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Prof. Dr. phil. habil. Eike Robert Kopf:
Mein Weg in die DDR war mein Weg ins Leben


Im Vergleich zu den Kommunisten, Sozialdemokraten und anderen fortschrittlichen Kräften, die nach dem Tag der Befreiung des deutschen Volkes vom Hitlerfaschismus durch die alliierten Streitkräfte, vor allem durch die Rote Armee der Sowjetunion, am 8. Mai 1945 darangingen, das Leben der Bevölkerung zu sichern und mit vollem Recht als Aktivisten der ersten Stunde bezeichnet werden, bin ich ein „junger Spund“.

Da ich im November 1940 geboren wurde, war ich zur Zeit des großen Fackelzuges am Abend des 11. Oktober 1949, mit dem die Freie Deutsche Jugend die DDR, insbesondere ihren ersten Präsidenten Wilhelm Pieck und das Präsidium der Volkskammer mit seinem Präsidenten Johannes Dieckmann in Berlin stürmisch begrüßte, knappe neun Jahre alt, ging also gerade einen guten Monat in die dritte Klasse der Grundschule. Ich weiß davon nur noch, daß eines Vormittags der Unterricht unterbrochen wurde, um über den Schulfunk eine Ansprache Wilhelm Piecks zu hören, dessen Stimme kraftvoll und väterlich zugleich wirkte. An Inhalte der kurzen Übertragung kann ich mich nur noch insoweit erinnern, als darin vom friedlichen Aufbauwerk die Rede war, um den heranwachsenden Mädchen und Jungen einen erneuten Krieg zu ersparen.

Ich habe nichts Außergewöhnliches zu berichten, schon gar nichts Heldenhaftes oder Vorbildliches. Ich will nur zeigen, daß die antifaschistisch-demokratische Ordnung in der Sowjetischen Besatzungszone Tausenden Kindern wie mir aus bescheidenen Verhältnissen eine vielseitige Entwicklung ermöglichte. Meinen Rufnamen habe ich dem Landarzt Henning aus Großengottern zu verdanken, der fünf Jahre zuvor einen seiner Söhne, den meine Mutter als Kindermädchen betreute, nach dem Autor des „Sachsenspiegels“1, des ersten deutschen Rechtsbuches (erstes Drittel des 13. Jahrhunderts), Eike von Repgow (= Reppichau bei Dessau) benannt hatte. Mein zweiter Vorname war zugleich der meines Großvaters väterlicherseits.

Ich wurde in Bollstedt geboren, einem Dorf mit damals über 1.000 Einwohnern. Es liegt 6 km östlich vor Mühlhausen/Thüringen und wurde im Jahre 876 erstmalig urkundlich erwähnt. Die Ortsbezeichnung scheint darauf hinzuweisen, daß es sich früher um eine Bolestadt, um eine mit vielen Bo(h)len gebaute und befestigte Siedlung oder um ein Bollwerk, um eine Verteidigungsstätte bzw. um einen vorgelagerten Posten der Freien Reichsstadt Mühlhausen gehandelt hat. Zwischen der damaligen Nordgrenze der Stadt Mühlhausen und dem Fluß Unstrut befand sich im frühen Mittelalter eine Kaiserpfalz. Wenn der Kaiser und sein Gefolge auf der Heerstraße von Bothenheilingen, also von Osten kommend, zur Pfalz wollten, mußten sie vermutlich bei Bollstedt einen flachen Durchgang durch die Unstrut nehmen (sonst hätten sie auch noch das Flüßchen Notter und das anschließende Sumpfgebiet durchqueren müssen), nämlich die „Kaiserfurt“, um auf dem Marktweg trockenen Fußes nach Mühlhausen zu gelangen. Die Bezeichnung „Zur Kemenate“ im heutigen „Neuen Dorf“ weist auf eine um einen Kamin befestigte Unterkunft (Kammer) aus dieser Zeit hin. Auch wären die Straßenbezeichnungen „Vor dem Tore“, nicht weit vom westlich des Ortes gelegenen „Heiligendamm“ (möglicherweise angelegt auch als Schutz vor den Wassermassen der damals unregulierten Unstrut und Notter), „Vor dem Riedtor“ und „Brückentor“ unsinnig, wäre Bollstedt damals nicht befestigt gewesen. Es gibt neuere Diskussionen darüber, ob Vorfahren des in Lauingen in Schwaben geborenen „Alberts des Großen [Albertus magnus; 1193-1280] aus dem Geschlecht der Edlen von Bollstädt“2, also des eigentlichen Begründers der Scholastik und größten deutschen Theologen und Philosophen des Mittelalters, aus meinem Heimatdorf stammen.

