"Spurensicherung. Wege in die DDR" GNN Verlag
16.06.2016 um 19:13Hans-Jürgen Meyer
Ich sagte mir: „Da mußt du durch ...“
Es gibt keinen Anfang des Weges und es gibt dessen kein Ende.
Immer war etwas davor und immer kommt etwas danach.
Es gibt nur eine ewige Bewegung des Werdens und des Vergehens.
Irdischer Verstand wird nie einen Anfang und nie ein Ende erfassen können.
Daß ich so lebte, wie ich war, und daß ich so lebe wie ich bin, verdanke ich Tausenden von Geschlechtern in meiner Vergangenheit, hinter mir.
Ich habe versucht, und versuche es noch, so zu leben, daß Tausende Geschlechter vor mir, in meiner Zukunft, nicht in Zorn über mich geraten.
Achthunderteinundreißig Tage waren nach seiner Indienststellung vergangen, als das deutsche Unterseeboot „U-406“ am 18. Februar 1944 nach achtwöchiger Nordatlantikfahrt den Weg zum Stützpunkt in Frankreich antrat. Wir standen etwa 48,32 Grad N und 23,36 Grad W, als wir früh 9 Uhr den Marsch über Wasser beendeten, um die Fahrt unter Wasser fortzusetzen.
Das Gruppenhorchgerät hatte ich besetzt und nahm starke Quiek- und Tickgeräusche sowie eine schnelle Kolbenmaschine wahr. Entfernung etwa 8-10 Seemeilen. Der Kommandant ging auf Sehrohrtiefe und nahm Rundblick, doch ließ die hohe Dünung nur eine geringe Sichtweite zu.
Einige Stunden nach der 12-Uhr-Wachablösung wurde ich durch starke Detonationen aus dem Schlaf gerissen.
„Alle Mann voraus!“
Weitere Detonationen schüttelten das Boot. Wassereinbruch wurde gemeldet. Der Zentralemaat ließ anblasen.
„Boot ist raus!“
„Turmluk ist auf!“
„Alle Mann von Bord!“
Der Kommandant stand am Turmluk und half jedem heraus.
„Obermaat Meyer, schnell in Deckung gehen und über Bord!“ Das war der letzte großdeutsche Befehl, der mich erreichte.
Der Kommandant und zehn weitere Männer fielen. Einundvierzig wurden gerettet. Mich zogen Matrosen der britischen Fregatte „Spey“ bewußtlos an Bord.
The war was over.
Nach einem viermonatigen Aufenthalt in Schottland übergab uns der Engländer kurz vor Invasion der Alliierten im Jahre 1944 den Amerikanern. Bis Anfang 1945 wurde von diesen die Genfer Konvention beachtet, wonach u. a. Unteroffiziere und Maate nicht arbeiten mußten. Plötzlich verlangte man aber den dokumentarischen Nachweis des Dienstgrades, beispielsweise durch ein Soldbuch. Doch welcher Mariner konnte das schon, der nichts als sein Leben und die um den Hals hängende Erkennungsmarke gerettet hatte?
Danach verschlug es mich in die Baumwollfelder von Mississippi, wo ich im Mai 1945 das Ende des II. Weltkrieges erlebte. Im Lager Elkas, Nebenlager des POW1 Camp McCain, am Hochwasserdamm des Mississippi, etwa 30 Grad N und 90 Grad West, waren wir in Zelten und unter Moskitonetzen untergebracht. Farmer fuhren uns mit ihren Fahrzeugen auf die Baumwollfelder, zuerst zur Pflege, dann zur Ernte. Der Abruf erfolgte in größeren und kleineren Gruppen ohne militärische Bewachung. Die Zusammensetzung der Gruppen oblag den Deutschen. Ehemalige Bootsmannschaften, so auch wir, sahen zu, daß sie in eine Gruppe kamen. Während der Ernte hatte jeder POW nach kurzer Einarbeitungszeit täglich 150 englische Pfund2 reine Baumwolle, d. h. ohne Kapseln, zu pflücken.
Nach Feierabend begann in Zirkeln die Schulung in Demokratie, American civics. Damit wurde ein stark Ich-bezogenes Denken erreicht. Gruppen, in denen die Demokratie Fuß gefaßt hatte, erfüllten nicht mehr ihr Soll. Denn wer die für das Pflücken notwendige Fingerfertigkeit nicht besaß, wurde nun allein gelassen, während die „Demokraten“ am Feldrand ruhten oder sich im Umfeld zu schaffen machten. Dagegen bestand in unserer und auch manch anderer Gruppe noch ein Zusammenhalt. Wir halfen uns gegenseitig - und wurden von den „Demokraten“ dafür als „Nazis“ beschimpft.
Die „Nichterfüller“ erwartete nach der abendlichen Rückkehr ins Lager eine sadistische Quälerei. Sie mußten an einem großen Steinkohlenhaufen ununterbrochen Kohle nach oben schaufeln - erbarmungslos von grölenden Cowboy-Soldaten mit den aufgepflanzten Bajonetten angetrieben. Wer dabei das Bewußtsein verlor, wurde mit der Feuerspritze wieder munter gemacht. Hinterher zählten wir oft bis zu einem Dutzend Stiche in Hintern und Rücken der Gemarterten. Diese Torturen dauerten so lange, bis ein benachbarter Gottesdiener - Pfarrer oder Pastor - und danach auch die „Jackson News“ sich dieser Sache annahmen.
So sammelte ich die ersten Erfahrungen mit der amerikanischen „Ellbogengesellschaft“, sah die Nutznießer, sah die Opfer. Diese Erlebnisse führten bei mir zu einigen bleibenden Einstellungen und Verhaltensweisen. Dazu gehört die Ablehnung dessen, was man „Amerikanism“ nennt. Immer wird meine Sympathie denen gehören, die sich damit auseinandersetzen. Auch mit der westlichen Demokratie und ihrer vielgerühmten Freiheit - die letzten Endes in eine Freiheit der Ellenbogen mündet - konnte ich mich nie befreunden. Und der Kirche fühle ich mich verpflichtet. Ein Kirchgänger war ich zu keiner Zeit, aber ausgetreten bin ich auch nicht.
Im Frühjahr 1946 entließen die US-Amerikaner ihre 300.000 Kriegsgefangenen. Allerdings nicht nach Hause, sondern in andere Länder, wo Bedarf an Arbeitskräften bestand. Bei meiner Ankunft im POW Camp 79, Revesby near Boston in Great Britain musterte mich ein britischer Sergeant kritisch, prüfte erneut seine Papiere und fragte schließlich: „Where ist your beard?“ Während des ersten Aufenthaltes in England hatte ich noch meinen U-Boot-Bart getragen. In Amerika mußte er ab, denn die US-Amerikaner duldeten keine Bärte. Das sagte ich dem Sergeanten und staunte, mit welcher Sorgfalt Groß Britannien darauf achtete, seine vormals an US-Amerika ausgelieferten POW im Original wiederzubekommen.
Revesby liegt 53 Grad Nord, 1 Grad West, genau nördlich von Boston. Jimmy Clarks Farm in Mare Harn Le Fenn lag 8 km entfernt. Wir erreichten sie per Fahrrad und brachten dort im Herbst die Ernte ein. Im darauffolgenden starken Winter 1946/1947 versuchten wir die südenglischen Straßen schneefrei zu schippen.
In diesen Monaten machte ich mir viele Gedanken darüber, weshalb die Schlipssoldaten der USA und die Arbeiter- und Bauernsoldaten der Sowjetunion den Krieg gewonnen hatten. Deshalb fragte ich auch deutsche POW aus - vor allem ältere - die an der Ostfront gewesen waren. Da die Aussagen ohne Furcht gegeben werden konnten, zweifelte ich nicht an ihrer Ehrlichkeit. Das danach in meinem Kopf entstandene Bild hat sich in seinen Grundzügen bis heute erhalten, obwohl ich es später durch autodidaktische Studien erweiterte und hier oder da auch mal etwas austauschte.
