"Spurensicherung. Wege in die DDR" GNN Verlag
22.06.2016 um 15:32Heinz Möbius:
Der Valtenberg
Wege in die DDR zu finden, war nach dem mörderischen Krieg für mich nicht die „Tagesfrage“. Als einer vom Jahrgang 1921 gehörte ich mit zu den Überlebenden, die bereits in den ersten Nachkriegstagen wieder in Dresden eintrafen. Es war Sonnabend, der 2. Juni - der Tag, an dem meine Mutter Sechzig wurde. Die Freude über unser Wiedersehen, die Überraschung war unbeschreiblich, und es gab viele Tränen ...
Unsere Kiefernstraße im Hechtviertel war schon im Januar zerstört worden. Wir zählten zu den „Totalausgebombten“ und alles, was die Eltern - mein Vater war bis zur Rente Straßenkehrer in der Albertstadt - in ihrem Leben geschaffen hatten, lag unter den Trümmern.
„Mein“ Kriegsende hatte ich im „Kessel“ von Blankenburg/Harz erlebt. Die von den Amerikanern dort gefangengenommenen Soldaten wurden mehrheitlich in das berüchtigte Lager Bad Kreuznach gebracht. Peter (ein älterer Berliner) und ich konnten uns auf Schleichwegen der Gefangennahme entziehen. Während unserer „Wanderung ins Ungewisse“ trafen wir dann plötzlich auf eine Verbotstafel. Es wurde gewarnt, das Gelände zu betreten. Wir taten es dennoch und erschraken, denn unerwartet standen wir etwa zwanzig Männern gegenüber - wir noch in Wehrmachtsuniform, sie im KZ-Kittel. Und wir redeten miteinander!! Wir befanden uns im Bereich eines Außenlagers des Konzentrationslagers Buchenwald. Am Tage zuvor hatte die SS das Lager von allen Häftlingen geräumt und nur die absolut nicht Gehfähigen zurückgelassen. Es waren Polen, die vier Jahre in diesem Lager hatten verbringen müssen und nun auf den Abtransport in ein Hospital warteten.
Auf meinem weiteren Heimweg nach Dresden erfuhr ich nur beiläufig vom 8. Mai und der endgültigen Niederlage des faschistischen Deutschland. Aber nun sollte der Krieg ein Ende haben, es sollte Frieden sein - fast unfaßbar.
In meinem ehemaligen Dresdner Lehrbetrieb NÄMATAG fand ich bald Arbeit und wurde als junges KPD-Mitglied beauftragt, im Betrieb eine Antifa-Jugendgruppe zu bilden. Und so fing alles an - mein weiterer Weg im Jugendverband, in der Partei, im Staatsapparat.
Das politische Leben in Dresden entwickelte sich rasch, und junge Leute waren überall gefragt, wurden gebraucht. Am 20. März 1946 gründete sich auch in Dresden die Freie Deutsche Jugend. Bald danach tagte im „Ernemannwerk“ die erste Kreisdelegiertenkonferenz, von der Erich Amendt zum Kreisvorsitzenden und ich zum Org.-Leiter gewählt wurden.
Unvergessen bleibt mir der 1. Mai 1946 mit der Kundgebung der Hunderttausend auf dem Theaterplatz. Ich erhielt als Sprecher der Jugend das Wort und glaube, daß ich die DIN-A4-Seite wohl mit Herzklopfen, aber ohne Versprecher vorgetragen habe.
Aber weiter ging es mit der FDJ, und der Sturz der auf einem Sockel vor der Ruine des Taschenberg-Palais stehenden Kanone wurde uns von Walter Weidauer1 mit der Bemerkung verziehen: „Wer soll das nun alles wegräumen?“
Die staatlichen Organe gewährten der FDJ wirkungsvolle Hilfe bei der Suche nach geeigneten Objekten für die Einrichtung von Jugendheimen. Beim Genossen Dr. Rudolf Friedrichs2, bei Walter Weidauer und auch beim Landrat Georg (Schorsch) Wehner fanden wir stets offene Ohren. Galt es besonders schwierige Hürden zu nehmen, erhielten wir vom sowjetischen Jugendoffizier Anatoli Waks (mit dem ich noch heute freundschaftlich verbunden bin) Unterstützung.