Fast am Schluß des 4. Kapitels des VI. Buches von Wilhelm Zimmermanns „Der große deutsche Bauernkrieg“ kann man lesen, daß der Prediger und Anführer der aufständischen Bauern und Bürger, Thomas Müntzer, aus dem tiefen Turm zu Heldrungen, wo er am 17. Mai 1525 gefoltert worden war3, am 25. Mai in das fürstliche Lager vor Mühlhausen geholt worden ist. „Nach dieser Rede schwieg Müntzer und erwartete den tödlichen Streich. Herzog Heinrich von Braunschweig, der wähnte, ein Geist wie Müntzer mit solchen Überzeugungen und Grundsätzen, werde, wie es Brauch war, wie ein anderer armer Sünder das Kredo vorher noch herbeten, und meinte, die Todesfurcht nur lasse ihn die Worte nicht finden, betete ihm den apostolischen Glauben vor. Dann fiel der Streich, sein Rumpf wurde gespießt, der Kopf am Schadeberg auf einen Pfahl gesteckt, Pfeifers Kopf am hohlen Wege nach Bollstedt zu, wo der letztere noch lange Zeit zu sehen war.“4 Am Fuße des Schadeberges, der zwischen Bollstedt und Mühlhausen liegt, verlief der Marktweg, auf dem die Bollstedter Bauern - auch zu meiner Zeit noch - ihre landwirtschaftlichen Produkte in die Stadt brachten.

Mein Vater (1903 - 1963) stammte aus einer Kleinbauernfamilie mit zwölf Kindern und arbeitete als Landarbeiter, Melker und Milchkontrolleur. Er war arbeitsam und bescheiden; sein Lebensziel waren ein Häuschen und ein paar Morgen Land, um die Familie zu ernähren. Wegen eines Herzfehlers wurde er erst nach dem Überfall auf die Sowjetunion eingezogen. Ein Brief, den mein Vater am 12.12.1942 aus Westfalen (er sei beim Bodenpersonal eines Flugplatzes, sagte meine Mutter) an seine Schwester geschrieben hatte, zeigt in erschütternder Weise, wie sehr die herrschenden Kreise die große Mehrheit des deutschen Volkes für ihre Interessen manipuliert hatten: „Es hat überhaupt ein Jeder auf seinem Platze seine Pflicht zu erfüllen, und mancher im Zivilrock ist schlimmer dran als wir. Was sind denn schon unsere Sorgen. Löhnung und Urlaub freilich, auch sorgt man sich um die Familie, doch die Sorgen hat auch jeder Andre. Ich weiß zu gut, daß sooft Alte zu Hause mehr Arbeitsstunden am Tage haben als wir und oftmals auch mehr Sorgen. Bald ist es nun wieder Weihnachten, und wenn wir im vorigen Jahr aussprachen, daß uns diese Weihnachten den Frieden bringen mögen, sind wir jetzt still, weil wir sehr gut wissen, daß uns auch im nächsten Jahr die Weihnachten den Frieden nicht bringen kann. Das neue Jahr wird uns die große Entscheidung zwischen Europa und den U.S.A bringen, während in Rußland der Kampf weiter geht. Es wird die größte Kraftprobe für uns Deutsche werden, doch wird Spanien auch hinzukommen. Die Zukunft fordert starke Herzen von uns und [wir] müssen uns zusammenreißen und dem Führer vertrauen, er wird dann siegreich bleiben. Wir sind eigentlich durch den Christenglauben dem Vaterlande etwas fremd geworden, wir suchen unseren Gott in uns fremden Dingen. Sieht man im Vaterlande unseren Gott, so versteht man den Kampf eher, und man steht nicht mit all zu großer Furcht vor dem Heldentod. Man muß den Heldentod als die höchste Vollendung sehen, und die toten Kameraden als gottgeweihte Helden sehen, sonst ist es unfaßbar und schwer zu ertragen.“ So dachte ein „armer Schlucker“, der sich bei schwerer Arbeit auf dem Felde oder im Stall am wohlsten fühlte, vor der Stalingrader Schlacht.

Meine Mutter (1912 - 1982) stammte aus einer ärmlichen Familie mit neun Kindern; sie hatte keinen Beruf erlernt. Während mein Vater die evangelische Religion ernst nahm und beim Singen im Kirchenchor oder beim Gottesdienst eine Erbauung empfand, war das bei meiner Mutter nicht der Fall; sie besuchte nur am Heiligabend die Christmette oder ging zu Taufen oder Hochzeiten in die Kirche sowie zu Begräbnissen auf den „Gottesacker“. Ihre Hauptsorgen waren die Ernährung, Bekleidung und gedeihliche Entwicklung von uns fünf Kindern.