Im Februar 1947 dachte sich die deutsche Lagerleitung - wahrscheinlich in Absprache mit den Briten - zur Unterhaltung ein Spielchen aus: Um Demokratie zu begreifen, sollten wir wählen. Allerdings, so wurde gesagt, werde das auf die Zusammensetzung der Lagerleitung keinen Einfluß haben. Danach wurden Gefangene benannt oder meldeten sich freiwillig für die Wahlvorstände von KPD, SPD, CDU, Zentrum und FDP.
Unser „Jung-Stalin“ - ein junger, blonder, sehr lebendiger und sympathischer POW - vertrat mit mehr Begeisterung als Wissen die KPD. Als er auf meine Unterhaltungen mit ehemaligen Ostfrontsoldaten aufmerksam wurde, stand für ihn fest:
„Du mußt das Referat halten!“
Da ich es selbst hätte erarbeiten müssen, fühlte ich mich überfordert und lehnte ab.
„Aber zur Diskussion mußt du sprechen!“
„Wir werden sehen!“
Die Beteiligung an den „Wahlveranstaltungen“ der verschiedenen Parteien - jeden Abend fand eine statt - war schwach. Viel Richtiges wurde gesagt, aber es begeisterte nicht. Nur bei der KPD-Veranstaltung platzte unsere Aufenthalts- und Speisebaracke förmlich aus allen Nähten. Die meisten versprachen sich offenbar eine Sensation, in jedem Fall aber Opposition gegenüber den Briten und der Lagerleitung.
„Jung-Stalin“ verlas ein Manifest. Ich kannte es nicht. Danach sprach ein älterer Genosse des Vorstandes zum Thema „Der Sozialismus marschiert“. Alles schien ähnlich zu laufen wie bei den Wahlveranstaltungen der übrigen Parteien. Offenbar wollte man dort weitermachen, wo 1933 aufgehört werden mußte. Die „Gegenseite“ schickte einen ehemaligen Feldpostmeister, noch in Uniform, vor. Er legte die Platte auf, die deutschen Kommunisten wollten alles auf Russisch machen. „Jung-Stalin“ suchte mich mit den Augen.
Danach stand ich zum ersten Mal in meinem 28jährigen Leben an einem Rednerpult und äußerte mich zu den Aufgaben der deutschen Kommunisten, wie ich sie sah:
Sie könnten zwar von den russischen Kommunisten lernen, aber nicht nur abschreiben. Sie müßten
- ihr Programm selbst entwickeln und durchsetzen,
- die Ereignisse von 1933 bis 1945 in die neuen Überlegungen einbeziehen,
- ihr Programm für ganz Deutschland und für alle Schichten, besonders aber für die Jugend, gestalten.
Der Rest war einfach. Ich ging mit solchen Dingen hausieren, wie der Unterschlagung von Weihnachtsgrüßen des FDGB durch die Lagerleitung und ähnlichen Spitzen. Die Überraschung war gelungen. Der Feldpostmeister bekam einen roten Kopf; meinte, daß man zu wenig von Kommunisten wisse und ließ sich zu keiner weiteren Gegenrede hinreißen. Die Versammlung wurde, wie man heute sagen würde, ein voller Erfolg. Und „Jung-Stalin“ kam in dieser Nacht vor Begeisterung nicht in den Schlaf.
Anderentags hörte ich sagen, da sei einer, der den Sozialismus studiert habe. Die jungen POW der SS-Division „Hitlerjugend“ waren auf einmal meine Freunde. Ich brauchte mal von einem eine Gefälligkeit. „Schon erledigt. Was ist es denn?“
Lagerpfarrer Bielert sagte zu seinem Gemeindeältesten, daß man sich nicht gegen den Kommunismus stellen könne, sondern mit ihm leben müsse. Bei mir tauchten Fragen auf: Muß man den Sozialismus studieren? Warum sagt man den Jüngsten keine Zukunft? Keine anglo-amerikanische, keine russische, sondern eine deutsche? Müssen Atheisten und Christen sich bekämpfen? Können sie nicht gemeinsam eine friedliche Zukunft meistern?3 Zwar hatte ich eine Linie gefunden, aber viele Fragen blieben noch offen.
August 1947 war es geworden, und ich war wieder auf europäischem Festland, in Paderborn, dem großen Entlassungslager des Westens. Hier traf ich meinen Freund Walter Schulze aus Dresden, mit dem mich seit 1941 bis heute eine feste Freundschaft verbindet. Auf dem Wege von den USA nach England waren wir getrennt worden.
Es wurde bekannt, daß alle POW, die in die Sowjetzone wollten, dort noch einmal für vier Wochen in ein Lager müßten. Zu Walter sagte ich, daß ich mich umschreiben lassen würde. Nach Aurich, wo meine Schwägerin wohnte. Vom Stacheldraht hätte ich genug. Das Umschreiben geschah mit Kußhand, und nach einem Kurzaufenthalt in Aurich war ich auf dem Wege in den Osten. Mit mehreren meines Alters stand ich danach im Wald bei Goslar, als es eben dunkel wurde. Unter Bäumen legten wir uns schlafen - der Herbst 1947 war heiß und trocken.
Am anderen Morgen trennten wir uns. Sie gingen auf der Straße weiter, ich im Wald. Hier begegnete ich dann auch prompt meinem ersten Russen. Er ließ mich in die Mündung seiner MPi gucken und tastete mich ab. Die 20er Zigarettenpackung aus meiner linken Brusttasche wurde ich los. Der junge Sowjetsoldat - es könnte ein Sergeant gewesen sein - bot mir einen meiner Glimmstengel an und steckte sich ebenfalls eine an. (Mitten im Wald!) Dann klönten wir. Die Waffe hing wieder dort, wo sie hingehörte, auf seinem Rücken. Es ging um das Wohin und Woher, das Warum und Weshalb. Als wir die Kippen ausdrückten, sagte er, der übrigens gut deutsch sprach: „So, jetzt gehst du auf jener Straße weiter und nicht weiter im Wald lang. Wenn du an die Sperre vor dem Ort kommst, sagst du dem Posten, ich habe dich kontrolliert.“ Als ich an die Sperre kam, waren da zwei Schilderhäuschen, aber keine Posten. Nach kurzem Zögern kroch ich unter der Sperre durch. Der Stapelburger Bahnhof war voller Menschen. Die Freunde der vergangenen Nacht begrüßten mich. Eine junge blonde Dame wunderte sich, weshalb ich mit meinen einwandfreien Papieren für Ostfriesland in den Osten wollte.
„Sie wollen hierher zu uns?“ fragte mich die etwa Zwanzigjährige. „Aber kommen Sie nur, alles kann ja nicht nach dem Westen ziehen.“
Die Behördengänge in Ballenstedt - es liegt nahe dem Harzflüßchen Getel - erledigte ich auf meine Art sehr schnell. Zugegeben, es war ziemlich frech, daß ich in meiner gefärbten englischen Uniform jedesmal an den Warteschlangen vorbei- und geradewegs in das Behördenzimmer hineinging. Erstaunlicherweise regte sich aber niemand darüber auf; und ich dachte, daß meine Wartezeit nach fast vier Jahren Gefangenschaft eigentlich bis auf weiteres erfüllt war. Etwas unsicher wurde ich bei der polizeilichen Anmeldung.
„Ich war nicht in irgend so einem komischen Lager hier“, sagte ich. Doch da platzte ein Uniformierter zu meinem Erstaunen los: „Was die man wollen?! Ob die meinen, daß die, die vom Westen kommen, Läuse haben? Die wollen doch die Menschen nur politisch bestrahlen!“
Zwar blieb unklar, wer „die“ eigentlich waren, doch ich hatte Oberwasser. Was in dem Lager wirklich los war, weiß ich bis heute nicht.
