"Spurensicherung. Wege in die DDR" GNN Verlag
16.06.2016 um 19:34Manfred Halling:
Im Bund mit der friedliebenden Weltjugend
Als einer vom Jahrgang 1928 habe ich in Kindheit und Jugend die Erziehung im Faschismus erlebt. In Schule wie Hitlerjugend wurde uns gesagt, daß wir stolz sein dürfen, zum deutschen Herrenvolk zu gehören. Die Rassenideologie führte so weit, daß sich junge Leute minderwertig fühlten, wenn sie nicht blauäugig und blond, nicht schlank und groß waren, wie es die Merkmale der nordischen Rasse vorschrieben. Wie man auszusehen hatte, das wurde in Heldenromanen und entsprechenden Filmen vorgeführt. Junge Leute von heute können sich einen solchen Quatsch einfach nicht vorstellen. Aber ich weiß, welche verheerenden Auswirkungen diese „Rassenerziehung“ im Denken und Fühlen meiner Generation hatte.
Solcherart getrimmt, war es folgerichtig, wenn wir darauf brannten, endlich auch zur kämpfenden Truppe zu kommen. Ich gehöre zur sogenannten „Flakhelfergeneration“ und mußte die Schule bereits mit fünfzehn Jahren verlassen, um in Flakbatterien auf der Insel Helgoland und an der Emsmündung bei Emden praktischen Soldatendienst zu tun. Pro forma ging der Schulunterricht weiter, doch gelernt wurde nicht mehr, und wichtig waren nur die soldatischen Leistungen.
Kurz vor Toresschluß von der Marine entlassen, da die Mittelschule abgeschlossen war, ging es nach ein paar Tagen zum Reichsarbeitsdienst. Das war schon zur Zeit der Endkämpfe des II. Weltkrieges, und unsere Einheit wurde zur Verteidigung von Berlin eingesetzt. Am 2. Mai 1945 geriet ich bei Schwerin in amerikanische Gefangenschaft.
Auf nasser Wiese und bei Null Verpflegung in den ersten Tagen erlebte ich, was Vegetieren heißt. Täglich starben viele Kameraden. Ich habe aus dieser Zeit unvergeßliche Eindrücke, was es bedeutet, ganz unten zu sein. Dann die Flucht aus dem Lager und der lange Marsch über die Demarkationslinie nach Hause in Prenzlau, wo die Russen waren.
Mit 16 Jahren trat ich eine Lehre an, die sich über drei Jahre hinzog. Im ersten Lehrjahr bekam ich 25 Mark im Monat, danach 35 und im letzten Lehrjahr 45 Mark.
Die Heimatstadt war zu 90 Prozent zerstört. Was aber gleich in Gang kam, das war das kulturelle Leben. Am Wochenende Tanz bis zur Sperrstunde (22 Uhr) und Kino, das waren unsere einzigen Vergnügungen. Nach und nach fanden sich alle alten Freunde wieder ein.
Nur zögernd näherten wir uns den damals entstandenen antifaschistischen Jugendausschüssen. Das waren junge Leute, mit denen wir früher nie Kontakt hatten. Sie kamen aus Straflagern oder dem KZ, waren Verfolgte des Naziregimes. Es fiel uns schwer, mit ihnen eine gemeinsame Sprache zu finden. Nach der Naziideologie, die immer noch in uns herumspukte, waren das Volksverräter, mit denen man nicht spricht. Ich weiß noch, welche Geduld ein alter Arbeiter in meinem Betrieb aufbrachte, der meine Ansichten zum „Tausendjährigen Reich“ hören wollte. Und so verdreht waren wir damals wohl fast alle, die Hitlerjugend und Krieg sehr persönlich erlebt hatten. Nicht den Zeitungen oder dem Rundfunk mit ihren uns fremden Vokabeln und sozialistischen Zitaten verdanke ich mein Umdenken, sondern vor allem den unermüdlichen Gesprächen mit älteren Arbeitern aus meinem Betrieb. Sie hatten Lager oder KZ hinter sich, hatten nicht gewankt in ihrer Überzeugung und waren den Lockungen der Nazis nicht erlegen. Und jetzt waren sie wieder einfache Arbeiter, lebten nach ihrer politischen Überzeugung ein bescheidenes Dasein. Sie waren keine „Konjunkturritter“ wie manche schnell zum Antifaschisten getrimmten Funktionäre. Und eben das war so überzeugend für uns noch kritisch Abseitsstehende.
Es war also kein Übergang „mit fliegenden Fahnen“, wie es heute von Leuten dargestellt wird, die damals noch gar nicht lebten. Nein, wir machten es uns nicht leicht mit der Aufarbeitung der jüngsten Geschichte, die von den Nazis geprägt war. Es kam eine Zeit großer innerer Kämpfe. Was vorher galt, war nichts mehr wert, aber das Neue war auch nicht leicht zu verstehen. Nach den naturwissenschaftlichen und politischen Vorträgen von Fachleuten und Vertretern der verschiedenen Parteien erlebte ich heiße Diskussionen.