Wir bewohnten in der Riedstraße 79 die erste Etage eines alten Miethauses aus Fachwerk und Lehm. Zur Wohnung gehörten eine kleine Küche, eine größere und eine kleine Stube, ein Flur und eine schmale Speisekammer. In der kleinen Kammer schliefen wir Jungen zu zweit in zwei Betten; es paßten gerade noch zwei Stühle für unsere Kleidung hinein, die kleine Kammer und der mit Estrichboden versehene Flur waren sehr abschüssig, denn die hintere Fachwerkwand war unterhalb der Decke des ersten Stockwerkes auf der gesamten Breite eingeknickt und hatte sich an die Steinwand des daneben gebauten Stall- und Schuppengebäudes gelehnt. Das Koch- und Waschwasser mußten wir von der Pumpe oder aus einem Ziehbrunnen auf dem Hof in Wassereimern nach oben bringen. In einem flachen Keller, der nur einen Meter hoch war, lagerten wir Kartoffeln und Kohlen. Wir Kinder waren von unserem Wuchs her wie geschaffen für diese Arbeiten; selbst wir mußten die schweren Weidenkörbe in gebückter oder gehockter Haltung transportieren und möglichst hoch ausschütten. Das Brennholz sowie das Brot- und Futtergetreide bewahrten wir ganz oben auf dem Dachboden auf. Außerdem konnten wir noch die Waschküche auf dem Hof und einen Koben für ein Schwein im Stall mit benutzen. Das hölzerne Toilettenhäuschen befand sich auf dem Hof hinter dem Misthaufen.

Die frühesten Erinnerungen habe ich an Menschen, die mit Schaufeln den Schlamm von unserer unbefestigten Straße zusammenkratzten; meine Mutter sagte uns, das seien Polen. Einmal hörte ich Erwachsene munkeln, daß Bollstedter SA-Leute, darunter einer, dessen zwei einzige Söhne seit der Schlacht bei Stalingrad vermißt waren, die polnischen Zwangsarbeiter „verdroschen“ hätten. Das sei in dem Keller des zur Schule gehörenden Lehrerhauses gewesen, wo man sie eingesperrt hatte. Einmal, als mein Vater auf Urlaub war, sah ich eine Waffe, und zwar sein Seitengewehr, mit dem er den Feind abwehren müsse. Auch erinnere ich mich an einen Fliegeralarm, wahrscheinlich im Februar 1945. Ein Verband anglo-amerikanischer Flugzeuge flog, aus Richtung Kassel kommend, Mühlhausen an und bombardierte dann aber Nordhausen, weil sich Mühlhausen in letzter Minute ergeben habe. Meine Mutter ging während des Alarms mit uns Kindern in den größeren Keller des zum gleichen Hof gehörenden gegenüberliegenden Hauses.

In unserer Flur gab es keine Kampfhandlungen; bei Struth, nordwestlich von Mühlhausen, hätte eine Panzereinheit der SS gegen die Amerikaner gekämpft. Und von dem Plan war die Rede, die große eiserne Brücke vor dem Anmarsch der Amerikaner sprengen zu wollen, über die unsere Kleinbahn (wegen ihres Läutens „Bimbelchen“ genannt) nach Mühlhausen fahren mußte, um die Unstrut bei Einmündung des Flüßchens Notter zu überqueren. An den Einmarsch der Amerikaner im April 1945 erinnere ich mich gut. Sie schenkten uns ab und zu Kaugummi oder Schokolade und saßen lässig in ihren Jeeps oder in den Fenstern der Häuser, in denen sie einquartiert waren.

Anfang Juli 1945 zogen die amerikanischen Truppen ab, und die Rote Armee besetzte die in Jalta beschlossene Besatzungszone, zu der Thüringen gehörte. Das bedeutete für uns zuerst, daß von den sowjetischen Soldaten in der großen Scheune und im Hof unseres Hauses eine Herde unterwegs eingesammelter versprengter Kühe untergebracht wurde und mein Vater den Auftrag erhielt, die Tiere zu versorgen und zu melken, damit die armen Kinder des Dorfes jeden Tag kostenlos Milch erhalten konnten. Dieses praktische, auf die Sicherung des Lebens der werktätigen Massen orientierte, Verhalten von Einheiten der Roten Armee paßte so gar nicht in das meinem Vater bis zum Kriegsende eingebleute Bild vom „barbarischen bolschewistischen Untermenschen“ und verursachte Nachdenken.

Von der „großen Politik“, also von den antifaschistisch-demokratischen Reformen jener Jahre, die der Sache nach ja gesellschaftlich umwälzend waren, war in Bollstedt wenig zu spüren. Als Bestandteil der Verwaltungsreform 1945 wurde an Stelle des damals schon alten Dorfschulzen Reinhold Huhn der Kriegsverwundete Ahlers (er hatte ein Bein verloren) Bürgermeister und wohnte sogar, wie auch wir, in einem Haus des vormaligen Schulzen zur Miete. Der Bürgermeister war zugleich die Ortspolizeibehörde; ab und zu sah der auch für Bollstedt zuständige Gendarm, der im Nachbardorf Görmar wohnte (und mit Fahrrad und Tschako kam), nach dem Rechten. Hinsichtlich der Schulreform 1945/1946 hörten wir nur, daß Rektor Bernd als Leiter der Schule aufhören mußte. Die Lehrer, die uns unterrichteten (einige von ihnen waren noch zur Wehrmacht eingezogen), waren Neulehrer (zwei von ihnen waren Mitglieder der SED, einer der LDPD). Wie uns unsere Lehrer später bei Klassentreffen berichteten, waren sie in den ersten Jahren nach dem Kriegsende in Bollstedt häufig bei den Bauern zum Agitationseinsatz unterwegs, damit sie das Ablieferungssoll rechtzeitig und vollständig erfüllen; bei Nichterfüllung drohte sogar Haft. Da es in Bollstedt keine Grundeigentümer mit mehr als 100 ha Land gab, gab es im Herbst 1945 bei uns auch keine Bodenreform. Auch gab es bei uns keine Unternehmen eines Kriegsverbrechers, das infolge des Volksentscheides von Sachsen am 30. Juni 1946 hätte entschädigungslos enteignet werden müssen. Insofern war mein Bollstedt in meiner Empfindung und Erinnerung ein ganz „normales“ Dorf, in dem wenig Aufregendes passierte.

