Dan Diner - Beyond the Conceivable
23.11.2017 um 22:22Dieser Band vereint Studien aus den 80er und 90er Jahren über Nazi-Deutschland und den Holocaust.
Besonders beeindruckend waren für mich die frühen Texte über den Rechtswissenschafter Carl Schmitt und den Vergleich seiner Rechtsschule der situativen Gesetzinterpretation gegenüber der moralisch orientierten Rechtsschule von Hans Kelsen (Schöpfer der in Abänderungen immer noch rechtskräftigen österreichischen Verfassung aus dem Jahr 1921), über den Geopolitiker Karl Haushofer und über die Judenräte zur Zeit des Holocaust.
Schmitt war Anhänger eines handlungsfähigen Staats und stellte die Existenz eines funktionierenden Staatswesens an oberste Stelle. Diner arbeitet akribisch und nachvollziehbar aus, wieso Schmitt innerhalb kürzester Zeit von einem Anhänger eines Gesamtnotstands unter einer Regierung Schleicher zur Verhinderung Hitlers zu einem Unterstützer Letzteren und NSDAP-Mitglied nach der Machtergreifung wurde: jede autoriative Regierung erachtete er als besser als ein staatliches Limbo.
Auch Haushofer als Anhänger eines zentraleuropäischen Reichs unter deutscher Führung zur geopolitischen Dominanz und eines verschwörungstheoretischen Antisemitismus (Juden streben die wirtschaftliche Weltherrschaft an) war eine zwiespältige Person. Seine Frau war Halbjüdin im Sinne der Nürnberger Gesetze, seine Söhne daher ebenso jüdisch und Haushofer weigerte sich konsequent und erfolgreich der NSDAP beizutreten, ohne dabei seinen Lehrstuhl in München zu verlieren. Diner sieht ihn als Wegbereiter der nationalsozialistischen Lebensraumideologie wie der Blut-und-Boden-Ideologie, ohne dass er selbst je die Radikalität der NS-Realität mitgetragen hätte.
Der dritte hochinteressante Beitrag handelt von der "Borderline-Erfahrung" der Judenräte sowie die Änderung ihrer Bewertung in der israelischen Geschichtsschreibung. Von der frühen Ablehnung als Kollaborationsinstitutionen des Holocaust ging die Wertung - vor allem ab dem Eichmann-Prozess - dahin, dass auf Basis von Quellen und Zeitzeugenberichten die Zwiespältigkeit der Entscheidungen gewürdigt wurde: Rettung jüdischen Lebens durch Arbeit unter der Bedingung, dass jüdisches Leben geopfert werden muss. Ein beklemmender Text.
Die weiteren Essays sind auch hochinteressant, aber weniger wissenschaftliche Studien als die drei oben genannten Texte, die hervorstechen.
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