"Spurensicherung. Zeitzeugen zum 17. Juni 1953" GNN Verlag
14.06.2016 um 18:03Dr. Franz Köhler:
„Keine Provokationen!"
(Leipzig)
Nichts ließ an diesem Morgen darauf schließen, daß sich dieser Tag unvergeßlich in unser Gedächtnis prägen sollte. Wir Studenten des 3. Studienjahres der Juristenfakultät befanden uns seit Semesterbeginn im Praktikum und hatten an diesem Vormittag im Bezirksgericht ein Seminar. Die Fenster des Sitzungssaales blickten auf den Hof des gemeinsamen Gebäudekomplexes von Polizeipräsidium, Bezirksgericht, Bezirksstaatsanwaltschaft und ehemaligem Amtsgericht. Im Zentrum dieses Häusergevierts lag die Untersuchungshaftanstalt.http://www.spurensicherung.org/texte/Band2/koehler.htm#top
Etwa zwischen 10 und 11 Uhr sahen wir vor deren Eingang mehrere „Grüne Minnas" vorfahren. Die Insassen wurden von Volkspolizisten mit Knüppelschlägen und Fußtritten in das Gebäude getrieben, obwohl sie sich weder weigerten noch wehrten. Dieses Verhalten „unserer" Polizisten löste in der Seminargruppe sofort heftige Diskussionen aus, da es in krassem Gegensatz zu unseren Vorlesungen über den humanen sozialistischen Strafvollzug stand. Daß die „Bullen" woanders genauso waren, schien uns keine Entschuldigung. Denn wir wollten ja eine bessere Welt. Und daß angesichts des auf der Straße bereits offen ausgebrochenen Kampfes um die Macht im Staate an diesem Tag andere Maßstäbe galten, wurde uns erst klar, als wir wenige Stunden danach Panzer durch die Straßen Leipzigs rollen sahen.
Gegen Mittag gingen wir durch die Beethovenstraße in unsere Mensa, die sich im Gebäude des ehemaligen Amtsgerichtes befand. Dabei bemerkten wir gegenüber der Gefängnispforte auffällige Menschengruppen. Von ihnen wurden die in kurzen Abständen Herauskommenden - es handelte sich offenkundig um entlassene Häftlinge, die man aber nicht persönlich zu kennen schien — mit Jubelrufen begrüßt und mit Zigarettenpäckchen beglückt, bevor sie irgendwohin verschwanden. Dies war für uns das erste Anzeichen dafür, daß sich etwas Ungewöhnliches zusammenbraute.
Als wir nach einer Dreiviertelstunde vom Mittagessen zurück ins Bezirksgericht wollten, hatte sich die Szene völlig verändert. Aus den nicht beunruhigend wirkenden Grüppchen war eine Menschenmenge geworden, die bereits den Verkehr behinderte und von Minute zu Minute bedrohlich anwuchs. Sinn und Zweck des Ganzen blieben uns rätselhaft, da weder akustisch noch optisch irgendwelche Forderungen erkennbar waren. Statt weiter praxisnahe Ausführungen über Strafrechtsprobleme zu hören, erhielten wir danach die Weisung, mit den Demonstranten zu diskutieren und ihnen die Richtigkeit des wenige Tage zuvor deklarierten „Neuen Kurses" der Partei zu erläutern. Dabei ging es um die Rücknahme von unglaublich dummen Maßnahmen unserer Parteiführung. Diese glaubte sich leisten zu können, zugleich mit der - wirtschaftlich sicher notwendigen - Hochsetzung von Arbeitsnormen die Regelung für Arbeiterrückfahrkarten zu verschlechtern, die Marmeladenpreise zu erhöhen und ganze Bevölkerungsgruppen vom Lebensmittelkartenbezug auszuschließen. Darüber hinaus gab es andere uns unverständliche Maßnahmen, die - so sehe ich das heute - zweifellos stalinistischer Herkunft waren. So hatte z. B. das Stadtbezirksgericht VII Leipzig Süd erst im Mai oder noch Anfang Juni 1953 eine HO-Verkäuferin auf Grund des Gesetzes zum Schutze des Volkseigentums für den Diebstahl von 70 Gramm Leberwurst zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Als wir Praktikanten den Richter wegen des unverständlich hohen Strafmaßes befragten, verwies er auf eine Veröffentlichung im aktuellen Heft der Fachzeitschrift „Neue Justiz". Darin wetterte Hilde Benjamin - damals Präsidentin des Obersten Gerichts der DDR - gegen ein Kreisgericht, das den Diebstahl eines Eies nicht mit einem Jahr Gefängnis geahndet hatte. Inzwischen waren die Politikvorgaben von der Parteiführung zwar um 180 Grad gedreht, damit aber auch das Vertrauen vieler Parteimitglieder tief erschüttert und ihre Handlungsbereitschaft gelähmt worden. Kein Wunder also, daß neben den bisher Benachteiligten auch andere Kräfte Morgenluft witterten.
