen Abstieg (niedrige Geburtenrate) arrangiert und hat keine populistisch erfolgreichen Tendenzen. Die Elite der liberalen Partei ist nach wie vor akzeptiert, sie gewinnt regelmäßig die Wahlen.

Beide deutschen Staaten waren wie Japan nach der Krieg jeweils in ein Sicherungssystem eingebunden: in das der NATO und der EG bzw. in das des Warschauer Vertrags bzw. des RGW und der Sowjetunion. Nach dem Zusammenbruch der sowjetischen Systeme und der Einigung der beiden deutschen Staaten, sind jedoch die für Stammfamiliensysteme typischen Tendenzen zu Risikobereitschaft und Alleingängen erkennbar, die sich seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts verstärkt haben.

Symptomatische Kennzeichen dieser neuen deutschen Alleingänge waren/sind für Todd:

- Ablehnung der Teilnahme am Irakkrieg 2003
- Lohnstopp zur Erhöhung der Exportrate und Senkung des Inlandskonsums
- Eiserne Haltung gegenüber Griechenland zur Sicherung des eigenen Finanzwesens
- Währungspolitik zu eigenem Gunsten und zum Schaden südeuropäischer Staaten
- Brüskierung Moskaus durch bedingungslose Unterstützung Kiews
- Subventionierter Handelsüberschuss und einseitige Handelsbeziehungen
- Radikale demographische Reparatur des Landes 2015/16

Auch wird beobachtet, dass - typisch für die Stammfamilienstruktur - Entscheidungen der Elite ohne großen Widerstand akzeptiert werden, Gewerkschaften hinter Lohn- und Sozialabbau stehen und populistische Strömungen sich im Vergleich zu anderen Staaten schwer tun.

Für Todd gibt es, Stand 2017, nur noch einen wirklichen Partner in Europa: Frankreich, das jedoch immer mehr mit sich selbst beschäftigt ist. Die Möglichkeit, dass Deutschland mittelfristig in Europa ohne Partner dasteht, ist gegeben, was Todd jedoch für sehr gefährlich hält, da aufgrund der Stammfamilienmentalität immer die Gefahr gegeben ist, dass eine deutsche Elite einer Wirtschaftsgroßmacht eine abenteuerliche, risikofreudige und die Interessen Anderer ignorierende Politik umsetzt.

Mit diesem Ausblick endet das zu Beginn doch sehr anspruchsvolle und immer interessanter werdende Buch. Auf die vielen demographischen Statistiken, die angeführt sind, gehe ich nicht mehr ein.

Links im Spoiler

Interview mit Emmanuel Todd:
https://www.fr.de/kultur/hoheitsgebiet-familie-10965746.html (2018)

Verlagsinfo:
https://www.chbeck.de/todd-traurige-moderne/product/24045857

Leseprobe:
https://beckassets.blob.core.windows.net/product/readingsample/24045857/24045857_leseprobe_todd.pdf

Rezensionen:
https://www.deutschlandfunkkultur.de/emmanuel-todd-traurige-moderne-eliten-bashing-im-elitaeren.1270.de.html?dram:article_id=427960
https://www.br.de/nachrichten/kultur/emmanuel-todd-traurige-moderne-europaeische-union,ROksazR (Archiv-Version vom 05.05.2019)
https://www.tagesanzeiger.ch/kultur/buecher/renaissance-einer-alten-feindschaft/story/18943601
https://www.tagesspiegel.de/kultur/emmanuel-todd-analysiert-die-menschheit-ist-die-familie-der-motor-der-geschichte/24052100.html