Dann kam die Gründung der FDJ am 7. März 1946. Das Statut, beschlossen vom I. Parlament der FDJ, löste große Diskussionen aus. Vier Grundrechte der jungen Generation waren in aller Munde. Und in all den vielen Aussprachen, in denen damals noch hart Meinung auf Meinung prallte und trotzdem ein Grundverständnis unter uns jungen Leuten bestand, wuchs eine neue Überzeugung. Ich war FDJler!
Es ist keine billige Nostalgie, wenn ich aus heutiger Sicht diese schwere, aber auch schöne Zeit in Erinnerung rufe. Kaum das Nötige zu essen und nur ein paar Mark in der Tasche, zogen wir mit unserer Laienspielgruppe von Dorf zu Dorf. Ich erinnere mich, daß unsere Hauptdarsteller die damaligen Gymnasiasten und Brüder Hagen und Armin Müller-Stahl waren, die beide heute prominente Künstler sind. Die Neubauern brauchten Hilfe in der Kartoffelernte, und dann war da 1947 die FDJ-Hilfe im überschwemmten Oderbruch. Ein Freund aus unserer Gruppe ist bei diesem Einsatz ertrunken. Die Trümmer rund um den Marktplatz waren zu räumen, mit Hacke und Spaten gingen wir dem Schutt zu Leibe. Es waren nur freiwillige Einsätze und dafür gab es keinen Pfennig. In den bunten Heimabenden lernten wir neue Lieder, hörten uns bis dahin unbekannte Gedichte und spielten natürlich auch die zahlreichen unvermeidlichen Gesellschaftsspiele. Bei jungen Leuten blieb es so nicht aus, daß mancher Hans seine Gretel fand. Wie heute genauso.
„Unser Zeichen ist die Sonne mit dem gold'nen Strahlenkranz, und ein blauer Himmel wölbt sich über unserem Jugendland", hieß es in einem der neuen Lieder, die wir mit Begeisterung sangen. Mit einem gewissen Kummer und Wehmut sah ich, wie in späteren Jahren das gemeinsame Singen immer mehr aus der Mode kam und nur noch bei bestimmten Veranstaltungen wie im Ritual ein Pflichtlied gesungen wurde. Ganz sicher hat dieser Wandel auch mit dem Siegeszug des Fernsehens zu tun, das die eigene Kreativität durch genormtes Vortragen ablöste.
Meine erlebte FDJ-Zeit war zugleich eine Lehrzeit. Was ich im späteren Berufsleben als Großhandelskaufmann für Genossenschaften und Journalist anzupacken hatte, fiel dadurch ganz gewiß leichter. Denn der Umgang mit jungen und sehr unterschiedlichen Leuten hatte das Verständnis für viele menschliche Probleme geweckt und die eigene Handlungsweise geprägt. Uns war und ist fremd jede Art von Besserwisserei und Ignoranz. Wir hatten gelernt, auf die Fragen junger Leute einzugehen. Ich weiß aber und gestehe es ein, daß es gewiß nicht überall solche humanistischen Haltungen gab. Nach dem schlimmen Faschismus in Deutschland wollten wir ein anderes Deutschland errichten. Wir als Kriegsgeneration wußten, was wir dafür zu tun hatten.
Aus tiefster Resignation und Zweifel war eine ganze Generation zu neuem Schaffen gerufen, und sehr viele, natürlich nicht alle, folgten zunächst zögernd und dann immer bewußter diesem Weg aus dem allgemeinen Chaos. Mögen spätere Generationen ihre eigenen und nicht immer guten Erfahrungen mit der FDJ gemacht haben, für mich und viele meiner Altersgenossen war die Arbeit im Jugendverband eine Schule für kreatives Wirken. Nach dem Zwangsdienst in der Hitlerjugend waren wir der FDJ freiwillig beigetreten und gingen ganz bewußt den Weg in den Sozialismus.
Und das Wirken der FDJ hatte sowohl im Inland wie im Ausland bald große Aufmerksamkeit erlangt. Es war ganz sicher nicht Zufall, daß bereits die III. Weltjugendfestspiele nach Berlin vergeben wurden. An der Vorbereitung dieses bis dahin größten Treffens der Weltjugend im August 1951 hatte ich persönlich Anteil. Wie ehrlich stolz waren wir, daß ausgerechnet die deutsche Jugend Ausrichter sein sollte. Noch sechs Jahre zuvor standen sich die jungen Leute Europas und der Welt als Feinde auf dem
Schlachtfeld gegenüber. Nun wurde unser Wirken für Frieden und Demokratie anerkannt, und wir sahen in der so zahlreichen Teilnahme so vieler junger Leute aus der Sowjetunion, Polen, Frankreich, USA, Großbritannien, Italien und vielen anderen Staa
ten eine Geste der Versöhnung.