Eine für die Geschichte des Dorfes qualitativ neue Situation entstand dadurch, daß in dem bis dahin etwa 1.000 Einwohner zählenden Bollstedt ab Mitte 1945 300 weitere deutsche Bewohner unterzubringen waren, die auf Grund der alliierten Beschlüsse von Potsdam aus den ehemaligen deutschen Gebieten, die östlich der Oder-Neiße-Linie lagen, umgesiedelt wurden. Die Einheimischen nannten sie „Umsiedler“ oder häufig „Evakuierte“ - was meistens so klang wie „Hungerleider“. So saßen ab 1945 in den Schulklassen nicht selten 30 und mehr Schüler, während etwa 20 Jahre später durchschnittlich 10 Kinder jeden 1. September ihre Schulzeit begannen. Selbstverständlich gab es allgemein zu wenig Nahrung, Kleidung, Wohnraum, Heizmaterial, Medikamente usw. Aber die im großen und ganzen problemlose Einbürgerung dieser umgesiedelten Menschen vollzog sich vor allem dadurch, daß alle, Einheimische wie Umsiedler, mit ihren eigenen Händen handwerkelten, zusammen in der Stadt oder bei Bauern des Dorfes arbeiteten, nachbarschaftlich wohnten, sich nach und nach kennenlernten oder auch ehelichten. Die Einbeziehung dieser für die Alteingesessenen neuen Menschen wurde bei uns, wie in der gesamten Sowjetischen Besatzungszone, politisch zielgerichtet betrieben; sie wurden nicht von vornherein als revanchistisches „Faustpfand“ entwickelt. Mehr noch, gerade aus ihren Reihen kam - sie waren in alte dörfliche Beziehungen Bollstedts nicht eingebunden - so manche Anregung für neue Wege in der Gestaltung des öffentlichen Lebens; unter ihnen waren Lehrer, wenige (aber im Dorf meines Wissens fast die einzigen) Angehörige der Arbeiterbewegung und der Freien Deutschen Jugend. Aus ihren Reihen kamen in den ersten Jahren nach 1947 auch relativ mehr Mitglieder der Pionierorganisation als von den einheimischen Bewohnern, deren Kinder außerhalb der Schulzeit viel in der Landwirtschaft zu helfen hatten und so z. B. an den Ferienspielen nicht teilnehmen konnten.

Nahrungsmittel gab es auf Lebensmittelkarten, Schuhe (z. B. aus Kunststoff) und Kleidung auf Bezugsscheine in Walter Müllers Dorfkonsum in der Hauptstraße oder in Otto Thons Kolonialwarengeschäft bei der Kirche. Ich habe noch immer den Stammabschnitt der Lebensmittelkarte von Frau Marie Knorr, einer aus dem Sudetengebiet evakuierten Nachbarin, als Andenken an diese Zeit: „Land Thüringen. Lose Abschnitte sind ungültig. Bei Verlust der Karte kein Ersatz. Gesamt-Lebensmittelkarte (Hauptkarte) II/4. OKT. 49. Tagesration: Nährmittel 20 g, Fleisch 20 g, Fett 10 g, Marmelade 30 g; Zusatz zur Monatsration: Fett 50 g“. Am Wochenende belegte unsere Mutter ein rundes Backblech von knapp 1 m Durchmesser, meistens Streuselkuchen, weil der am besten sättigte. Zu Geburts- oder Feiertagen machte sie auch Quark-, Mohn- oder Obstkuchen. Wir hatten die Bleche auf dem Kopf ins Backhaus Werner zu bringen und wieder abzuholen. Im Schlamm nach Regenwetter war das manchmal eine rutschige Angelegenheit, zumal uns bei einem Malheur eine Tracht Prügel sicher war. Die Hand meiner Mutter „saß sehr locker“; wenn wir etwas nicht ordentlich gemacht hatten, gab es „eine hinter die Ohren“ oder mehrere Schläge auf das Hinterteil. Milch holten wir „lose“, also in einem Milchkännchen (Henkelbraut) schräg gegenüber bei Fritz Vollrath, der auch jeden Morgen mit seinen zwei Pferden die von den Bauern herausgestellten Milchkannen auf den gummibereiften Wagen mit den drei herunterklappbaren Seitenplanken einsammelte und 4 km nach Görmar in die Molkerei transportierte.