„Aber“, deutete mir der Polizist (oder schon Volkspolizist?) an, „zur Kommandantur müssen Sie und sich dort melden.“
Also ging ich zur Kommandantur in Ballenstedt, denn damals war Ballenstedt Kreisstadt. Wieder eine lange Schlange. Wieder ging ich vorbei und war drin bei Hauptmann Kalinowski. Vielleicht stimmt der Name auch nicht, aber er klang so ähnlich. Wieder das Geklöne wie kurz zuvor mit dem jungen Sowjetsoldaten im Walde; nur daß diesmal ein deutscher - mir unangenehmer - Dolmetscher dabeisaß. Meine militärische Laufbahn war durchgesprochen, die Versenkungsziffern und anderes mehr, als der Hauptmann klingelte. Ein Sowjetmatrose kam und setzte sich neben mich. Vielleicht, so dachte ich, war der Offizier unsicher geworden, wo bei mir die Wahrheit aufhörte und das Seemannsgarn anfing? Aber dann widmete er sich meinen Papieren und begann einen bestimmten Stempel zu suchen. Stempel waren in den Dokumenten keine Mangelware, und ich zeigte ihm alle möglichen, manche sogar zweimal. Doch dann begann ich zu ahnen, was er suchte: ein Papier von dem Lager. Aber wahrscheinlich kam er sich dann doch selbst komisch vor, denn als ich ihm zum dritten Mal den Aufdruck „FIT“ zeigte, meinte er:
„Jawohl, das ist er!“ und gab mir meinen Papierkram wieder. „Und wenn du Arbeit hast, kommst du wieder und sagst mir, was du machst!“
Schon nach wenigen Tagen bekam ich zu Hause Besuch vom Amt für Arbeit. Ein etwa gleichaltriger junger Mann. Einarmig und noch mit einigen abgetakelten Uniformstücken bekleidet:
„Du mußt uns helfen. Deine Karenzzeit kannst du später nehmen. Wir brauchen jemand für das Katasteramt.“
„Was ist denn das?“ fragte ich. Er erklärte es mir, und schon hatte er mich als Meßhilfsarbeiter angeworben. Dann unterhielten wir uns über dies und jenes, bis er plötzlich meinte: „Hermann Göring soll gesagt haben, mit den Bolschewisten kämen die Preußen wieder.“
Mir war allerdings auch ohne Hermann Göring klar, daß wir nach diesem Krieg etwas preußischer werden müßten, um zu überleben - wenn auch nicht wie zu Hitlers Zeiten, wo man nur das Militärische sah (und dies auch nur so, wie man es sehen wollte). Ich versuchte meinem Gast zu erklären, worin für mich das typisch Preußische bestand: Fleiß, Sparsamkeit, Arbeits- und Leistungsbereitschaft und nicht bei jeder Gelegenheit klagen. Außerdem müsse man wissen, wann man einen Befehl, Beschluß oder ähnliches nicht auszuführen habe.
Mein Vorgesetzter im Katasteramt wurde Ingenieur Hermann Lochefeld. Wegen seines zerschossenen Armes hatten ihn die Sowjets zeitiger als andere nach Hause geschickt. Mein erster Arbeitsplatz war der „Hasenwinkel“ unweit der ehemaligen Försterei „Kohlenschacht“. Dort war ein Kahlschlag entstanden, und die sowjetische Kommandantur hatte verfügt: Kleingärten für die Bevölkerung! Der Gedanke war gut, aber der Boden schlecht und ungeeignet. Ein Offizier, dem das vorgetragen wurde, sagte nur: „Nix da! Du Soldat gewesen. Du gehorchen. Vermessen!“ - Inzwischen stehen im „Hasenwinkel“ schon wieder über dreißig Jahre alte Nadelbäume.
Als ich Hermann Lochefeld sagte, daß ich eigentlich nochmals zur Kommandantur müsse, drängte er mich zur Einhaltung dieser Weisung. So sah ich eines Morgens die Schlange vor des Hauptmanns Tür wieder und versuchte mich eben an ihr vorbeizumogeln, als ich von hinten gestoppt wurde.
„Wo wollen Sie hin?“ Es war der Dolmetscher.
„Ich bin zu Kalinowski bestellt.“
„Wenn Sie zu Herrn Hauptmann Kalinowski möchten, dann stellen Sie sich bitte da hinten an!“ sprach der Dolmetscher langsam und mit überdeutlicher Betonung.
„Wichtigtuer!“ dachte ich und versuchte mich damit zu trösten, daß mir ja das Katasteramt die Wartezeit bezahlte - wenn auch nur 65 Pfennige die Stunde.
Bei Hauptmann Kalinowski ging es recht kameradschaftlich zu. Ohne Dolmetscher.
„Was du wollen?“
„Ich sollte mich bei Ihnen melden, wenn ich Arbeit habe.“
„Ja, und was arbeitest du?“
„Ich bin beim Katasteramt.“
„Was ist denn das?“
Ich erklärte ihm meine Meßhilfsarbeitertätigkeit und erwähnte in diesem Zusammenhang unsere Messungen für die Bodenreform. Der Hauptmann geriet aus dem Häuschen: „Bodenreform, das ist prima! Gut, gut, weiter so!“ Dann wechselte er unvermittelt das Thema: „Hast du schon Ärger gehabt mit deiner Frau?“
Hatte ich noch nicht.
„Den kriegst du auch noch. Warte ab, du wirst es sehen.“ Dann legte er mir - ich war schon zur Tür gewandt - einen leeren Fragebogen für Offiziere der deutschen Wehrmacht vor: „Unterschreib noch!“
Ich protestierte leicht, doch er winkte ab: „Ist doch sch...egal. Gefreite waren oft bessere Soldaten als Offiziere. Unterschreib - und auf Wiedersehen!“
Wiedergesehen haben wir uns nicht, und aus der Unterschrift ergaben sich für mich keine Nachteile.
Dem Katasteramt sagte ich wenig später allerdings „Valet“. Nicht wegen der Menschen. Sie waren nett, freundlich und mir zugetan. Auch nicht einmal wegen des Stundenlohns, der inzwischen auf 75 Pfennig gestiegen war. Das Leben hatte mich gelehrt, mit dem auszukommen, was ich hatte und zuzusehen, daß sich trotzdem immer eine Mark mehr als nötig im Portemonnaie befand. Aber im Katasteramt bekam ich die niedrigste Lebensmittelkarte, während das Eisenhüttenwerk Thale, ein SAG-Betrieb4 die damals höchste Ration bot: Lebensmittelkarte A plus Bergarbeiterzusatzkarte. Außerdem konnte ich bei guter Normerfüllung auf fast 400 Mark im Monat kommen. Mein tariflicher Stundenlohn als Sandstrahlbläser in der Gießerei betrug immerhin 1,20 Mark.
Kurz danach wurde Im benachbarten Quedlinburg ein Laden eröffnet. Viele wußten erst nicht, was „HO“5 hieß und sagten „der HO“. Erboste Schwarzhändler interpretierten die beiden Buchstaben mit „Hungernder Osten“ und behaupteten, Väterchen Staat sei nun selbst der größte Schwarzhändler. Kurz vor Ostern 1948 machte auch ich mich nach Quedlinburg auf und erstand ein Pfund Zucker für 10 Mark, fünf Eier für zehn Mark und ein Päckchen Süßstoff für eine Mark. Summa summarum 21 Mark- mein Lohn für mehr als zwei Tage Knochenarbeit. „Na, dann frohe Ostern!“ lächelte die Verkäuferin, als ich mit schiefen Absätzen wieder abzog.
Das wurde es danach wirklich, denn ich verlebte es noch zusammen mit meiner Frau. Sie erwartete nach sechsjähriger Ehe ein Baby, und wir hatten trotz aller Not viele gemeinsame Zukunftsträume: eine richtige Familie gründen, Häuschen bauen, Bäume pflanzen, Garten pflegen und Kinder erziehen. Noch im gleichen Jahr gebar meine Frau einen gesunden Sohn - und starb kurz danach an Typhus. Das war ein furchtbarer Schlag für mich, zumal ich im Sommer 1947 - wenige Tage nach meiner Rückkehr - bereits die Mutter verloren hatte. So hielt ich es für das Beste, meinen kleinen Hans-Albrecht schweren Herzens vorläufig bei der gut situierten Schwester meiner verstorbenen Frau in Ostfriesland unterzubringen und im Eisenhüttenwerk Thale weiter meiner gesicherten Arbeit nachzugehen. (Nebenbei gesagt, galt ich „kaderpolitisch“ seitdem als dreifach belastet: Die soziale Herkunft „stimmte“ nicht, anglo-amerikanische Gefangenschaft war sowieso verkehrt und nun kam auch noch Westverwandtschaft ersten Grades hinzu. Allerdings bedauerte ich das nur, als mir deshalb später der Weg zum hauptamtlichen Redakteur unserer Presse verschlossen blieb.)
