Jim Thompson - The Criminal
25.12.2018 um 22:04In diesem Noir ist nicht ein einzelner Psychopath der Protagonist, sondern die kollektive Psychopathie einer Kleinstadt. Thompson komponiert streng jedes Kapitel aus der Ich-Perspektive einer Figur.
Inhaltliches Setting: ein 14-jähriges Mädchen namens Josie wird in der Wildnis zwischen Stadtrand und Golf-Anlage ermordet aufgefunden, Robert, ihr 15-jähriger Nachbar und Spielkamerad aus der Vorstadtsiedlung, der mit ihr an eben jenem Ort vormittags noch mit ihr geschlafen hat, ist der Hauptverdächtige. Die zeitliche Einordnung: sein tete-a-tete um 9 Uhr, der Mord um Mittag. Der Junge gibt an, nach dem Sex in Richtung Golfplatz gegangen zu sein, um als Caddie etwas Geld zu verdienen, aber von einer Anhöhe aus gesehen zu haben, dass es zu viele Caddies und zu wenige Spieler gegeben hätte, er daher die Zeit dort abgesessen habe, bis er nach Hause habe können, denn er habe die Schule geschwänzt gehabt.
Aufgelöst wird der Fall nicht, aber wir lernen eine Stadt kennen, in der jede und jeder seinen Egoismen nachgeht und in der jede und jeder sich gegenseitig niedermacht, aber gleichzeitig wird die Form gewahrt, der subtile Kampf jedoch ist allgegenwärtig, und niemand - bis hin zu Familienmitgliedern - ist wirklich kommunikationsfähig.
- Die Männer prahlen gegenseitig, wer besser im Beruf dasteht.
- Frauen machen sich gegenseitig als Rabenmütter und hässliche Entlein nieder.
- Ehefrauen und Ehemänner, Väter, Mütter und Kinder verabscheuen sich.
- Nach der Tat wissen alle, dass Robert immer schon eigentümlich war.
- Eine örtliche Zeitung macht Robert zum Mörder, um die Auflagenzahl in die Höhe zu treiben.
- Innerhalb der Zeitung herrscht ein Grabenkampf, um sich die Karriereleiter raufzudienen.
- Der Staatsanwalt erzwingt von Robert wegen des Drucks von der Zeitung ein Geständnis.
Einzig der Verteidiger von Robert, Kossmeyer, ist in dieser psychopathischen Kakophonie an Einzelinteressen, die aus persönlicher Sicht nachvollziehbar sind, da jede und jeder ein bitteres Schicksal durchmacht, ein Lichtblick und der wahre Protagonist, der versucht, Ideale zu leben. Und genau deswegen ist er subtil wegen seiner jüdischen Abstammung Antisemitismus ausgesetzt. Und wie praktisch alle Gemeinheiten wird auch diese versucht zu verniedlichen: "I'm just kidding."
Jede ausgelebte Niedertracht wird in diesem kleinen Ort Kenton Hills (fiktiv? Anspielung auf Kenton Hills in Covington, KY?) versucht als Spaß zu verniedlichen.
Nach dem erpressten Geständnis geht er zu Robert in die Zelle und konfrontiert diesen mit der einfachen Gegenüberstellung, dass eine seiner Aussagen eine Lüge sei: er habe Josie nicht ermordet (ihm gegenüber) oder er habe Josie getötet (dem Staatsanwalt gegenüber). Der Fall wird letztlich nicht gelöst, das ist aber nicht wichtig, da es Thompson wohl um etwas ganz anderes ging, und eines seiner Hauptanliegen legt er Kasselmeier in den Mund:
It's difficult to place a rope around a man's neck: the law, slowly evolving through the centuries, winding its way up through dungeons and torture chambers, emerging at last into the sunlight, intended to be difficult.Ein Plädoyer in der Hoffnung, dass nicht Mobs und Gerüchte richten, sondern der Rechtsstaat historisch die Oberhand behalten wird.