Mein Vater arbeitete nach dem Kriege als Milchleistungsprüfer auf den Volkseigenen Gütern des Landes Thüringen; d. h. einmal im Monat prüfte er den Fettgehalt der Milch wegen der Festlegung der Vergütung durch die Molkereien. Dorthin fuhr er mit einem - anfangs vollgummibereiften - Dienstfahrrad (auf dem wir Jungen auch das Radfahren lernten). Wenn er alle 14 Tage am Wochenende nach Hause kam, half er bei Mittelbauern. So durfte er sonntags ein Pferd, einen Ackerwagen und Geräte benutzen, um einen gepachteten Morgen Land im Flurstück „Im Schlufter“ zu bearbeiten. Er baute jedes Jahr wechselnd einen halben Morgen mit Kartoffeln, den anderen mit Weizen an. Bei Pflegearbeiten und bei der Ernte mußten wir von Jahr zu Jahr immer mehr helfen. Oder mein Vater holte eine Fuhre Weidenholz und Reisig, das wir Kinder dann in den nächsten Tagen zu hacken, zu bündeln und auf den Boden zu bringen hatten. Wichtiges Brennmaterial - z. B. für das Heizen des großen Kupferkessels im Waschhaus beim Hausschlachten oder beim Kochen von Rübensirup - waren auch dürre Mohnstengel, die wir bündelweise im Herbst von den Feldern der Bauern nach Hause brachten. Ährensammeln, das Sammeln von Brennesseln oder Disteln als Futter für die kleinen Gänse, für die Ziege und das Schwein, das Füttern und Ausmisten sowie das Gänsehüten gehörten ebenfalls zu unseren Pflichten.

Da hatten wir also wenig Zeit zum Spielen. Es war schon ein Ereignis, wenn wir ab und zu am Ende unserer Straße hinter Walter Kleys Haus erst mit Stoff-, dann mit Gummibällen Fußball spielen konnten. Aber meist war die Freude kurz, denn wenn es unserer Mutter zu ruhig auf dem Hof war und sie von uns nichts mehr hörte, rief sie so unnachahmlich und laut nach uns, daß wir uns schnellstens wieder an der Straßenseite nach Hause scherten. Unser Vater wollte jedes Mal, wenn er nach Hause kam, von meiner Mutter wissen, ob wir alle „pariert“ hätten. War das nicht der Fall, dann verabreichte er uns je nach „Vergehen“ eine ihm angemessen erscheinende Zahl Schläge auf den nackten Hintern (und seine Hand habe ich als kräftig in Erinnerung). Dabei sagte er oft: „Ich werde Euch schon erziehen!“ So hatte das Wort „erziehen“ für mich ursprünglich einen unangenehmen Beigeschmack.

Den Winter 1946/1947 habe ich auch noch in Erinnerung, denn er war sehr streng. In unserer Straße war der Schnee an beiden Seiten so hoch geschaufelt, daß wir kaum darüber hinwegsehen konnten. Schlittenfahren war da unsere Lieblingsbeschäftigung, denn die Schlittschuhe, die man mit einer kleinen Kurbel an den Schuhsohlen festschraubte, rissen bald (die nicht ledernen) Sohlen ab. Als Kopfbedeckung dienten uns Schildmützen, an denen man den Ohrenschutz herunterklappen konnte. Socken und Handschuhe strickte uns unsere Mutter. Anfang März 1947 wurde es wärmer, die Schneeschmelze hatte am 14. März, dem dritten Geburtstag meines jüngsten Bruders Dieter (der dann noch lange meinte, er habe Geburtstag, wenn es wieder Hochwasser gibt), eine Überschwemmung zur Folge. Mit allen schwimmfähigen Mitteln, vor allem in hölzernen Waschtrögen, paddelten die Einwohner z. B. zum Backhaus, um ihre fertigen Kuchen zu holen.

