Am Dienstag hätte mein Großvater Geburtstag gehabt. Er verstarb an meinem Geburtstag, letztes Jahr. Ich trauere nicht um ihn. Als Kind hab ich gedacht, er wäre der Bundeskanzler, hab ihn bewundert, wie er da stets in seinem Sessel saß und sich alle um ihn geschart haben, Er war dick und groß, weiße Haare und hatte eine Brille. Wie der Bundeskanzler. Und der Bundeskanzler war ein ganz großer und kluger Mensch. Also war es mein Großvater auch.
Als Teenager hatte ich so gut wie gar keine Beziehung zu ihm. Ich hatte zu viele andere Dinge, die mich und mein Leben ausmachten, die mich beschäftigten und ich hatte nie ein enges Verhältnis zu den Eltern meiner Mutter. Auch nicht zur Mutter meines Vater. Nur zu seiner Großmutter, die ich über alles liebte. Zu ihr werde ich später noch kommen. Sie ist so wunderbar gewesen, dass sie ein eigenes, ein fröhliches Kapitel verdient.
Dann hasste ich meinen Großvater. Ich hasste ihn für das, was er seinen Töchtern angetan hat. Seine Frau ist im Grunde auch nicht viel besser gewesen. Ich versuche ihr aus dem Weg zu gehen und ansonsten, ansonsten bitte ich Gott darum dass er mir hilft ihr zu vergeben, dass sie ihre Töchter halb wahnsinnig und verhaltensgestört geprügelt hat.

Meine Mutter trauert um ihren Vater, sie liebte ihn aufrichtig. Trotz dem, was er mit ihr tat. Dass er sie brach. Sie krank machte. In ihrer Kindheit schon den Grundstein dafür legte, dass sie eine grausame Mutter werden musste. Meine Mutter ist die älteste von vielen Geschwistern. Ich kann mir vorstellen, dass sie sehr gelitten hat. Meine Großmutter war oft in Krankenhäusern, hat längere Kuraufenthalte absolviert. Vielleicht wollte sie einfach nur weg, weg von diesem kranken Gefüge, welches eigentlich ein heimeliges und geborgenes Heim, eine Familie sein sollte, in der sich Kinder wie Eltern wohlfühlen konnten.
In dieser Zeit musste meine Mutter den Platz ihrer Mutter einnehmen. Sowohl in der Küche, als auch in der Betreuung der Geschwister und im Ehebett ihrer Eltern. Herr, bitte gib mir die Kraft ihm zu vergeben, was er meiner Mutter antat. Dass er die Seele meiner Mutter zerrissen hat, immer und immer wieder. Auf sie eingetreten hat und ihre Würde zerrüttet hat.

Er hat sie kaputt gemacht, ihr die Chance auf ein unbelastetes Leben genommen. Sie hatte keine Chance. Eltern sollen einen Lieben, für einen da sein, einen sorgfältig und liebevoll an die Welt gewöhnen, die oft genug noch grausam sein würde. Aber die Familie sollte ein Ort der Zuneigung sein. Ein Rückzugsort. Wenn man sich nicht einmal in seinem eigenen Zuhause wohlfühlen kann. Wie viel Stress kann ein Mensch ertragen, ohne Wahnsinnig zu werden?


