"Spurensicherung. Zeitzeugen zum 17. Juni 1953" GNN Verlag
14.06.2016 um 15:01Gustav Ohlig:
Gemeinsame Sorge
(Görlitz)
Seit 1950 war ich Direktor der Erweiterten Oberschule Görlitz. Sie wurde durch Zusammenschluß der vorher in Görlitz bestehenden vier höheren Lehranstalten für Jungen bzw. Mädchen (Gymnasium Augustum, Reform-Realgymnasium, Oberrealschule und Lyceum) gebildet, von denen jede ein eigenes Profil besessen hatte.
Unsere komplizierte Aufgabe bestand darin, jeden Schüler seinem bisherigen Bildungsgang entsprechend zur Hochschulreife zu führen. Das Kollegium setzte sich überwiegend aus Studienräten, Oberstudienräten sowie einem Oberstudiendirektor zusammen, die bereits früher an höheren Schulen unterrichtet hatten. Einige von ihnen kamen aus Görlitz, aber es waren auch eine Anzahl von „Umsiedlern" dabei. Die aus der Stadt stammenden Kollegen kannten wir. Sie hatten niemals der NSDAP angehört oder waren sogar von den Nazis aus dem Schuldienst entlassen worden. Dagegen konnten die aus den Ostgebieten gekommenen Kollegen natürlich keine Beweise erbringen, daß sie ihre Schüler nicht im faschistischen Sinne erzogen hatten. Zu diesen altgedienten Fachleuten waren junge Leute gestoßen, die sich nach den Schrecken des Krieges vorgenommen hatten, die nachwachsende Generation im Geiste des Friedens heranbilden zu helfen. Nach einem Neulehrer-Kurzlehrgang qualifizierten sie sich über Fernstudium und Weiterbildungskurse zu Fachlehrern. Zu dieser Gruppe gehörte auch ich, und es fiel mir keineswegs immer leicht, aus derart vielen Individualitäten ein einheitlich handelndes Kollektiv zu bilden. Hinzu kam, daß die Schüler der oberen Klassen einige Jahre Nazischule hinter sich hatten und in der Regel im „Jungvolk" oder in der „Hitlerjugend" organisiert gewesen waren. Mit Pionierorganisation und FDJ konnten sie sich oft nicht anfreunden und fühlten sich mehr zur „Jungen Gemeinde" der Evangelischen Kirche hingezogen. Die dadurch hin und wieder auftretenden Konflikte konnten wir nicht lösen. Aber es wurde kein Druck auf die Schüler ausgeübt, um sie für die FDJ zu gewinnen. Dagegen versuchten wir in Übereinstimmung mit der staatlichen Schul- und Bildungspolitik, die Kinder von Arbeitern und Bauern besonders zu fördern. Sie sollten befähigt werden, in der Gesellschaft später eine Rolle zu spielen, die ihnen in der Vergangenheit nie möglich gewesen wäre. Dazu trugen der auf Antrag gewährte Schulgelderlaß sowie Unterhaltsbeihilfen bis zu 60 Mark monatlich wesentlich bei. Darüber hinaus unterstützten wir sie bei den Studienbewerbungen an den Universitäten und Hochschulen und hatten dabei gute Erfolge. Wir wußten uns gemeinsam auf einem guten Wege.
Natürlich berührten die in den Jahren 1952/1953 aufgetretenen politischen und ökonomischen Probleme auch unsere Arbeit. Infolge der unpopulären Regierungsmaßnahmen herrschte bei vielen Menschen Unzufriedenheit, die vom Westen kräftig geschürt wurde. Am 17. Juni informierte mich Stadtschulrat Fritz Nitsche telefonisch über eine große Menschenansammlung auf dem Leninplatz sowie weitere Umzüge, die dorthin unterwegs wären. Randalierende Gruppen seien bereits in Betriebe eingedrungen, und es müsse befürchtet werden, daß sie auch Schulen nicht verschonen würden. Er empfehle, die Schüler mit der Weisung nach Hause zu schicken, sich am Folgetag wieder zum Unterricht laut Stundenplan einzufinden. Wir sollten unbedingt auch dafür sorgen, daß unser Haus über Nacht gesichert werde. Ich besprach das sofort mit meinen Kollegen, und die nachfolgende Räumung der Schule verlief reibungslos. Für die Sicherung des Gebäudes gewannen wir eine Gruppe von Jungen, die in der 1952 gegründeten GST organisiert waren. Unser stellvertretender Direktor, Kollege Hanke - Fachlehrer für Mathematik und Physik, Mitglied der NDPD1 und ehrenamtlicher Stadtrat für Finanzen - hatte zuvor gemeinsam mit ihnen einen Kleinkaliberschießstand eingerichtet. Ein paar Kleinkalibergewehre waren vorhanden, ebenso etwas Munition. Beobachtungsposten wurden eingeteilt, das Schulhaus abgeschlossen.
Danach harrten wir gemeinsam der kommenden Ereignisse. Aber bei uns verlief der Tag ohne Störungen, und über Nacht hatte sich in ganz Görlitz die Lage wenigstens einigermaßen beruhigt. Auf Seiten der Demonstranten gab es meines Wissens keine Opfer, denn die Ordnungskräfte hatten sich nicht provozieren lassen. Das ist manchem Polizisten angesichts der uns danach bekanntgewordenen Ausschreitungen, Überfälle und Mißhandlungen sicher sehr schwergefallen. Auch die am Abend des 17. Juni eintreffenden sowjetischen Panzer gaben nach meiner Erinnerung keinen einzigen Schuß ab. Der Tag X, den bestimmte Kreise in Westdeutschland schon lange vorbereitet hatten, war vorerst noch nicht gekommen.
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