Im Sommer 1947, vor meiner Einschulung, verbrachten ich einige Wochen bei der Schwester meines Vaters, Tante Grete, in Bleicherode und mein eineinhalb Jahre älterer Bruder Helmut bei der Schwägerin meines Vaters, Tante Gertrud, im Heimatdorf meines Vaters Lipprechterode. Auch dort halfen wir bei der Feldarbeit. Dieses Ereignis ist deshalb in meinem Gedächtnis haften geblieben, weil es mit einem nicht geplanten Gewaltmarsch endete. Mein Vater kam aus Bollstedt, um uns wieder abzuholen. Wir mußten dazu erst die 2 bis 3 km von Bleicherode nach Gebra (Hainleite) zum Bahnhof laufen, um dann von dort über Leinefelde und Mühlhausen nach Bollstedt zu fahren. Just an diesem Wochenende war jedoch ein anderer Fahrplan in Kraft getreten, so daß die Anschlußzeiten der Züge, die sich mein Vater aufgeschrieben hatte, nicht mehr stimmten. Nun marschierten wir zu dritt in der Sommerhitze zunächst nach Sollstedt mit seinem Kalischacht. Der bei dem Wetter steinharte rote Boden machte das Laufen mit dem ganzen Gepäck nicht gerade angenehm. Auch in Leinefelde stellte sich heraus, daß in den nächsten Stunden kein Zug mehr fahren würde; und so ging es zu Fuß weiter. Nach und nach hatten wir die mitgegebenen Brote gegessen und den Lindenblütentee getrunken. Schließlich mußten wir die Hühnereier, die uns eigentlich für unsere Mutter zum Backen mitgegeben worden waren, auf Anordnung unseres strengen Vaters roh austrinken, nachdem wir sie an beiden Enden angeschlagen hatten. In der Nacht kamen wir endlich in Mühlhausen an; in dem Dorfe Görmar klopfte mein Vater bei Bekannten und erbat einen Handwagen, auf den er uns setzte und die letzten 4 km nach Bollstedt samt Gepäck zog. Wir Kinder waren also mit unseren 8 bzw. 6 ½ Jahren an diesem Tag über 30 km gelaufen!

Was mich bis zum Beginn meiner Schulzeit gedanklich beschäftigte, hatte ich zu zeichnen versucht. Für mich begann also am 1. September 1947 die Schulzeit, auf die ich mich schon lange gefreut hatte. Übrigens: Vier Wochen später wurde meine Schwester Regina (endlich ein Mädchen!) geboren. Aber mich interessierte vor allem die Schule; der Schulleiter war Herr Böhning, meine Klassenlehrerin Fräulein Giese. Wir waren etwa 30 neue Schüler. Wir saßen in stabilen Holzbänken mit eingelassenen Tintenfässern und hochklappbaren Schreibflächen. Im Schulranzen waren die Fibel (Lesebuch), das Rechenbuch, die holzumrahmte Schiefertafel mit Schwamm und Griffelkasten. Jedes Jahr, kurz vor Weihnachten, veranstaltete die Grundschule auf dem Saal der Gemeindeschenke einen Elternabend. Ich durfte ein Gedicht aufsagen, wozu mir meine Mutter einen weinroten Anzug mit kurzer Hose gestrickt hatte (unangenehm im Zusammenhang mit dem Tragen der kurzen Hosen waren die langen braunen Webstrümpfe, denn die mußten mit Leibchen, Strumpfhaltern und Knöpfen gehalten werden). Das Gedicht konnte meine Mutter bis zu ihrem Lebensende: „Erst war ich klein, / jetzt bin ich groß, / lern’ rechnen, lese, schreiben, / sitz’ nicht mehr auf der Mutter Schoß, / mag nicht zu Haus mehr bleiben. / Und in der Schule paß’ ich auf, / damit ich etwas lerne. / Dann hat mich auch - ich wette d’rauf - / meine Lehrerin recht gerne!“ Das Aufsagen klappte - auch mit der Betonung, wie sie mir meine Mutter eingeprägt hatte; und ich dachte da auch wirklich an unser Fräulein Giese, zu der ich bei den letzten Worten hinüberschaute. Der Beifall der Eltern war der schönste Lohn für die jahrelangen Sorgen und Mühen meiner Mutter (mein Vater war - es war wochentags - wieder auf den Gütern zur Arbeit). Auf meinem Zeugnis der „Deutschen Einheitsschule. Grundschule (8stufig) zu Bollstedt“ vom 3.VII.48 steht u. a.: Bemerkungen: Betragen und Fleiß sind gut. Die Aufmerksamkeit ist sehr gut. Leistungen: Schreiben gut. Lesen und Rechnen sehr gut.“ Auf dem Zeugnis der 3. Klasse heißt es in der Allgemeinen Beurteilung: „... oft sehr flüchtig und vorlaut: Sein Benehmen mußte öfters getadelt werden.“ Das hat meiner Mutter, die prinzipiell alle unsere Zeugnisse unterschrieb, wenig gefallen, und gelobt hat sie mich dafür auf keinen Fall.

Ein Jahr nach mir kam auch mein nächst jüngerer Bruder Adolf (1942 -1996) in die Schule. Auch er lernte fleißig und gut, wie auch schon Helmut, der da in die 4. Klasse ging. Daher ging unsere Mutter auch gern zu Elternabenden in die Schule. Denn sie wußte, daß sie auf die Frage, wie denn so ihre Jungen lernen, vor den anderen Müttern die Antwort zu hören bekam, daß sie sich keine Sorgen zu machen brauche und soweit alles in Ordnung sei.