Eines Tages im November 1948 wurden mehrere von uns - Sandstrahlbläser und Gußputzer - in das Büro des Abteilungsleiters gerufen, wo bereits Partei- und Gewerkschaftsvertreter sowie unser Vorarbeiter warteten. Danach erhielt jeder von uns ein kleines rotes Dokument mit dem Aufdruck „Arbeitsaktivist“. Meines trug die Nummer 831. (Merkwürdig - genau so viele Tage hatte ich auf einem U-Boot verbracht.) Nach den üblichen Dankesworten gingen wir scheinbar ungerührt wieder an die Arbeit. Trotzdem war diese erste Auszeichnung keinem von uns gleichgültig.
Danach kam der 1. Mai 1949. Aber in Erinnerung blieb mir vor allem der Vorabend. Ich war mit anderen jungen Leuten, von denen ich einige aus der Gießerei kannte, in das „Klubhaus der Werktätigen“ eingeladen. Nach einigen Ansprachen erhielten wir die Kandidatenkarte und das Parteiabzeichen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Erwartungen wurden in jeden von uns gesetzt und Vertrauen. Es war recht eindrucksvoll.
Vom 7. Oktober 1949 finde ich weder im Gedächtnis noch in meinen Aufzeichnungen etwas. Ich hatte inzwischen wieder geheiratet, aber ansonsten ging das Leben einfach weiter mit Frühschicht und Spätschicht. Tag für Tag, Woche für Woche, Sommer und Winter.
Eines Tages kam allerdings Genosse Nickel - Mitglied der Betriebsparteileitung und Betriebszeitungsredakteur - und bat mich, als Vk6 für das ND7 zu schreiben. Dazu füllte er auch gleich einen Zettel aus. Für mich war das Schreiben danach leichter gewollt, als getan. Zwar hatte ich seit meiner Schulzeit keineswegs vergessen, mit welchem Ende des Bleistiftes man das machte, aber es kam wohl vor allem auf den Inhalt an. Meine Frau meinte, ich solle mich an die Lokalredaktion halten. Das ND wäre für unsere Alltagssorgen zu groß und Berlin zu weit weg. Später schrieb ich trotzdem dorthin, und das ND reagierte auch auf jede Kritik. Nur gedruckt wurde nichts von mir.
In der Lokalpresse hatte ich mehr Glück. Meine ersten Einsendungen befaßten sich mit der Reichsbahn, denn immerhin fuhr sie mich täglich von Ballenstedt nach Thale und zurück.
Am 16. Dezember 1949 veröffentlichte die „Volksstimme“ beispielsweise folgende Zuschrift:
Der Vk ärgert sich.
Brechend voll kommt bereits der Zug von Quedlinburg mit Arbeitern für das EHW Thale in Neinstedt an. Vielleicht steigen 10 Reisende aus, vielleicht sind es auch 12. Bestimmt aber wollen noch 400 einsteigen. Das ist früh, mittags sind es etwas weniger. Wie Trauben hängen die Menschen an den Türen. Der Bahnbeamte brüllt: „Fertig!“ Man brüllt zurück, daß dem nicht so sei. Dann folgen gegenseitige „Höflichkeitsbeteuerungen“. Schließlich soll man vorne einsteigen. Da ist aber nur das Dienstabteil und der Gepäckwagen leer. Mit der Tür werden dann die letzten in die Abteile gequetscht. Früher war das nicht so, denn da war der Zug länger. Wo sind die Wagen geblieben? Auch die Arbeiter aus Neinstedt bezahlen den vollen Fahrpreis.
Und am 12. Januar 1950 war in der „Volksstimme“ folgendes von mir zu lesen:
An verkehrter Stelle angebracht.
Links neben dem Bahnhofsgebäude Ballenstedt West steht ein kleines Häuschen. Dieses hat zwei Eingänge. An jedem Eingang ist ein Schild angebracht. Auf dem einen steht „Männer“, auf dem anderen „Frauen“. Über beidem aber hängt noch ein Schild und zwar mit der Aufschrift: „Mit Volldampf für den Zweijahrplan“. Ist das ein Zufall oder soll hier bewußt eine Sache lächerlich gemacht werden? Gibt es beim Bahnhofspersonal keinen Funktionär, der sich dieser Sache annimmt?
Für etwas Wirbel sorgte in der „Volksstimme“ vom 5. Januar 1950
„Gedankenlos“
Vk.: Losungen drücken in ihrer Kürze mitunter ganze Situationen aus und sie sollen uns Anleitung zum Handeln sein. Wer nun Losungen verfaßt, muß sich vorher völlig über ihren richtigen Sinn im klaren sein. Es darf nicht sein, wie ich es im EHW Thale erlebte. Und dazu folgendes:
Ich stehe an meinem Arbeitsplatz. Es kommen zwei Angehörige der Feuerwehr mit zwei Transparenten. Aufschrift: „Brandschutz stärkt die Nationale Front!“ und etwas kleiner darunter: Telefon 295. Ich fragte den ersten Feuerwehrmann:
„Wieso stärkt der Brandschutz die Nationale Front?“
Feuerwehrmann: „Wieso???“
Ich muß mich meiner Arbeit zuwenden. Inzwischen nageln die Feuerwehrleute die Transparente an. Ich wende mich an den zweiten Feuerwehrmann: „Wieso stärkt Brandschutz ... usw.“
Feuerwehrmann: „Ei, das ist doch klar, Brandschutz stärkt die Nationale Front.“ Ich: „Ja, nun sag mir doch, wieso denn?“
Feuerwehrmann: „Weißt du, Kollege, das kommt von oben. Wir machen auch bloß die Schilder an.“
Das Schild hängt und die beiden ziehen ab. Ein Vorarbeiter kommt vorbei und ich frage: „Kurt, wieso stärkt Brandschutz...“ und so weiter.
Vorarbeiter: „Ja, das weiß ich auch nicht!“
Machen wir es kurz. Ich habe noch viele gefragt, auch Funktionäre von uns, und sie konnten es mir, dem Kandidaten, nicht beantworten. Ich stehe auf dem Standpunkt, der Text dieser beiden Transparente müßte lauten: „Brandschutz schützt Volksvermögen!“ Und sollte es nun vor allen Dingen unsern Funktionären nicht klar sein, daß man mit falschen Parolen viel mehr zerschlägt als gutmacht? Uns allen sollte der Begriff der Nationalen Front schon viel mehr sein als nur Schlagwort, und deshalb, ihr Brandschutzleute, sagt es auch euren Auftraggebern!
Mein „Gedankenlos“ riefen bei der Betriebsfeuerwehr sichtlichen Ärger hervor. Die Verantwortlichen fühlten sich in ihrer „gehobenen politischen Rolle“, die sie in den Augen der SAG-Leitung zu haben glaubten, beeinträchtigt. Man wollte sich mit mir auseinandersetzen. Unser Vorarbeiter Kurt blockte das allerdings mit einer Lüge ab, indem er sie „warnte“: Sie sollten vorsichtig sein, ich wäre früher im Kommunistischen Jugendverband gewesen.
Bereits damals merkte ich, daß es nicht einfach ist, mit der Fackel der Wahrheit durch eine Schar bärtiger Männer zu gehen, ohne dabei etwas anzusengen. Aber ich nahm den Begriff „Vk“ wörtlich: also in erster Linie Korrespondent des Volkes, nicht der Zeitungen. Und als die ersten Schwierigkeiten auftauchten, sagte ich mir: „Da mußt Du durch.“
Da das Gesundheitswesen die Arbeit als Sandstrahlbläser wegen der Staublungengefahr im Höchstfall für zwei Jahre gestattete, verließ ich 1950 das Eisenhüttenwerk Thale. Meiner früheren Berufsqualifikation nach war ich eigentlich Fachdrogist mit einer ordentlichen Lehr- und Fachschulausbildung, die mir u. a. Kenntnisse über die Heil- und Gewürzpflanzen vermittelt hatte. In Verbindung mit dem Bekanntenkreis meiner zweiten Frau verschaffte mir dies ab 1. Oktober 1950 eine Anstellung als Sachbearbeiter und Erfasser beim Volkseigenen Erfassungs- und Aufkaufbetrieb für landwirtschaftliche Erzeugnisse (VEAB) Sachsen-Anhalt, Kreis Quedlinburg.