Mehrere Wochen vor Eröffnung des Festivals war ich Mitglied der Empfangsleitung für ausländische Gäste auf dem Bahnhof in Frankfurt/Oder. Es war meine Aufgabe, mehrere Empfangsgruppen vorzubereiten. Nach Feierabend und bis spät in die Nacht übten wir Begrüßungs-Sprechchöre in vielen Sprachen. Ob Russisch oder Chinesisch, Englisch oder Französisch, ja selbst in Vietnamesisch konnten wir die zu erwartenden Gäste als erste FDJler an der Grenze in ihrer Sprache begrüßen. Studenten der jeweiligen Länder von der Berliner Humboldt-Universität halfen uns, die nicht einfachen sprachlichen Klippen zu überwinden.
Unvergeßlich bleiben mir die begeisternden Empfänge der einzelnen Landesdelegationen, die mit Sonderzügen über Polen in die DDR kamen. War gerade der Sonderzug mit dem berühmten polnischen Masowsze-Chor gen Berlin weitergereist, trafen schon die Chinesen und Koreaner ein. Ihnen folgten die Inder und Vietnamesen. Unbeschreibliche Szenen spielten sich auf Bahnsteig 3 ab. In allen Sprachen der Welt erklang das Weltjugendlied: „Uns vereint gleicher Sinn, gleicher Mut. Wo auch immer wir wohnen, unser Glück auf dem Frieden beruht."
Während des vierzehntägigen Festivals hatte ich viele Begegnungen mit ausländischen Gästen. Im Berlin der Kriegsruinen traf sich die friedliebende Weltjugend. Auf dem Alex wurde Hand in Hand die unvermeidliche „Laurentia" getanzt. Die rumänischen Gäste verbreiteten einen Reigen, der viel Wirbel und Küsse hatte. Über zwei Millionen junger DDR-Bürger, ob Mitglied der FDJ oder völlig unorganisiert, haben die III. Weltfestspiele erlebt. Es soll auch nicht unterschlagen werden, daß im Jahr nach dem Festival die Geburtenziffer in der DDR kräftig und übernormal anstieg.
Wenn es auch heute zum guten Ton gehört, über diese Zeit mit Häme zu urteilen, sage ich aus meiner damaligen Erfahrung, daß mit diesem Weltfestival in Berlin das Selbstbewußtsein und das Wissen um den rechten Weg bei sehr vielen Menschen der jungen Generation sehr gestärkt wurde. Wir spürten, daß wir gleichberechtigt in den Kreis der Weltjugend aufgenommen wurden. Stellvertretend für die ganze deutsche Jugend hat die FDJ damit die Rolle des Vorreiters für die Verständigung mit der Weltjugend gespielt, um es ganz einfach auszudrücken. Zu diesem Zeitpunkt war beispielsweise an ein deutsch-französisches Jugendwerk und andere Pläne der westdeutschen Regierung noch gar nicht zu denken.
Zur gelebten Erfahrung vieler Ostdeutscher gehören die Jahre in der Pionierorganisation und der Freien Deutschen Jugend. Ich weiß natürlich, daß es gute und weniger gute Erfahrungen und Erlebnisse gibt. War es für meine aus dem Krieg heimgekehrte Generation eine Sache der Überzeugung und der Ehre, an einem neuen antifaschistischen Staat mitzuwirken, konnte es für andere manchmal reiner Formalismus und ungeliebte Pflichtaufgabe sein. Als ich in den siebziger Jahren als Gast an der Wahlversammlung einer FDJ-Schulgruppe teilnahm, hatte ich das Gefühl, in einem schlechechten Film zu sitzen. Die Tagesordnung wurde heruntergeleiert, die Diskussionsredner lasen vom Blatt ab, ganz sicher stammte der Text vom Lehrer. Kritik gab es nicht. Alle hatten ihre Aufgaben immer erfüllt. Die Wahl verlief einstimmig. Und als die Veranstaltung zu Ende war, zogen die ersten schon wieder ihr Blauhemd aus. Ja, so konnte eine gute Sache in Gleichgültigkeit und Formalismus verkommen ...
Doch diese Erscheinung war ja nicht nur im Jugendverband zu beobachten. In den achtziger Jahren bewegte sich kaum etwas, der Formalismus lag wie Mehltau über dem Land. Ich erinnere mich, wie wir im Kreis von FDJlern der ersten Stunde oft über diese Lähmung des gesellschaftlichen und geistigen Lebens sprachen. Einen Ausweg jedoch, das sei offen gesagt, wußten wir auch nicht.
So bleibt die Erinnerung an die Zeit der großen Hoffnungen mit dem Elan der Jugend aus den Gründungsjahren der Freien Deutschen Jugend 1946 - 1951.