Aber die Versorgung von fünf Kindern wollte unter den damaligen Verhältnissen der Nachkriegsjahre erst einmal geschafft sein! Im Versichertenausweis der Sozialversicherungsanstalt Thüringen bescheinigte der Milchviehverband Thüringen r. V. mit Sitz in Weimar, daß mein Vater vom 1.1. bis 31.12.1948 einen Arbeitsverdienst von 2.700,50 Reichsmark bezogen hat; d. h. monatlich durchschnittlich 225,04 RM! Der Dienstausweis Nr. 14 vom 1. April 1948, ausgestellt in deutscher und russischer Sprache, bestätigt, daß Herr Hermann Kopf „als Zuchtwart von der Landesstelle für Milchleistungsprüfungen im Ministerium für Versorgung - Amt für Land- und Forstwirtschaft - angestellt und mit der Überwachung der Durchführung der Milchleistungsprüfungen und sonstiger ernährungswichtiger Aufgaben in seinem Dienstbezirk Krs. Mühlhausen betraut [ist]. Alle militärischen und deutschen Dienststellen werden gebeten, ihm bei Ausübung seiner Tätigkeit Schutz und Hilfe zu gewähren. Da Herr Kopf infolge seiner Außendiensttätigkeit auf die Benutzung der Eisenbahn und öffentl. Verkehrsmittel angewiesen ist, wird gebeten, ihm zur Durchführung seiner Tätigkeit alle erforderlichen Fahrtausweise einzuhändigen.“

Ab 1947 kamen immer mehr Stadtbewohner und Umsiedler, um Wäsche und andere wertvolle Dinge bei Bauern gegen Nahrungsmittel einzutauschen. Viele von ihnen mußten mit der Eisenbahn in Richtung Langensalza-Gotha-Erfurt zurückreisen. Der von Bollstedt am nächsten gelegene Bahnhof an dieser Hauptstrecke, die in der Gegenrichtung nach Mühlhausen-Leinefelde führte (der Bollstedter Bahnhof lag an der Nebenstrecke Mühlhausen-Ebeleben), war Seebach. Unsere Mutter ließ sich vom Tischler Walter Kleinschmidt einen Handwagen bauen, auf dem wir Jungen die Koffer und Säcke der Tauschenden auf deren Bitte hin die 4 km am Bahndamm entlang bis Seebach transportierten und dafür ein paar Mark Belohnung erhielten. Wenn wir am Bahnhof Seebach gefragt wurden, ob wir mit dem Handwagen noch einen Transport zum gut 2 km entfernten Dorf Höngeda (bergauf) machen könnten, sagten wir selbstverständlich zu. Für die größere Anstrengung, die der Umweg machte, wurden wir etwas dadurch entschädigt, daß wir vom Höngedaer Köpfchen die abschüssige Straße nach Bollstedt auf dem Handwagen sitzend und die Deichsel mit den Füßen steuernd hinunterfahren konnten. Unsere Mutter bewahrte zu Hause das Geld auf, weil sie uns davon etwas zum Anziehen kaufen wollte. Vom 24. - 28. Juni 1948 wurde in Antwort auf die separate Währungsreform vom 18. Juni der drei Westzonen (Trizone) und die damit vollzogene faktische Spaltung Deutschlands in der Sowjetischen Besatzungszone das Geld umgetauscht. Wir erhielten für unsere 428 RM, die wir uns „erwirtschaftet“ hatten, 42 RM und 80 Pfennige ausgehändigt. Die Geldscheine waren die gleichen; sie waren nur mit einem aufgeklebten Kupon versehen (wohl ein Zeichen dafür, daß die Sowjetische Militäradministration von dieser Spaltungsmaßnahme der Westmächte überrascht worden war).

In dieser Zeit waren „gute Butter“ (im Unterschied zu Margarine), Bohnenkaffee oder Kakao Mangelware. Einmal brachte meine Mutter eine runde Konservendose Bücklinge mit, die sie von jemand eingetauscht hatte, der sie aus dem Westen bei Treffurt über die Zonengrenze geschmuggelt hatte. Wir Kinder kannten so etwas nicht; für meine Mutter war es ein Genuß. Meistens gab es mittags Eintopf: Erbsen-, Bohnen-, Kartoffel-, Graupen- oder Möhrensuppe (dazu gingen wir im Winterhalbjahr zu Bauern, um uns vom Hausschlachten Fleisch- oder Wurstbrühe geben zu lassen), aber auch Pellkartoffeln mit Quark oder sonntags Salzkartoffeln mit Gurkensalat und ab und zu ein Ei. Morgens gab es zum Malzkaffee Sirup- oder Marmeladenbrot, nachmittags zum Malzkaffee ein Stück derben Kuchen und abends Brot mit etwas Blut- oder Leberwurst, Sülze oder Fett (Schmalz) vom hausgeschlachteten Schwein. Ein Streicheis kostete 10 Pf., eine Flasche Brause 20 Pf., eine Fahrt zur Kirmes am zweiten Sonntag im Juli auf dem Pferdekarussel 10 Pf. Und auf dem Kettenkarussel 20 Pf. Für eine Bahnfahrt von Bollstedt nach Mühlhausen (5 km) zahlten wir Kinder 20, die Eltern 40 Pf. (übrigens bestanden diese Preise bis 1990)!