Zum I. Parlament der Jugend in Brandenburg/Havel, Pfingsten 1946 (8. - 10. Juni 1946), delegierte Sachsen eine starke Gruppe. Allein schon die Anreise von Dresden aus war ein Erlebnis. Unsere Delegation fuhr mit einem Schiff der „Weißen Flotte“ nach Magdeburg und tags darauf nach Brandenburg. Währenddessen tagten nicht nur die Kreisverbände, sondern es herrschte ein frohes Jugendleben. Es wurde getanzt und viel gesungen: „Wir lieben das fröhliche Leben ...“ „Es rosten die starken Maschinen ...“, „Dem Morgenrot entgegen ...“ Den Ton gaben die Leipziger mit ihren Klampfen an.
Die Freunde der FDJ-Kreisjugendschule Gohliser Windmühle nahe Dresden hatten auf unser Schiff gewartet und winkten, jubelten zu uns herüber. Aber auch anderenorts wurden wir herzlich begrüßt. Und dann Brandenburg! Es war Pfingsten, alles grünte und blühte bereits in diesem ersten Nachkriegsfrühling. Die feierliche Eröffnung des Parlaments - ich hatte einen Platz im Präsidium erhalten - war sehr beeindruckend. Die Vorsitzenden der Parteien, Mitglieder der Regierung und Oberst Tulpanow von der SMAD, alle waren gekommen. Das Parlament wählte den Zentralrat der FDJ und Erich Honecker zu dessen Vorsitzenden.
Hauptthema der Konferenz war aber die Aussprache und Beschlußfassung über die „Vier Grundrechte der jungen Generation“3. Unsere Einmütigkeit war zu erwarten, denn es handelte sich wirklich um die wichtigsten Grundrechte der Jugend - um ein Programm, das auch für spätere Jahre ein Leitfaden blieb.
Es war das erste Parlament der FDJ. Damals ahnte ich nicht, daß ich - fast 70jährig - als Gast der Dresdner Delegation beim letzten Parlament, wieder in Brandenburg, dabei sein und dort in der Diskussion sprechen würde.
Aber zurück in das Jahr 1947, ein Jahr voller Höhepunkte für mich. Ich wurde nicht nur zum Vorsitzenden der FDJ-Kreisleitung Dresden gewählt, sondern schloß auch den Bund der Ehe mit Maria, der nun schon mehr als 52 Jahre besteht. Ohne ihr Mittun hätte ich all die Anforderungen der folgenden Jahre nicht bewältigt. Wir fanden uns beim Zuschippen von Bombentrichtern: Also Straßenbekanntschaft bei einer nützlichen Sache und Liebe auf den ersten Blick. Gemeinsames Denken, gleiche Interessen, nützliches gemeinsames Tun - ich kann das auch heute noch jungen Leuten für ihren Weg empfehlen.
Die „Vier Grundrechte“ sicherten der Jugend nicht nur Rechte, sie übertrugen ihr auch Pflichten und Verantwortung. Die FDJ-Gruppen leisteten Großes, um dieses Programm unter die Jugend zu tragen. Natürlich lief nicht alles glatt, vereinzelt gab es Widerstand, und selbst Vorsitzende der damaligen Parteien wurden in ihren Büros bestürmt, um von ihnen klare Antworten zu ihrer Haltung zu bekommen. So wurde eine Gruppe Jugendlicher, angeführt von Rudi Wießner4, bei einem der sächsischen Parteivorsitzenden5 vorstellig. Es soll dabei auch laute Töne gegeben haben. Volle Unterstützung fanden wir dagegen durch den Präsidenten des Sächsischen Landtages, Otto Buchwitz.
Ein Problem war es damals auch, inmitten der schwierigen Nachkriegsverhältnisse Arbeitsplätze für Mädels und Jungen zu schaffen, ihrem Leben durch nützliche Tätigkeit neuen Sinn zu geben. So entstand das Hilfswerk „Jugendfreude“. Der FDJ war auch die Durchführung von Jugendtanzabenden und Sportveranstaltungen erlaubt. Die Jugendtouristik machte erste Schritte, und es wurde wieder in Gruppen gewandert.