Meine erste Aufgabe bestand darin, Mohnkapseln zu erfassen bzw. aufzukaufen und sie per Bahn nach Westdeutschland zu versenden.
Höheren Ortes machte man sich auch Gedanken über das Sammeln von Heilkräutern und war bemüht, uns dafür entsprechende Möglichkeiten im Territorium nachzuweisen.
Eine kleine Episode verschaffte mir danach beträchtliches Ansehen.
Zwei Herren aus Halle kamen und legten mir eine Handvoll kleiner Beeren vor. Was das sei? Ich nahm die Geruchs- und Geschmacksprobe und war unschlüssig.
„Also, das sind Wacholderbeeren, die wachsen oben bei Degnershausen. Das Sammeln müssen Sie organisieren!“
Noch mal nahm ich die Geruchs- und Geschmacksprobe, um dann ungläubig den Kopf zu schütteln: „Ich weiß nicht - so richtig wie Wacholderbeeren schmecken sie nicht.“
„Nun gut“, sagte der Ältere von beiden, „wir nehmen sie mit und lassen sie im Labor untersuchen.“
Wenige Tage später kam der Betriebsleiter zu mir: „Aus Halle haben sie angerufen. Nur nicht die Wacholderbeeren sammeln! Sie enthalten Spuren von Leichengift. Und“, fügte er hinzu, „im Labor hat man sich sehr gewundert, daß Sie das gemerkt haben.“
Die Wacholderbüsche standen auf einem parkähnlichen Gelände, das früher als fürstliche Begräbnisstätte gedient haben soll.
Den VEAB Quedlinburg drückten allerdings ganz andere Sorgen als Heilkräuter. Es ging um das tägliche Brot, das heißt die Erfassung und den Aufkauf von Getreide und anderen pflanzlichen Produkten. Die Planerfüllung der Neubauern im Raum der Stadt Quedlinburg war genau so katastrophal wie ihre wirtschaftliche Lage, und die Ernten fielen nicht gut aus. Das Gebiet liegt im Regenschatten des Brocken und wird vor allem von Trockenheit geplagt. Die zahlreichen „Sandköpfe“ haben die Bodenwertzahl „7“, d. h. - da die Skala von 7 bis 100 reicht - im Grunde Null.
Dieses Land hatten die Quedlinburger nach Kriegsende an Neubauern verteilt und damit weder eine glückliche Hand noch politisches Verantwortungsbewußtsein bewiesen. Möglicherweise saß ihnen damals ja die SMAD im Nacken. Aber inzwischen schrieben wir das Jahr 1950, und die Lage der Neubauern war nicht besser, sondern schlechter geworden. Die meisten schickten ihre Kinder mit trocken Brot zur Schule, denn sie konnten sich nicht einmal Rübensaft als Belag leisten. Da sie ihrer Abgabepflicht nicht nachkamen, erhielten sie keine Schlachtgenehmigungen. Die Frauen kochten meist Kohl und Kartoffeln ohne jeglichen Fett- oder Fleischzusatz.
Seit Jahren kämpften die Neubauern darum, daß die unfruchtbaren Stellen aus ihrer Veranlagung herausgenommen würden. Aber die Abteilung Landwirtschaft rechnete so: Ein Bauer hat 4 ha guten Boden und 4 ha Sandköpfe - das entspricht im Durchschnitt 8 ha mittleren Bodens. Heraus kam dann, daß beispielsweise für den Sandkopf „Ochsenauge“ - schon damals ein Naturschutzgebiet, in dem nur Dornen und Disteln wuchsen - 30 Eier und 10 kg Fleisch verlangt wurden.
Mit einem Mitarbeiter der Stadtverwaltung Quedlinburg besuchte ich etwa fünfzig Neubauern in ihren mitunter erst halbfertigen Häusern oder sprach während der abendlichen Versammlungen mit ihnen.
Beispiele würden in diesem Rahmen zu weit führen, aber außer dem gemeinsamen „Grundübel“ - einer hohen Ablieferungspflicht bei kargen Böden und der besonders schlechten Ernte des Jahres 1950 - hatte jeder Hof noch irgendwelche unterschiedlichen Zusatzsorgen wie Tier- oder Gewichtsverluste, Wildschäden, nicht aufgegangene Saaten und ähnliches. Einheiten der Roten Armee bzw. der Volkspolizei nutzten einige Felder als Übungsplätze, ohne daß diese aus der Veranlagung herausgenommen wurden. (Einem Bauern ging dadurch die Flachsernte verloren - er wurde vom Gericht wegen Nichterfüllung des Solls zu 2.000 Mark Strafe verurteilt und hatte Glück, daß diese ihm kurz darauf im Rahmen einer Amnestie erlassen wurde.) Es fehlte generell an Futter sowie an Kohlezuweisungen zum Kochen des vorhandenen Futters. Erntehelfer konnten kaum beschäftigt werden, da sie in Naturalien entlohnt werden wollten, und vieles andere mehr.
Auch die finanziellen Lasten infolge Grundsteuer, Miete, Rückzahlung kurzfristiger Kredite u.a. waren oft derart erdrückend, daß die meisten Neubauern sogar auf die preiswerten MAS-Leistungen8 verzichten mußten. Hinzu kam: Wer seinen Verpflichtungen aus bisherigen Krediten nicht nachkommen konnte, erhielt selbst für Saatgut und Düngemittel keine neuen.
So gab mancher damals die Wirtschaft auf und versuchte danach im Hüttenwerk Thale seine Schulden abzuarbeiten. Bauer J. ging gleich in den Westen und hinterließ seiner Frau 12.000 Mark offener Verpflichtungen.
Nicht ohne Erbitterung wies man mich auch auf die weitaus günstigere Lage der Landarbeiter in den Volkseigenen Gütern hin. Im Oktober 1950 hatte der Rat der Stadt Quedlinburg beispielsweise mehr als 250 Schlachtgenehmigungen für „abgabefreie“ Privatleute und Landarbeiter erteilt, aber nur ganze 2 für seine Neubauern.
Einer eigenartigen Situation begegnete ich in Siptenfelde, für das große Rückstände in der pflanzlichen Ablieferung gemeldet wurden. Wegen der im Harz früher einsetzenden Fröste hatte der besorgte Bürgermeister die Kartoffeln beizeiten einbringen und in den Scheunen lagern lassen. Es waren schöne Saatkartoffeln, aber niemand nahm sie ab. In Ballenstedt wartete man beispielsweise auf Lieferungen aus der Altmark. So blockierten die in den Scheunen gelagerten Kartoffelsäcke den Platz, der für den Winterdrusch gebraucht wurde - und schon war Siptenfelde nicht nur Kartoffel-, sondern auch Getreideschuldner.
Meine unermüdlichen Informationen veranlaßten den Geschäftsleiter des Quedlinburger VEAB zu einer Initiative, in deren Ergebnis sogar der Landwirtschaftsminister von Sachsen-Anhalt in Quedlinburg erschien. Allerdings führte sein erster Weg zur SED-Kreisleitung, wo man die Probleme bagatellisierte. Auch in der eigens anberaumten Bauernversammlung wurde die Sache nur zerredet. Worauf einer der Bauern das einzig Richtige tat: Er stand auf, tippte sich an den Kopf und verließ die Versammlung samt Minister.
Auch während der nächsten Zusammenkunft, eine Woche später, wurde von den anwesenden Funktionären vorwiegend allgemeine Agitation betrieben. Unser VEAB-Parteisekretär nannte als Ursache der vielen Nichterfüllungen die gegnerische Hetze. Dagegen beanstandete ein Bauer völlig zu Recht die mangelnde Sachkenntnis der höheren Ebenen. Trotzdem sollte die Ablieferungspflicht hundertprozentig erfüllt werden, damit das dann eintretende Fiasko - wie Abschaffung des Viehs und Hungersnot unter den Neubauern - höheren Ortes endlich Aufmerksamkeit erregte.