Vor diesem Hintergrund hielt sich bei vielen von uns die Begeisterung zur Verteidigung der Politik von Partei und Regierung in Grenzen. Gleichwohl mischten wir uns guten Willens unter die inzwischen auf einige Tausend angewachsene Menge, in der nun auf Transparenten der Rücktritt der Regierung gefordert wurde. Unser Dozent, der spätere Professor Karl Bönniger, machte als erster den Mund auf, um - wie er es aus seiner westdeutschen Heimat gewöhnt war - auch in unfreundlicher Umgebung zu diskutieren. Da tauchte urplötzlich ein ungeschlachter Kerl auf, der ihm mehrere Fausthiebe ins Gesicht versetzte. Und je mehr Bönniger blutete, desto mehr sank unser Mut, es ihm gleichzutun.
Später sollte sich herausstellen, daß es sich bei den in der Beethovenstraße Versammelten zu wenigstens einem Drittel um Genossen handelte. Aber wie uns hatte man auch die übrigen nahezu unvorbereitet in eine Situation geschickt, der sie nach ihrer bisherigen Lebenserfahrung nicht gewachsen waren. Bei organisiertem Einsatz unserer Kräfte hatte man die Rädelsführer leicht isolieren und den Dingen zumindest in der Beethovenstraße einen anderen Verlauf geben können. Die Unfähigkeit der verantwortlichen Leitungen zeigte sich auch wenige Minuten später, als acht Volkspolizisten völlig ungeschützt und sichtlich mangelhaft ausgerüstet auf der obersten Treppenstufe vor dem Gebäude der Staatsanwaltschaft Posten bezogen. Da die johlende Menschenmasse immer näher an sie herandrängte, wichen sie zunächst zur Eingangstür und dann in das Gebäudeinnere zurück. Die außer Rand und Band geratene Menge stürmte ins Haus und begann zu plündern. Als Symbol meiner ersten Begegnung mit sinnloser Verwüstung hat sich mir lebenslang der groteske Anblick eines Telefonapparates eingeprägt. Er baumelte einen halben Meter unter dem Fensterbrett, wahrend der Hörer einen halben Meter tiefer herumschlenkerte. Er war aus dem Fenster eines Zimmers der ersten Etage geworfen worden, in dem ich vor kurzem eine Woche Praktikum abgeleistet hatte. Als die Polizisten, die bis dahin offenbar jede Gewaltanwendung vermieden hatten, ins zweite Stockwerk zurückgedrängt wurden - wir konnten das durch die aufgerissenen Fenster erkennen - fielen nach meiner Erinnerung Schüsse. Wer geschossen hat, ob gezielt oder in die Luft und ob jemand getroffen wurde, ist mir nicht bekannt. Ich erinnere mich jedoch, daß die Menge das Gebäude räumte und sich zu zerstreuen begann.
Danach folgten wir der von Mund zu Mund weitergegebenen Losung, uns ins Rektorat Schillerstraße zu begeben, um dort weitere Anweisungen entgegenzunehmen. Unterwegs kamen wir am Alten Rathaus vorbei und sahen den Bücherkiosk auf dem Markt lichterloh brennen. Wie überall im Zentrum, befanden sich auch hier viele Menschen. Ich erinnere mich, daß ein sowjetischen Panzer in der Einmündung Hainstraße stand und drei- oder viermal in die Luft schoß. Da er dazwischen jeweils eine Pause einlegte, entstand eine kuriose Situation. Denn die Leute - und natürlich auch wir - suchten jedesmal erschrocken unter den Arkaden oder in Hauseingängen Schutz, kamen danach zögernd wieder zum Vorschein - und mußten schon zurückspurten. Es klingt zwar unglaublich, aber in der Wiederholung löste dieses blitzartige Ab- und vorsichtige Wiederauftauchen nachgerade spürbare Heiterkeit aus.
Wir warteten den Ausgang der Dinge jedoch nicht ab und zogen zum nahegelegenen Rektorat weiter, in dessen Hof sich nach und nach einige Hundert Studenten einfanden - darunter auch eine ganze Anzahl recht kräftiger Vertreter der Arbeiter- und Bauernfakultat. Unsere leichten Zweifel vom Mittag waren angesichts der Plünderungsszenen in der Beethovenstraße sowie des in Flammen stehenden Bücherkiosks verflogen. Wie alle anderen brannten wir darauf, nun in organisierter Weise auf die Straße zu gehen und zu zeigen, daß die Befürworter der neuen Ordnung sich nicht versteckten. Aber während wir Hunderte von Studenten im Hof des Rektorats immer ungeduldiger auf Weisungen für unseren Einsatz warteten, konnten auf der Straße zunehmend kriminelle Elemente die Führung an sich reißen. Und nicht wir, sondern Sowjetsoldaten legten ihnen das Handwerk.
Vermutlich veranlaßten uns nur der überkommene preußische Kadavergehorsam und die wahrend der faschistischen Diktatur eingebleuten Disziplinbegriffe dazu, der aus heutiger Sicht geradezu aberwitzig anmutenden Weisung einer unfähigen Leipziger Parteiführung zu folgen, die da lautete: „Keine Provokationen!" Leider haben wir Parteimitglieder die dafür Verantwortlichen damals ebensowenig zur Verantwortung gezogen wie Jahrzehnte später unser seniles Politbüro für eine vergleichbar realitätsferne, dogmatische Politik, die zum Untergang der DDR führte.