Professor Ludwig Narziß, der jahrzehntelang die Brautechnologie an der Hochschule Weihenstephan prägte – in jungen Jahren hatte er als Brauerlehrling begonnen -, ist so etwas wie das idealisierte Gesicht des deutschen Biers: mit 90 Jahren erstaunlich jung geblieben, freundlich, bescheiden und präzise. Wahrscheinlich in allen deutschen Brauereien steht sein „Abriss der Bierbrauerei“, auch einen Wissenschaftspreis hat man nach ihm benannt.

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Wie hat sich der Biergeschmack in Bayern und in Deutschland insgesamt seit den vierziger Jahren verändert. Gab es verschiedene Etappen?

Im Grund müsste man mit den fünfziger Jahren beginnen, denn erst 1949 gab es wieder normalprozentiges Bier. Im Krieg, Winter 1939/40, haben wir nur noch 9,5 Prozent Stammwürze gehabt. Die ist laufend runtergegangen bis auf 3,5 Prozent zu Kriegsende. Nach dem Krieg hatten wir in Bayern zuerst 1,7 Prozent Stammwürze, das entsprach ungefähr 0,5 Prozent Alkohol, in Baden-Württemberg und in anderen Ländern nur 0,6 Prozent Stammwürze. Dort durfte auch Molke und so weiter verwendet werden, um überhaupt etwas Vergärbares zu haben. In Bayern wurde die Regelung 1948 aufgehoben, weil die Leute sagten: Ich gebe meine D-Mark nicht für dieses dünne Gesöff aus. Anschließend hat man uns 8 Prozent Stammwürze zugebilligt, 1949 hat man dann die Stammwürze freigegeben. Es wurden die alten Vorkriegsrezepte wieder verwendet und es wurden wirklich tolle Biere gemacht. In den fünfziger Jahren haben wir wieder Vorkriegsqualität erreicht. Es gab Helles, es gab Export und relativ viel Märzen, das war der Ausdruck für stärkeres Bier. Es gab immer noch kein Pils. Schnell kamen die Oktoberfestbiere und die Bockbiere zurück.

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Wie hat sich der Hopfengeschmack in dieser Zeit verändert?

Früher gab es nur Aromahopfen: Hallertauer, Spalter, Tettnanger, Hersbrucker, die alten Sorten. Von 1960 an kam die Bitter-Sorte Northern Brewer aus England beziehungsweise den Vereinigten Staaten zu uns, bei der hat man nur die halbe Hopfengabe benötigt. Der Hopfen hat aber nicht nur Bitterstoff und Öle, er hat auch Polyphenole, also Gerbstoffe, und er hat Eiweiße und Mineralstoffe. Das heißt, wenn ich die Hopfengabe erniedrige, habe ich auch weniger Vollmundigkeit. Das Phänomen war im Norden stärker ausgeprägt als in Bayern. Die Bayern haben weitgehend auf dem Aromahopfen beharrt. Ich habe mal eine Tabelle erstellt, die zeigt: 1985 hatten wir im Hellen noch 11,7 Prozent Stammwürze und 26 Bittereinheiten, im Pils 12,2 Prozent Stammwürze und 39 Bittereinheiten, im hellen Bock sogar noch 36 Bittereinheiten, das Dunkle hatte auch 25 bis 27 Bittereinheiten. Die sind heute alle niedriger. Das Dunkle liegt bei 20/21, Pils-Biere sind in Bayern nach wie vor relativ hoch angesiedelt bei 32-36, aber das Helle liegt nur noch zwischen 15 und 22, keinesfalls mehr höher.

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Wie sehen sie die Rolle des Craft-Biers?

Ich als Bierbrauer sehe das als tolle Herausforderung. In den Vereinigten Staaten schmeckten von den siebziger Jahren an die Biere irgendwann alle gleich. Es gab ein Lager-Bier mit 30 bis 40 Prozent Rohfrucht (unvermälztes Getreide, d. Red.) und immer weniger Hopfengaben. Man hat sich gegenseitig überboten in der Reinheit der Biere, aber am Schluss haben sie nach rein nichts mehr geschmeckt. Dann kam noch das Light-Bier hinzu, das ganz hoch vergoren war, das war noch neutraler. Anfang der Neunziger kam nun das Craft Beer auf. Ich war mal 1994 in Denver, das war ein ganz buntes Völkchen. Aber die haben ganz tolle Produkte angeboten. Es hat dann aber noch eine Zeit gedauert, bis die Craft-Brauer sich auf dem Markt durchsetzen konnten. In Deutschland ist es allerdings so, dass wir eine Vielfalt schon aus den Brauereien selbst haben. Diese Biere kommen bloß nicht alle in den Markt, weil sie mit den Regalgebühren in den Supermärkten und all diesen Dingen nicht zurechtkommen. Ich ärgere mich jedes Mal, wenn ich im Supermarkt nach einem Pils aus München suche. Da gibt es nämlich sehr schöne Pils‘. Sie finden sie aber nicht. Nicht einmal in Freising bekommen Sie überall ein Weihenstephaner Pils oder eines aus dem Gräflichen Hofbräuhaus. Der Handel hat die Zahl der Biere, die das Publikum täglich sieht, stark beschnitten. Und jetzt hält man uns vor, dass wir genau so langweilig sind wie die Amerikaner.
Aber es stimmt schon: Bei uns hat sich alles etwas eingefahren gehabt auf die gewohnten Biersorten. Jetzt kommen die Craft-Brauer mit ihrem gestopften Hopfen daher und bereichern das Angebot. Ich zum Beispiel bin kein Weizenbier-Trinker. Aber mit einem gestopften Hopfen drin – damit können Sie mich auch kriegen. Das ist einfach etwas Urtümliches. Die Craft-Brauer werfen ja oft in den Lagertank ein Kilo Hopfen pro Hektoliter herein. Was das kostet! Auch von den Verlusten her. Der Hopfen saugt ja eine Menge Bier ein, das bekommen Sie dann nicht mehr heraus. Aber da ist eine tolle Entwicklung im Gang. Die Craft-Brauer sind mutig. Die hauen auch mal einfach 10 Prozent helles Karamellmalz in ein Bier hinein. Das gibt eine völlig andere Note. Eine Besonderheit in Deutschland ist noch: Die Craft-Bewegung wird auch von den Großen getragen. Ableger von Radeberger und Bitburger machen oder verkaufen sehr attraktive Craft-Biere. Das verleiht der Bewegung zusätzliche Bedeutung. Die Kleinen aber machen die Vielfarbigkeit aus. Auch die machen zum Teil wunderbare Biere.
http://blogs.faz.net/bierblog/2016/04/14/verfaellt-das-deutsche-bier-die-letzten-50-jahre-bier-288/