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Gerhard Henschel - Kindheitsroman
08.11.2016 um 21:30Der erste Roman aus dem Jahr 2004 des Riesenprojekts "Martin Schlosser", Henschels alter ego.
Der Roman spannt sich vom zweiten bis ins vierzehnte Lebensjahr von Martin Schlosser, dessen Leben detailliert aus dessen Sicht vorgetragen wird.
Henschel versucht, das Leben des Kindes in Koblenz aus dessen Perspektive, mit dessen Sprache zu reproduzieren, ohne jetzt eine großartig ordnende Hand anzulegen, die sich aber dennoch als roter Faden durch den Text zieht.
Geboren 1962, sind die typisch kindlichen Lebenswelten im Mittelpunkt: Weihnachten und Geburtstage mit der Familie, die jährliche Fahrt im Sommer zu den Großeltern in Jever, wechselnde Freundschaften in Kindergarten, Schule, Wohngegend.
Die Eltern (ein technischer Beamter und eine Hausfrau) durchleben den typischen Mittelstandsaufstieg, der mit der Folge chronischer Geldknappheit finanziert wird: zuerst Mietwohnung (später wird die Gegend als Asozialen-Wohngebiet abqualifiziert), dann Reihenhaus und schließlich eigenes Haus in "besserer" Wohngegend.
Martin ist das dritte von vier Kindern und erzählt seine Kindheitsgeschichte, wobei die Perspektiven und Prioritäten der verschiedenen Kindheitsphasen sehr gut wiedergegeben sind. Die meiste Zeit erinnern die Denk- und Logikstrukturen Martins an völlige Idioten: einmal zieht er seiner kleineren Schwester einen Stuhl weg und beim Sturz bricht sie sich einen Arm. Verwunderung über einen Hausarrest, nächstes Thema. Typisch Kind. Völlig gaga.
Auch die Präpubertätszeit ist sehr gut eingefangen. Einerseits das Suchen in Lexika sowie Hausfibeln über das Funktionieren von Geschlechtsorganen, andererseits die akribische Registrierung von Sportergebnissen, in diesem Fall die deutsche Fußballnationalmannschaft bzw. das Meisterjahr von Borussia Mönchengladbach (das habe ich im Alter von 10-13 auch gemacht, halt Schi- und Autorennen).
Gelungen ist auch, wie die Außenwelt langsam via Fernsehen ins Leben des Kindes tröpfelt, zunächst durch Brutalszenen aus dem Vietnamkrieg (Tagesschau und Stern), schließlich durch Fernsehserien. Die kulturelle Welt wird durch Bücher (von Kasperlbüchern bis zu Enid Blyton ... auch da hatte ich ein Deja vu) wie durch Musik (Dauerkauf von Schallplatten, hauptsächlich von deutschen Schlagermusikern ... urgh!) ins Leben Martins eingeführt.
Wundersam für mich ist auch die brutale Umwelt: schlagende Lehrer/innen sind normal und diese werden nicht zur Verantwortung gezogen, und die Eltern strafen nach Plan. Am wildesten sind zwanzig Handkantenschläge auf den Rücken als Strafe wegen irgendwas. So eine planvolle physische Bestrafung habe ich in meiner Kindheit definitiv nicht erlebt (ich wurde einmal aus einem Affekt heraus von meinem Vater geschlagen ... da habe ich wohl auch etwas völlig Blödes angestellt).
Auch wenn ich diesen 500-Seiten-Text als "Gregs Tagebuch" für Fortgeschrittene abkanzeln könnte, so hat er dennoch Spaß gemacht, weil er sich sehr authentisch in ein Kinderleben eines Jungen einfühlt, dass mir während des Lesens eigene Erinnerungen an eine eigentlich verschüttete Zeit wieder bewusst wurden.
Ein paar Infolinks im Spoiler
Der Autor:
Wikipedia: Gerhard Henschel
Verlagsinfos:
http://www.hoffmann-und-campe.de/buch-info/kindheitsroman-buch-1766/ (Archiv-Version vom 26.06.2017)
Rezensionen:
http://www.textem.de/322.0.html
http://hirnstromern.de/rezensionen/kindheitsroman-gerhard-henschel/ (Archiv-Version vom 09.09.2016)
http://oe1.orf.at/artikel/209315
http://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=6849