Damals hörte ich jeden Tag nur Klage um Klage und schrieb in meine Aufzeichnungen: „So langsam reibt mich die Sache auf.“ Meine letzte Hoffnung war Genosse Siegfried Grün beim „ND“. Ich schickte ihm meine Unterlagen und bat ihn, dieses Dilemma dem Zentralkomitee der SED vorzutragen. Das hatte Erfolg und bescherte uns einen Genossen aus Halle, der den Problemen mit Hilfe eines mutigen Vertreters des Rates des Kreises auf den Grund ging und eine entsprechende Reduzierung des Abgabesolls der Stadt Quedlinburg veranlaßte. Die Neubauern erfuhren davon nichts und wurden in der Quedlinburger Kartei weiter als Schuldner geführt. Aber die hundertprozentige Eintreibung war damit vom Tisch, und bei wirtschaftlicher Notwendigkeit wurde eine Schlachtgenehmigung erteilt.
Ein anderes Sorgenkind war der sogenannte „Freie Aufkauf“. Wer seine Ablieferungspflicht erfüllt hatte oder, wie beispielsweise Kleingärtner, gar nicht veranlagt war, konnte seine Produkte dem VEAB zum freien Aufkauf anbieten und erzielte dafür höhere Preise. Die Erzeuger konnten darüber völlig frei entscheiden. Auch die VEAB erhielten keine Auflage, sondern nur eine sogenannte „Richtzahl“. Allerdings wurde uns erklärt, daß jene fest in den Volkswirtschaftsplan eingebaut und die Versorgung der Bevölkerung von ihrer Erfüllung abhängig sei. Unter Zugrundelegung dieser Richtzahlen waren die in den Jahren 1950/1951 bei Getreide und Hülsenfrüchten erreichten Ergebnisse trotz aller Anstrengungen mehr als mangelhaft. Der beste Kreis des Landes Sachsen-Anhalt schaffte 1950 56,2 %, und der Kreis Quedlinburg lag mit 33,2 % immerhin noch an 5. Stelle. Trotzdem hieß es auch in unserer nächsten Schulung: Es stünde nicht die Frage, ob die Richtzahlen überhaupt erfüllt werden könnten, sondern sie seien einfach zu erfüllen. Der Referent sagte das nicht von ungefähr, denn sein Hauptdirektor in Halle hatte ihm die gleiche Frage gestellt, wie der Berliner Staatssekretär zuvor dem Hallenser Hauptdirektor: Ob denn jener Kollege, der die Richtzahlen als unrealistisch bezeichnet hatte, immer noch beim VEAB Quedlinburg angestellt sei? Ich fühlte mich geschmeichelt, daß mein Ruf sogar bis zum Staatssekretär gedrungen war - wenn auch nur als „Störschwein“.
Durch Zusammenlegung der beiden bis dahin getrennten VEAB-„Sparten“ (pflanzliche bzw. tierische Produkte) zu einem VEAB Kreisbetrieb Quedlinburg Anfang 1951 wurden auch meine bisherigen Aufgaben erweitert. Waren es bis dahin die einmal im Jahr geernteten pflanzlichen Erzeugnisse gewesen, mußten nun Tag für Tag auch tierische Erzeugnisse - vor allem Schweine - erfaßt und wöchentlich abgefahren werden, um die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Dazu waren die verschiedenartigsten Pläne zu erarbeiten, miteinander zu koordinieren und in der Durchführung zu kontrollieren.
Grundlage unserer Erfassungs- und Aufkaufmaßnahmen für schlachtreife Tiere waren die Angaben der monatlichen Viehzählungen unter Verantwortung der Bürgermeister. Wenn die Lieferungen nicht im vorgesehenen Umfang erfolgten - und das war trotz unserer Anstrengungen die Regel - warf man uns mehr oder weniger direkt Unfähigkeit vor. Nachdem ich mir das monatelang angehört hatte, ging ich in die bäuerlichen Betriebe, verglich die Listen der Viehzählung mit den tatsächlichen Beständen und stellte zum Teil haarsträubende Differenzen fest. Nach Veröffentlichung meiner Kritik in der Lokalpresse rief mich ein Bürgermeister an. Ich hatte ihn gar nicht erwähnt, aber er war ehrlich genug, sich zu seiner mangelhaften Kontrolle zu bekennen. Die mit der Viehzählung betrauten ehrenamtlichen Kräfte gäben den Auftrag oft an ihre Kinder weiter, registrierten die Bestände auf Zuruf oder schätzten sie kurzerhand selbst ein. Er werde sich nun in Zukunft persönlich darum kümmern. Die durch derartige Nachlässigkeiten verursachten Schwierigkeiten beim Aufkauf führten oft dazu, daß die Fleischerläden wochentags keine Ware hatten und die Bevölkerung für das Wochenende nur mit „Schlange stehen“ einkaufen konnte.
Ebenso wichtig wie die Versorgung mit Lebensmitteln war für jede Familie die Beschaffung geeigneter Brennstoffe. Briketts blieben streng rationiert, Förderkohle gab es in größeren Mengen - allerdings meist nur als winzige „Sandkörner“. Wir brauchten viel Holz, um sie am Brennen zu halten. Es war ebenfalls rationiert. Aber wer sich von der Oberförsterei einen „Forstnebennutzungsschein“ holte, durfte im Wald Raff- oder Leseholz sammeln. Vielleicht erschien das dem Kreisforstamt Quedlinburg zu einfach, denn es überraschte uns im März 1951 mit der wenig bürgernahen Mitteilung, daß das Holzsammeln nur an Werktagen von 8 bis 18 Uhr gestattet sei. Wir hatten damals in Ballenstedt zwar noch 700 Arbeitslose (vor allem Frauen), aber außer ihnen konnte sich niemand an die vorgegebenen Zeiten halten. Selbstverständlich fuhr auch ich sonntags mit meinem Handwagen nach Leseholz und wurde sogar einmal kontrolliert. Allerdings nur nach meinem Leseschein. Als ich ihn vorzeigte, ließ man mich unbehelligt weiterziehen. Die Förster wußten, wann eine Anordnung nicht zu beachten sei.
Damals wurden alle Betriebe nach Arbeitskräften für den Wismutbergbau in Aue durchforstet bzw. erhielten die Auflage, bergbautaugliche Männer für ein Jahr als „Freiwillige“ dorthin zu verpflichten. Als „Handgeld“ gab es ein Paar Schuhe und 50 Mark. Beides lockte mich nicht sonderlich. Aber ich hatte das ewige Gerangel mit den Getreide- und Schweineproduzenten gründlich satt - und trotz Frau und Kind (inzwischen war ich stolzer Vater einer kleinen Tochter) noch Lust auf Unbekanntes, auf Abenteuer. Immerhin war ich 1951 erst 32 Jahre alt.
Das Ganze wurde dann auch ein Abenteuer der besonderen Art. Bereits im Zug lernte ich einige Kollegen kennen - darunter auch Kalibergleute - die das gleiche Ziel hatten. Im Wartesaal von Aue trafen wir dann weitere, die bereits zwei Tage auf ihre Abholung warteten. Anschließend saßen auch wir einen Achtstundentag ab, ohne daß etwas passierte. Endlich erschien der Vertreter eines Objekts, nahm aber nur wenige Leute mit und ließ den größeren Teil - darunter auch mich - mit der Begründung sitzen, daß bei ihnen weiter kein Bedarf bestehe. Als wir grollend vor das Arbeitsamt Aue zogen, erklärte sich dieses für nicht zuständig und verwies auf die Hauptverwaltung in Chemnitz. Das reichte mir und einigen anderen dann doch, und wir traten unter Protest die Heimfahrt an. Nach Wiederaufnahme meiner alten Arbeit wollte ich dem VEAB Quedlinburg die Schuhe und das Geld (50 M) zurückgeben, aber selbst die Gewerkschaft lehnte dankend ab.
