Narrenschiffer
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Franz Kafka - Der Verschollene/Amerika
27.05.2017 um 22:23Der fünfzehnjährige Karl Roßmann wird von seinen Eltern mit einem Koffer in die USA verschifft, weil er ein Dienstmädchen geschwängert hat, und erlebt dort die komplette Isolation.
Bei Ankunft in New York scheint ihm die Welt offen zu stehen: auf dem Schiff der Hamburg-New-York-Linie lernt er im Kapitel Der Heizer einen Onkel (Bruder der Mutter) kennen, der Senator ist, ihn aufnimmt und ihm eine standesgemäße Privatausbildung zukommen lässt.
In einer albtraumhaften Sequenz lädt ihn ein reicher Freund seines Onkels auf sein Landhaus ein, um dessen Tochter kennenzulernen. Gegen den Wunsch des Onkels fährt Karl mit und jener verweist ihn per Brief aus seinem Haus.
Karl ist nun völlig auf sich alleine gestellt, erhält noch eine Stelle als Liftboy in einem Hotel, die er jedoch verliert, als ihn ein ehemaliger Wanderbegleiter im Vollrausch dort besucht und ihn kompromittiert. Mit jenem Iren namens Robinson zieht er in die Wohnung einer fetten Sängerin, welche mit dem schwarzen Franzosen Delamarche in einem Liebesverhältnis zusammenlebt.
Karl und Robinson werden als Lakaien ausgebeutet, und der Roman bricht ab.
Kafka hat diesen Text nie zu Ende geführt, und es gibt drei Fragmente, welche eine Fortsetzung versuchen:
1. Karl schließt sich einer riesigen Theatergruppe aus Oklahoma als Technikgehilfe an und lernt die Größe der USA kennen
2. Die Versklavung als Diener wird fortgesetzt und nimmt immer skurrilere Züge an
3. Die dicke Sängerin wird in einer Art Rollstuhl aus ihrer Wohnung verschafft und endet mit Karl in einem Hinterhof
Ich kenne fast alle Texte von Kafka, aber dieser Roman fehlte mir noch. Er weist alle bekannten Motive seiner Texte auf, aber durch seinen Realitätsbezug ist er trotz der albtraumhaften Grundstimmung sehr beklemmend: ein Fünfzehnjähriger wird von seiner Familie verstoßen, findet keinerlei Anschluss und endet verarmt wie völlig isoliert.
Dazu kommt noch der Schreibstil: er ist sehr sachlich gehalten, Emotionen werden rationalisiert und Entscheidungen haben keine Grautöne. Jegliches Verhalten bringt extremste Folgen mit sich, nämlich die Verstoßung. Auch Karl ist dieses Denken internalisiert, nur ihm gelingt die Umsetzung nicht: seine Trennung von von den Landstreichern Robinson und Delamarche vor der Annahme des Jobs als Liftboy ist nicht endgültig, und schließlich muss er sich ihnen anschließen, um einer Verhaftung zu entgehen und nicht zu verhungern.
Beklemmende Weltliteratur.