#1

Ich bin von zu Hause geflohen, zurück zu meiner Mutter um mir etwas Sicherheit zu bewahren. Ich nehme es als kleines Übel in Kauf, dass ich die Abhängigkeit spüre, aber es ist besser als sich der Panik nicht entledigen zu können, die Nachmittags, Abends oder wenn ich vor die Tür gehe, auftritt und mich wie ein zitterndes Bündel in der Ecke sitzen lässt. Ich habe noch nie eine solche Angst gespürt. Die Angst, dass da draußen, auf dem Dach, am Balkon, einfach ÜBERALL etwas ist, das mich beobachtet und mich einfach mitnehmen könnte. Eine solche Todesangst.
Es geht mittlerweile. Zwar höre und sehe ich noch immer Dinge, die ich noch gut als "surreal" einordnen kann, aber das ist phasenweise. Ich befinde mich nicht in Behandlung und nehme keine Medikation.
Manchmal fantasiere ich davon, wie ich den Weg hin zum Krankenhaus laufe, nachts. Wobei fantasieren wohl das falsche Wort ist, denn ich kann den Gedanken an sich nicht kontrollieren. Ich wünsche mir anscheinend, ich würde diesen Weg gehen. Barfuß, schutzlos. Und das, obwohl ich solche Angst habe draußen zu sein, nach allem was passiert ist. Aber dann ist da Odessa.

Odessa ist die ungehaltene, starke Seite. Ich habe sie im Griff, habe sie benannt. Habe mich oft gefragt, warum sie so viel mehr Macht hat, als sie sollte. Odessa ist wütend. Wütend auf all die Jahre, all den Zorn, den ich nicht abarbeiten konnte. Wütend auf mich. Auf mein Kind. Odessa ist so unglaublich hasserfüllt. Aber Odessa spricht mit den Leuten, ganz offen. Sie ist produktiv, wenn sie will.
Dann gibt es die Seite, die ich nicht benennen kann. Sie liebt so unbändig. Zwar ist sie auch stark, auf ihre Weise, aber eher noch ist sie verletzlich und schreit ganz fürchterlich, wenn Odessa etwas verantwortungsloses tut. Ich sitze dazwischen, lehne mich hin und wieder auf, aber es nützt wenig. Odessa ist nicht verantwortlich, ich bin es. Aber die ist der Funke, der ein schreckliches Feuer entzündet.

Zwischen all dem Schmerz und dem unbändigen Verlangen, von dem ich glaube, dass es ebenfalls von Odessa stammt, einfach zu schaden, ist es so unglaublich anstrengend zu leben. Ich vergesse so vieles, obwohl ich eine gute Kontrolle über mich habe. Es ist, als bin ich ohnmächtig. Und die einzige Konsequenz ist das vermeintliche Einsperren, bis es mir wieder besser geht. Aber ich weiß, es wird mir nicht besser gehen, wenn ich wieder den gleichen Schritt gehe, der so oft nichts bewirkt hat. Ich weiß noch, wie trist der Cocktail aus Medikamenten mich gemacht hat. Keine Libido (Gut, das ist kein Unterschied zu jetzt auch), keine Glücksgefühle, bunte, bedrohliche Träume und diese Apathie... Dieses stundenlange starren und hoffen, dass ich einen Stift bekomme, ein Blatt Papier. Irgendetwas, womit ich diese vielen Gedanken aufscheiben kann. Wer kümmert sich um meine Wohnung? Wer kümmert sich um meine Finanzen? Mein Leben? Ich verliere immer und immer mehr, wie... schade. Wo ich doch so gut angefangen hatte.
Es ist gut zu schreiben, als liest niemand mit. Es interessiert mich nicht, falls es jemand doch tut. Der reine Versuch sich zu etwas zu äußern, von dem man nichts versteht, wäre der Beweis für die eigene Dummheit und ab diesem Punkt nehme ich einen Menschen schon gar nicht mehr ernst.

Schließen wir die Augen. Die vielen Geräusche, das eigene Atmen. Ich will noch so viel mehr von mir selbst sehen und erfahren. Ich will meine ganze tendenz nach außen einfach nach innen kehren, bis ich ganz in mir versunken bin. In meinen Gedanken, meiner Realität, die einen kleinen Splitter in ihrer sauberen Fassade hat, der eine tiefe Furche nach sich zog. Ich will in Ruhe diesen sehr bildlich fantasierten Gang der Einrichtung von damals entlang gehen, mit dem Leuchtstoffröhrenlicht, wissend, dass ich allein bin. Will spüren, wie eine Tür nach der anderen an mir vorbeizieht, bis der Boden nachgibt, Laminat löst sich, darunter eine Schicht Beton(?), alles bricht in sich zusammen und letztendlich stehe ich in meinem Flur, bei meiner Mutter, die keine Ahnung hat, was in meinem Kopf passiert.