Inzwischen lief die Werbung für den Wismutbergbau Aue weiter auf Hochtouren. Kennziffern wurden verteilt und jede Menge Beratungen durchgeführt. Zu einer der nächsten nahm mich unser Werkleiter mit, und trotz einigen Herzklopfens gab ich dort meinen mündlichen Erlebnisbericht. Er wurde sogar von einem der Wismutvertreter bestätigt. Schuld an dem ganzen Dilemma sei ein unfähiger Personalleiter gewesen. Inzwischen gebe es aber solche Zustände nicht mehr und nun sollten doch bitte weitere Arbeitskräfte abgestellt werden.
Als fleißiger Volkskorrespondent hatte ich meine Erlebnisse natürlich auch dem „ND“ kundgetan, das eine entsprechende Anfrage zum Zentralvorstand der IG Wismut schickte. Von dort erfolgte erst ein Vierteljahr nichts und danach der Versuch, mich durch falsche Wiedergabe der Fakten zu diffamieren. Das gelang nicht - aber für mich war es eine interessante Erfahrung.
Das Jahr 1952 hatte es in sich. Ich war dabei, als in Badeborn die erste landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft des Kreises Quedlinburg gegründet wurde. Es raren zwei Neubauern, die als erste ihre Unterschrift unter das Gründungsprotokoll setzten und der LPG den Namen „Frischauf Badeborn“ gaben. Die damit verbundenen Vergünstigungen - wie Steuererlaß, Sollermäßigung, kostenlose Beratung durch Agronomen und Viehwirtschaftsberater sowie Stundung der MAS-Leistungen bis nach der Ernte - erleichterten den Beitritt weiterer Bauern in die LPG.
Aber da war auch der Ärger mit den Kartoffeln. Da die Ernte nicht gut ausfiel, veranlaßte das zuständige Staatssekretariat die vorfristige Rodung und Erfassung aller Speisekartoffeln. Nun läßt sich die Reife der Kartoffel nicht einfach vorverlegen - das bringt Gewichtsverluste. Bereits im Vorjahr war die Kartoffelerfassung im Kreis bei 98 % stehengeblieben. Der Bauer kam um sein Geld und die Bevölkerung um ihre Kartoffeln. Die fehlende Menge mußte mit viel Geld und teuren Austauschprodukten aus den Kellern „abgabefreier“ Erzeuger geholt werden. Und für jeden von uns wurde die Kartoffelerfassung zur „Bewusstseinsfrage“.
Die Bevölkerung reagierte mit Angstkäufen. Nachdem Margarine, Butter und Speck schon vorher „Engpaß“ gewesen waren, deckten sich die Hausfrauen nun auch zehnpfundweise mit Mehl ein. In den bäuerlichen Großbetrieben spitzte sich die Lage sowohl bei Getreide als auch bei Fleisch zu. Es gab eine Menge Ablieferungsrückstände, ohne daß man - wie eine Kommission feststellte - von Böswilligkeit sprechen konnte. Am 1. Oktober 1952 wurde in der Quedlinburger Ausgabe der „Freiheit“ meine Zuschrift zur Sollerfüllung in Badeborn veröffentlicht. Sie enthielt nur sachliche Feststellungen, während der redaktionelle Kommentar zwar einerseits die entscheidende Verbesserung der Arbeit leitender Organe forderte, andererseits aber von „feindlicher Tätigkeit“ und „Ablieferungssaboteuren“ ausging.
Dies sorgte bei den Badebornern für Aufregung, und sie stellten sich zum großen Teil hinter den von der Redaktion namentlich genannten Großbauern und ehemaligen Wehrmachtsoffizier S. Er sei bis spät in die Nacht fleißig und hilfsbereit gegen jedermann. „Gott sei Dank, daß wir einen RIAS haben“, sagte Bauer W. Und Frau P. weinte darüber, daß ihr Sohn noch immer unschuldig im Zuchthaus säße. Darüber schreibe niemand. Auch meinem Abteilungsleiter, der selbst in Badeborn wohnte, war diese Ausgabe der „Freiheit“ höchst unangenehm. Er entschied, jener Großbauer sei aufgrund anderer Erfüllungen eben kein Saboteur (daß nicht ich, sondern die Redaktion dies behauptet hatte, schien nebensächlich.) Unser VEAB-Parteisekretär erklärte, man brauche solche wie S. für die Einheit Deutschlands. Das klang so, als ob sie unmittelbar bevorstünde. Und alle waren sich einig: Die Bekanntgabe derartiger Lieferrückstände behindere den Aufbau der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften.
Im Betrieb tuschelte man über Kündigungsabsichten gegenüber dem „Kollegen Meyer“, und mein Abteilungsleiter sagte: „Sie werden sich beim 1. Vorsitzenden des Rates des Kreises zu verantworten haben.“
Aber dann wurde mein Beitrag von der Lokalpresse öffentlich als bester Artikel des Monats ausgezeichnet. Dazu gratulierte mir der Vorsitzende des Rates des Kreises herzlich, denn wir kannten uns von mancher kämpferischen Bauernversammlung. Er bedauerte nur, daß die Presse ausgerechnet den Bauern S. als Saboteur bezeichnet hatte. Und im Betrieb war ich auf einmal nicht mehr „Kollege Meyer“, sondern wie alle Zeit zuvor „Hans-Jürgen“. Nur der Bürgermeister von Badeborn gab mir seitdem nicht mehr die Hand.
Nun hätte das Leben eigentlich weitergehen können, aber damals bedrückten mich schwere persönliche Sorgen. Wie bereits erwähnt, hatte ich 1949 zum zweiten Mal eine Familie gegründet und wollte nun auch meinen vierjährigen Sohn aus Ostfriesland zu uns nach Ballenstedt holen. Aber inzwischen hatte sich der Kalte Krieg entwickelt, und durch ihn waren auch die Familienbeziehungen im zweistaatlichen Deutschland nicht mehr dieselben. Die ostfriesischen Verwandten bezogen gegenüber der DDR eine Kontrastellung und wollten außerdem das ihnen liebgewordene Kind nicht wieder hergeben. „Gut“, schrieb dann der Mann meiner Schwägerin - ein Optikermeister - mit ironischem Unterton, „Ihr könnt euch ja frei bewegen. Also komm und hole es dir!“
Leider hatte er richtig spekuliert. Als ich beim Volkspolizeikreisamt Quedlinburg einen Interzonenpaß beantragte, bekam ich ihn nicht. Statt dessen machte mir eine junge Angestellte in FDJ-Windjacke lautstark den Vorwurf, ich hätte mein Kind illegal zu den imperialistischen Feinden gebracht. Natürlich stimmte das nicht, denn ich hatte 1948 sämtliche offiziellen Genehmigungen eingeholt. Aber das beeindruckte die FDJlerin nicht: Ich hätte wissen müssen, daß unsere Verwaltungen etwas Verkehrtes tun. Und warum ich das Kind nicht in ein Heim gebracht habe? Mir schien es damals bei der Schwester meiner Frau einfach besser aufgehoben, und ich sagte das. Aber damit hatte ich nur bewiesen, daß ich von den Kinderheimen der DDR nicht viel hielt und der DDR feindlich gesinnt war.
„Spinnen denn alle?“ So ungefähr muß ich damals gedacht haben. Bei der Volkspolizei dieses Theater; und im Beruf lief ich Gefahr, zwischen den Fronten zerrieben zu werden. Andere hätten es vielleicht besser gemacht. Aber ich ging - wie man mir nachsagte - den Weg des geringsten Widerstandes und im Herbst 1952 in die Hütte zurück.
Die Verbindung dorthin war nie abgerissen. Meine früheren Kollegen hatten mich des öfteren gebeten, ihnen als streitbarer Volkskorrespondent bei der Lösung ihrer Probleme zu helfen. Da war beispielsweise Anfang 1951 die Sache mit der Normerhöhung gewesen. Der AGL-Vorsitzende hatte selbstherrlich einer 20%igen Normerhöhung für alle Putzer und Sandstrahlbläser zugestimmt. Es gab Krach, den die BGL durch Verkündung einer nur 10%igen Erhöhung beenden wollte. „Das machen die alles ohne uns,“ sagten mir die Kollegen - und so veröffentlichten es das „ND“ und danach die „Volksstimme“ im Januar 1951. Wenig später schrieb mir ein Kranfahrer und Volkskorrespondent aus Thale, daß mein Artikel in Berlin und Halle wie eine Bombe eingeschlagen und einige „Berufsmarxisten“ von ihren Schreibtischen aufgescheucht habe. Allerdings bekam ich im März unerwarteten Ärger, als das ND meinen Bericht um Darstellungen erweiterte, von denen ich nie etwas geschrieben hatte. Ich wurde der Unwahrheit bezichtigt und mußte schriftlich protestieren, damit die Sache in Ordnung kam.