Der sächsische Jugendverband verfügte damals über drei Bezirksjugendschulen: Mutzschen, Hartenstein und den bei Neukirch/Sa, gelegenen „Valtenberg“. In diesem früheren Naturfreundehaus wurde ich 1947 Jugendschulleiter.
Unsere Aufgabe war es, den bereits aktiven oder künftigen FDJ-Funktionären praktische Anleitung und Hilfe für die Gestaltung eines sinnvollen und fröhlichen Jugendlebens zu vermitteln. Aber vor allem sollten sie erkennen, was der deutsche Faschismus unserem eigenen Volk und anderen Völkern angetan hatte. Wir wollten bei der Überwindung des ihnen anerzogenen faschistischen Gedankengutes helfen. Sie sollten den Geist der Völkerfreundschaft, unser neues Verhältnis zu den Völkern der Sowjetunion und zu unseren Nachbarn begreifen. Dabei spielte die Oder-Neiße-Linie eine besondere Rolle.
Das Ganze war ein kühnes Unterfangen. Denn zur Vermittlung dieser schwerwiegenden Inhalte, zur Beratung und Beantwortung aller die Jugendlichen und auch uns bewegenden Fragen jener Zeit, hatten wir in jedem Lehrgang ganze drei Wochen zur Verfügung. An meiner Seite standen Gerhard Nitzsche, Gerda Wagler (später Tuchscherer), Willi Bährisch sowie Manfred Blech. Wir alle waren nur wenige Jahre älter als unsere Schüler und wurden deshalb sofort als „die Ihren“ angenommen. Jeder Lehrgang zählte immerhin mindestens 100 Mädchen und Jungen, die in zwei getrennten Schlafsälen untergebracht waren.
Was wir von unseren Schülern wußten: Sie suchten in der FDJ, in den Betrieben, in den Dörfern ein jugendgemäßes Leben und gehörten meist der Leitung ihrer FDJ-Gruppe an. Wir wußten, welche Probleme sie bewegten, denn wir waren ja selbst in ihrer Zeit aufgewachsen. Nicht wenige Mädchen und Jungen waren begeisterte HJ-Mitglieder gewesen, mancher Junge bereits Soldat. Fast jeder trug persönliches Leid, hatte den Vater, den Bruder, den Freund im Krieg verloren. Die Mehrzahl von ihnen lebte nicht mehr im früheren Zuhause, dort, wo sie einst geboren wurden, ihre Kindheit verbrachten. Sie und ihre Eltern waren Ausgebombte oder Umgesiedelte aus dem Schlesischen. Aber vor allem waren die ihnen in der Schule und oft auch im Elternhaus anerzogenen Ideale zusammengebrochen. Zu Recht fühlten sie sich betrogen und enttäuscht. Plötzlich hatte alles ein Ende, es sollte Friede sein und eine neue Zeit beginnen. Die meisten waren aber eben noch Kinder gewesen und wollten vor allem leben, eine Zukunft, etwas Glück und Liebe bekommen. Wer beantwortete ihre Fragen, wer sagte ihnen, was nun werden sollte?
Unser Lehrerkollektiv - keiner war ausgebildeter Pädagoge oder Psychologe - mußte selbst noch vieles lernen und begreifen; beispielsweise die Unterschiede zwischen den Altersgruppen. Ein Sechzehnjähriger sah manches doch ganz anders als ein Zweiundzwanzigjähriger, ein Junge anders als ein Mädchen oder eine junge Frau. Da gab es unterschiedliche Lebenserfahrungen, Interessen, Erwartungen - und doch auch wieder sehr viel Verbindendes, eine gemeinsame Basis. (Später erfuhr ich, daß sich ehemalige „Valtenberger“ wiedergetroffen hatten und glückliche Ehen führten.)