Auf den Umschlägen unserer Schulhefte - das Stück 10 Pf. - war 1949 zu seinem 200. Geburtstag Johann Wolfgang von Goethe abgebildet, auch an das Bild von Johann Sebastian Bach (mit seiner Perücke) erinnere ich mich. Am 1. Mai 1950 hielt unser Schulleiter Böhning auf dem Schulhof eine Rede, daß nun seit 60 Jahren(!) an diesem Tage auf der ganzen Erde für die Rechte der Arbeiter gekämpft werde. Die Schulbücher bekamen wir jedes Jahr kostenlos. Täglich gab es vormittags für jeden Schüler kostenlos als Schulspeisung ein frisches großes Brötchen (mit etwas eingebackener Marmelade) von den Dorfbäckern August Werner oder Walter Siegmund.

Ungefähr 1952 nahmen Emma und Emil Kleinschmidt, die Tante und der Onkel von unserer Mutter, unseren ältesten Bruder Helmut zu sich. So hatte er Unterkunft und Verpflegung, Ruhe für die Schularbeiten und konnte Onkel Emil bei Sattlerarbeiten zusehen, wofür er sich zunehmend interessierte (ab 1953 lernte er im VEB Lederwarenwerk Mühlhausen, wo er anschließend bis zur Liquidierung seines Betriebes5 nach der „Wiedervereinigung“ 1990 gearbeitet hat). Andererseits war Helmut den Verwandten auch eine Hilfe, wenn die 5 ha Land mit der Kuh bearbeitet werden mußten oder andere Arbeiten zu erledigen waren. Für meine Eltern war das eine Entlastung des Familienbudgets.

Hatten mein Bruder Adolf und ich bis Frühjahr 1952 gelegentlich nachmittags und in den Schulferien bei Bauern geholfen, so wurde dies von da an mit dem Rübenvereinzeln bei Ewald Huhn (mit knapp 20 ha einer der größten Bauern im Dorfe) zu einer ständigen Beschäftigung in der Landwirtschaft. Bis zum Herbst 1952 erhielten wir pro geleistete Arbeitsstunde 50 Pf. Ich kann mich nicht daran erinnern, einen witterungsmäßig schlechteren Herbst als den des Jahres 1952 erlebt zu haben. In der Zeit, als die Kartoffeln und Rüben zu ernten waren, regnete es ständig so viel, daß die Kartoffeln zum zweiten Mal blühten. Hinsichtlich der Arbeit erlebte ich da meine „Feuertaufe“. Die mit dem Pferderoder herausgeschleuderten Kartoffeln waren bei Regenwetter in Akkordarbeit aufzulesen und einzusacken, bevor das Gespann mit dem Roder wieder an der gleichen Stelle war! Da wir als Kinder den Erwachsenen in der Arbeitsleistung nicht nachstanden, erhielten wir von da an - wie die Erwachsenen - 1 Mark pro geleistete Arbeitsstunde (das gab es sonst nur noch bei der schweren Arbeit des Hausdrusches im Spätherbst, wobei die Sackabträger 2 Mark erhielten). Hinzu kam noch beim Erntedankfest außer einem festlichen Essen bei Huhns ein Zentner Weizen als Erntegeschenk. Von nun an erarbeiteten wir Schulkinder uns Kleidung und Schuhwerk fast allein. Hinzu kam, daß wir beim Bauern mit Vesper und Abendbrot reichlicher als zu Hause versorgt waren (bei ganztägiger Arbeit in den Ferien kamen noch Frühstück und Mittagbrot hinzu).

Damit war eigentlich meine Kindheit vorbei, obwohl ich noch Schüler der 5./6. Klasse war. Erst viele Jahre später habe ich begriffen, daß diese schweren Jahre eine gute Vorbereitung auf das weitere Leben waren, weil ich in dieser Zeit ausdauernd zu arbeiten und bescheiden zu leben beigebracht bekommen habe. Ich kann also mit Fug und Recht sagen: Mein Weg in die DDR war zugleich mein Weg ins Leben. Es war, obwohl es angesichts der skizzierten Vorgänge nicht so zu sein schien, ein Weg, der dennoch nach dem 8. Mai 1945 sozialgeschichtlich neu auf deutschem Boden, charakteristisch für die sowjetisch besetzte Zone, war und weiter werden sollte.

Das wichtigste gesellschaftliche Ereignis vollzog sich in Bollstedt nach der 2. Parteikonferenz der SED (Juli 1952 in Berlin) mit dem Zusammenschluß von 24 werktätigen Einzelbauern zur Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft „Wilhelm Schröder“ (damals Minister für Land- und Forstwirtschaft der DDR) am 27. September 1952. Dieser Vorgang wälzte, obwohl das angesichts der wirtschaftlichen Schwäche dieser neuen Wirtschaftsform in den ersten Jahren nicht offensichtlich war, das gesam te Gemeindeleben mehr um als die jahrhundertlange Entwicklung vorher. Aber das wäre schon eine neue Geschichte.