Nun arbeitete ich also wieder in der Hütte, und zwar an der Blockstraße, wo angelieferte oder selbstproduzierte Blöcke zu Platinen9 gewalzt wurden. Im November erfüllte unsere Schicht den Plan über. Trotzdem erhielten wir dafür nicht mal so viel Lohn wie für geringere Leistungen in den vorangegangenen Monaten. Auch die zugesagte „Planübererfüllungs-Prämie“ blieb ein leeres Versprechen. Es gebe finanzielle Schwierigkeiten, meinte der Betriebsleiter.
Gut erinnere ich mich an Weihnachten 1952. Heiligabend stände im Kalender nicht rot, sollte die sowjetische Generaldirektion gesagt haben, also müßten wir um 22 Uhr zur Nachtschicht erscheinen. Es kamen aber nur wenige, und auch am 2. Weihnachtsfeiertag waren es nicht mehr. Trotzdem wurden an der Blockstraße im Dezember nie dagewesene Leistungen erzielt. Aber Prämien gab es dafür nicht. Der Russe sei wegen des mangelnden Einsatzes am 24. und 26. Dezember „verstimmt“, hörte man. Partei und Gewerkschaft enthielten sich jeder Stellungnahme. Da die sowjetische Generaldirektion ihre angebliche „Verstimmung“ nicht offiziell äußerte, blieb der wahre Sachverhalt unklar. Vielleicht versteckten sich auch andere hinter ihr.
Dann war da die Sache mit den Zitronen im HO-Verkaufsstand. Es gab pro Kopf eine. Nachdem die erste Kiste leer war, sagte die Verkäuferin: „Jetzt ist Schluß, Dr. K. hat den Verkauf verboten.“ Dr. K., unser „Chefemaillierer“, war Nationalpreisträger und hatte viel zur Qualitätsverbesserung der Emaille beigetragen. Aber das berechtigte ihn in unseren Augen noch lange nicht zu seinem arroganten Verhalten. Er hatte nämlich seine Sekretärin mit einem Zettel nach Zitronen geschickt und von der Verkäuferin - wie jeder andere auch - nur eine bekommen. Daraufhin erließ er ein generelles Verkaufsverbot, und man trug die Zitronenkisten vor den Augen der Kumpel weg. So wurden bereits vorhandene Spannungen noch unnötig gesteigert.
Einen Kumpel erwischte man, als er sechs Briketts mitgehen lassen wollte und verurteilte ihn danach zu einem Jahr Zuchthaus. Später wurde das Urteil annulliert, aber zunächst stand es erst einmal im Raum und sorgte in der Belegschaft für Zündstoff.
Meine Meinung zu all diese Ungereimtheiten und schädlichen Vorgängen schrieb ich an unsere Betriebszeitung, den „Hüttenarbeiter“. Aber die meisten kritischen Hinweise wurden bereits vor der Veröffentlichung abgewürgt. Man setzte sich nicht mit den aufgeworfenen Problemen, sondern mit mir auseinander, weil ich mich dazu äußerte. Eigenartigerweise wurden meine unveröffentlichten Kritiken in der Blockstraße stets rasch bekannt. Die Kollegen klopfte mir anerkennend auf die Schulter und versicherten, ich sei „ihr Mann“. Doch „die SED“ würde so etwas nie in ihrer Zeitung bringen. Tat sie auch nicht. In den Erwiderungen hieß es immer nur: „Nenne uns die Person, die dies oder das gesagt hat, dann werden wir uns mit ihr auseinandersetzen.“ Das sei ganz falsch, schrieb ich. Die Menschen würden nur zum Schweigen gebracht, aber die Gefahr sei dadurch nicht beseitigt.
Wegen meiner kritischen Berichte besuchten mich zwei Genossen von der Bezirksredaktion der „Freiheit“ sogar zu Hause. Wir diskutierten lange - auch über die Rolle der Partei als Vortrupp der Arbeiterklasse. Ich hatte dazu grundsätzlich keinen Einwand. Mir ging es ja nur darum, daß dieser Vortrupp den Massen nicht gar so weit vorauseilte und ihnen immer noch sichtbar blieb.
Inzwischen befanden wir uns im Frühsommer 1953, und das Faß war auch anderenorts so voll, daß es der nächste Tropfen zum Überlaufen brachte. In Ballenstedt kam es am 17. Juni allerdings nicht zu öffentlichen Ausschreitungen oder betrieblichen Streiks. Lediglich im VEB Gummiwerk wurden die Bilder unserer Staatsfunktionäre von den Wänden des Kulturraumes bzw. Speisesaales gerissen und außerdem die Entlassung des Parteisekretärs, Genossen B., erzwungen. Er hatte sich sehr aktiv für die Verwirklichung der vor dem 9. Juni 1953 gültigen Beschlüsse eingesetzt. Die übergeordneten Leitungen ließen Genossen B. danach regelrecht fallen. Nicht einmal beim Arbeitsgericht erhielt er Unterstützung und mußte sich selbst nach einer anderen Tätigkeit umsehen.
Der Monats- und Quartalsplan wurde trotz Rohstoffschwierigkeiten übererfüllt. Die örtliche Volksbuchhandlung lieferte neue Bilder der Staatsfunktionäre - und alles ging den gewohnten Gang.
Anders war es bei meinem inzwischen verstorbenen Freund Ludwig W. - Schichtarbeiter im Gummiwerk und ein einfacher, ehrlicher Mensch, dessen Vater seinerzeit die KPČ der Tschechoslowakei mitbegründet hatte. Seit frühester Jugend in der Arbeiterbewegung organisiert, parteiergeben und zu jeder Mitarbeit bereit, war er aber weder Rhetoriker noch Diplomat. Man wählte ihn in die Kreisleitung, obwohl er auf seine Schwächen hinwies. Danach arbeitete er redlich mit, soweit das seine Schicht zuließ, Aber als die übergeordneten Leitungen den ehemaligen Parteisekretär des Gummiwerkes, Genossen B., nach dem 17. Juni 1953 so schäbig behandelten, legte er seine Funktion nieder: aus Angst, selbst Fehler zu machen und danach ebenfalls brotlos zu werden. Daraufhin schloß ihn die Kreisleitung Quedlinburg wegen „kapitulantenhaften Verhaltens“ aus der Partei aus.
„Siehste wohl“, sagten seine Kollegen danach zu ihm, „das habt Ihr nun davon, daß ihr Euch so für Eure Partei eingesetzt habt.“
„Die alte Leier“, sagte Genosse H. zu mir, als er nach dem 17. Juni in die „Freiheit“ schaute. Auch ich wunderte mich und schilderte in zwei umfangreichen Beiträgen für diese Zeitung die schwierige Situation nach den Juniereignissen. Sie wurden zwar nicht veröffentlicht, aber die Bezirksredaktion nahm am 10. Juli in einem langen, belehrenden Artikel zu ihnen Stellung, und eine Woche später attackierte mich ein Volkskorrespondent ebenso ausführlich. Immerhin wußte danach in Ballenstedt jeder, was ich geschrieben hatte. Nicht nur Oberschüler, sondern auch die Mitglieder unserer Ortsparteileitung stimmten mir zu. Ich hatte sie über alle meine Aktivitäten informiert und schließlich kannten sie die Situation ebenso gut wie ich.
Wenige Tage nach den Veröffentlichungen der „Freiheit“ fand eine Ortsleitungsitzung statt, in der mich der Sekretär fragte: „Bist du noch für unsere Partei?“ Da ich laut und vernehmlich „Ja“ sagte, gingen wir zur Tagesordnung über.