Es gab keine Vorgabe, kein Schema dafür, wie der Lehrplan zu erfüllen war. Wir entschieden selbst und fanden eigene Wege, die kurzen drei Wochen mit dem größtmöglichen Erfolg zu nutzen.
Da ich an 30 Lehrgängen beteiligt war, hatte ich es in dieser Zeit mit ca. 3.000 Jugendlichen zu tun. Jeder von ihnen kannte mich noch nach Jahren - was ich beim besten Willen in umgekehrter Hinsicht nicht sagen kann.
Einen großen Teil der Zeit benötigten wir für Aussprachen, Diskussionen und Streitgespräche. Diese erfolgten nicht nur in den Seminarräumen, sondern auch während kleiner Wanderungen hinauf zum Valtenberg. Über alles wurde freimütig geredet und offen auch darüber berichtet, wie mancher an das Vergangene geglaubt hatte und nun der neuen Zeit, die „antifaschistisch-demokratische Ordnung“ genannt wurde, erwartungsvoll und kritisch gegenüberstand. Fragen über Fragen!
Bereits bei der Anreise hörte ich etwa so sagen: „Na, hier soll mit ‚Rotlicht’ gelehrt werden. Aber bei mir nicht!“ Oder: „Ich denke anders, als was uns hier gelehrt werden soll. Ob man mich vom Gegenteil überzeugen wird?“ (Das sagte ein damals Achtzehnjähriger, der später Parteisekretär einer Oberschule wurde.) Andere Jungen erzählten: „Das Haus hier kennen wir schon. Als wir damals ankamen, lagen wir gleich auf Befehl im Dreck - wir sollten zum ‚Werwolf’ ausgebildet werden.“ Jeder hielt mich für einen der Schüler und war natürlich verblüfft, wenn ich abends zur Lehrgangseröffnung als Schulleiter ans Rednerpult trat.
Zu wichtigen Themen erhielten wir gute Unterstützung durch Gastreferenten der Parteien sowie von Gewerkschaftern, Wissenschaftlern und Pädagogen. Zu uns kamen auch Otto Buchwitz, Hermann Matern, Prof. Kastner, Fritz Rösel, Prof. Dr. Neubert und Offiziere der Sowjetarmee vom Standort Bautzen.
Stets gab es eine freimütige Aussprache zu den Vorträgen und viele Fragen zu Vergangenheit und Zukunft unseres Landes. Immer stärker spürbar wurde dabei das Interesse für die Frage „Sollen wir denn immer sowjetische Besatzungszone, also nur eine Zone sein und bleiben?“
Eine wichtige Ergänzung der Lehrgangsthemen bildeten selbstgestaltete Laienspiele. Dazu gaben wir der jeweiligen Seminargruppe nur ein Thema vor, beispielsweise „Fremdenlegion in Indochina“. Ein Rückblick auf „Stalingrad“ - wir zeigten das Laienspiel sogar im Ort Neukirch - wurde nie wiederholt. Es riß Wunden auf, die wir bereits vernarbt glaubten. Unter Mitwirkung der Lehrkräfte wurde in jedem Lehrgang ein „Spanienabend“ mit Texten und Liedern von Ernst Busch gestaltet. Es gab Lesungen über Buchenwald und Auschwitz, über die nazistischen Verbrechen in den KZs und die Vernichtung jüdischer Menschen.
Doch an manchem Abend war auch Fröhlichkeit angesagt, wie beim „Tanz der Völker“. Die Mädchen und Jungen fertigten sich selbst die Kostüme verschiedener Volksgruppen an. Und natürlich erklangen an der Schule zu fast jeder Tageszeit alte und neue Jugendlieder - Manfred Blech war der Meister am Klavier und kannte stets die neuesten Noten.
Ja, und dann kam das große Ereignis, auf das wir auch an unserer Schule hingearbeitet hatten: die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik. Großer Jubel im Lehrgang!
Wir nahmen unsere Fahnen und zogen hinunter nach Neukirch. Aber auch in anderen Orten waren in diesen Tagen unsere Lieder und unser jugendlicher Schwung besonders gefragt. Vorher lernten wir noch rasch die Nationalhymne und sangen dann voller Begeisterung: „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt ...“