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Diese etwa 900 Seiten an empfindsamem Briefroman aus dem Jahre 1761 habe ich in der Übersetzung von Gustav Julius von 1843 gelesen, der auch ein sehr kritisches Nachwort zu den vermittelten philosophischen Ideen und dem Natur-Konzept Rousseaus verfasst hat.

Inhaltlich ist der Roman an der wahren Liebesgeschichte der Heloise und ihrem Hauslehrer Peter Abaelard aus dem 12. Jahrhundert orientiert, deren Briefwechsel erhalten ist.

Der Inhalt dürfte im Groben bekannt sein: Der Hauslehrer der in einem Schweizer Weingut am Genfer See lebenden Julie d'Étanges, Saint-Preux, verliebt sich in seine Schülerin, die schwanger wird, ihr Kind jedoch bei einem Sturz verliert. Ihr Vater lehnt eine Hochzeit aus Standesgründen ab, Julie entscheidet sich für das Leben am Gut und heiratet schließlich einen viel älteren Freund ihres Vaters. Saint-Preux begibt sich auf eine dreijährige Weltreise, befreundet sich nach der Rückkehr mit Julies Ehemann (Wolmar), verbringt eine Zeit auf derem Gut und soll Hauslehrer einer ihrer Söhne werden. Das Ende: Julie stirbt an einer Krankheit, nachdem sie eines ihrer Kinder vor dem Ertrinken gerettet hat.

Der große Erfolg dieses Briefromans lag hauptsächlich wohl darin, dass eine Liebesheirat nicht möglich war und die Zweckehe von Julie, an dem langen - auch philosophisch gehaltenen - Briefwechsel sowie an dem bezüglich Saint-Preux wie Julies Cousine Clare offenen Ende, was sehr viel Spielraum zum Spekulieren eröffnet.

Andererseits bietet die Selbstbeschränkung Julies wie Saint-Preux' Basis für Rousseaus empfindsame Welt-Philosophie.

Grundsätzlich sieht Rousseau zwei Naturen: eine göttliche Urnatur, welcher das Herz (Gefühl) folgen muss, und eine gesellschaftlich gestaltete Natur der ständischen Trennung (eine Unnatur). Ziel des Menschen ist, den natürlichen Verpflichtungen zu folgen (Tugend, Treue, Liebe, Keuschheit, Ehre), um dadurch mit der göttlichen Urnatur Eins zu werden.

Diese Sublimierung gelingt Julie (wenn auch sehr widerspruchsvoll), und als sie sich geläutert und ihr Herz gereinigt sieht, bleibt ihr auf der irdischen Welt nichts mehr zu tun: sie stirbt und ist vor ihrem Tod überzeugt, dass ihre Seele Eins mit Gott sein wird (interessant dabei ist, dass Rousseau diesen Abschnitt dazu nutzt, um gegen Geisterglauben anzugehen).

Das Gesellschaftsmodell Rousseaus war zu seiner Zeit sicherlich sehr fortschrittlich. Die Handlung ist bewusst in die Schweiz gelegt, in der es keinen Adel mehr gibt (und wohl auch wegen der kalvinistischen sowie protestantischen Tradition).

Idealmodell ist für Rousseau ein utilitaristischer patriarchalischer Tugendadel (niemand im Roman hinterfragt das ausgesprochene Eheverbot des Vaters, ein Angebot eines englischen Freunds, auf dessen Landgut zu fliehen, wird von Julie wie Saint-Preux abgelehnt).

Die Menschen haben in ihrem Aufgabenbereich nützlich zu sein (selbst Berufswechsel lehnt Rousseau ab) und tugendhaft zu leben. Wer nicht tugendhaft lebt, wird aus der Gemeinschaft ausgestoßen (übermütige Angestellte werden fristlos entlassen, wenn sie sich nicht anstandsgemäß verhalten).

Um den tugendhaften Menschen bilden zu können, spielt Erziehung eine große Rolle. Erziehungskonzepte werden lange diskutiert. Kern ist letztlich, dass durch List Kinder (aber auch Erwachsene) dazu gebracht werden sollen, selbst den Weg zu Tugendhaftigkeit und Anstand zu finden, wobei die Konzepte, was tugendhaft und anständig ist, fremdbestimmt sind.


Wikipedia: Julie oder Die neue Heloise
Wikipedia: Gustav Julius
Wikipedia: Heloisa
Wikipedia: Petrus Abaelardus