Und wie viel Schmerz darf ein Mensch weitertragen, an seine eigenen Kinder?
Meine Mutter ist, das weiß ich heute, eine unglaublich starke Person. Ihr ist das gleiche passiert wie mir. Und sie hat trotzdem einen Job ergreifen können, sie hat Kinder bekommen. Sie hat ihre Angst überwunden.
Ich hingegen kämpfe so viele Jahre mit meiner Angst.
Meine Mutter hat uns spüren lassen, dass sie nicht weiß, was ein liebevolles Zuhause ist. Ich weiß nicht, aber manchmal hatte ich den Eindruck, es bereitet ihr unheimliches Vergnügen, uns zu prügeln. Sie schlug mir gerne mit der Faust in den Magen und wenn ich mich am Boden krümmte und glaubte zu ersticken, konnte sie schön weitertreten. Ich lag ja schon bequem am Boden. Ich hab mich oft schon aus Selbstschutz fallen lassen und mich zu einer Kugel zusammengekauert. Versucht, den Kopf zu schützen. Und vor allem meinen Magen. Ich hasse dieses Gefühl, wenn man krampfhaft atmen muss, aber die Lungen nicht wollen. Wenn es einfach nicht funktioniert. Ganz davon abgesehen, dass es eine Schmerzexplosion ist, die sich im ganzen Körper ausbreitet. Besonders unangenehm war es mir, wenn meine Mutter mich zu sich zitierte, wenn ich Freundinnen zu Besuch hatte. Das bedeutete, ich durfte nicht weinen. Ich musste leise sein und schnellstmöglich wieder ‚normal‘ aussehen. Also keine roten Augen, keine roten Wangen, kein vom Weinen geschwollenes Gesicht oder eine belegte Stimme. Meine Freundinnen mussten denken, dass ich eine tolle Mamma hatte. Dass meine Mamma mich liebt, so wie ihre Mütter sie lieben. Weil ich sie liebte. Weil ich so unbedingt von ihr geliebt werden wollte. Und schlimmer als jeder Schmerz den sie mir körperlich zufügte, war der, zu wissen, dass ich eine Versagerin war. Eine schlechte Tochter. Ich war nicht das vornehme, elegante, zarte Töchterchen. Ich war keine herausragende Sportlerin, Musikerin oder sonstwas. Und meine Schulnoten waren zwar gut, aber keine Auszeichnung wert. Außerdem interessierten sie meine Mutter ja nach einer Weile nicht mal mehr.

Ich war immer ein bißchen zu dick. Ja, das glaubte ich irgendwann selbst. In T-Shirts hatte ich Größe S. Aber ich hatte immer schon einen runden Po und kräftige Beine. Ich hatte ein Pferd. Da bleibt das nicht aus. Meine Mutter hielt mich häufiger dazu an, Diäten mitzumachen, wenn sie eine machte. Ich hielt das natürlich nie lange aus. Ich verbrauchte viele Kalorien im Stall. Ich versorgte mehrere Pferde am Tag und ritt jeden Tag meinen Haflinger. Eine schöne Zeit. So schön und schmerzlich, dass ich noch nicht bereit bin, darüber zu schreiben.
Meine Mutter hingegen hatte ein super Druckmittel, um mich als Teenager brav zu halten. Pferdeentzug war das schlimmste, was ich mir vorstellen konnte. Die Pferde, mein Pferd, waren in der Zeit das einzige was mir half, bei mir zu bleiben. Ich wusste, dass etwas nicht mit mir stimmte. Ich wusste aber nicht, warum und was es war. Das Gehirn ist ein wahres Wunder, es lässt einen schlimme Dinge einfach vergessen. Leider nicht jedes Mal für immer.

Die Trauerfeier für meinen Großvater war sehr belastend. Meine Mutter weinte hemmungslos und das zerriss mir das Herz. Meine Mutter so trauern zu sehen, war ein echter Schock für mich. Vor allem weil ich selbst so unberührt war. Ich empfand keine Liebe für den Mann, dessen Überreste sich in der Urne befanden, die vorn in dem kleinen Trauersaal stand. Mein Bruder war auch da. Und ich freute mich ihn zu sehen. Nach einer ganzen Zeit wieder. Er hat keinen Kontakt mehr zu seiner Familie. Er kann nicht verzeihen, was meine Mutter ihm angetan hat. Er ist sehr viel älter als ich. Er hat als Kind von unserer Mutter schlimmere Dinge erleiden müssen als ich. Und das möchte ich mir nicht mal vorstellen. Sie hat, von ihrem Vater missbraucht, von ihrer Mutter zur Täterin geprügelt worden, ihren eigenen Sohn zum Täter geprügelt.
Und mich hat sie gleich doppelt zum Opfer gemacht. Ich hatte keine Wahl, ich war zu klein. Auch wenn ich immer wieder denke, ich hätte nein sagen können, nein sagen müssen, dass ich selbst schuld bin.
Aber ich war noch so klein. Viel kleiner als meine Mutter es war, die sich auch nicht zu wehren wusste. Die abhängig davon war, dass die älteren sie schützten und ihr nichts Schlimmes taten. Aber das taten sie. Immer und immer wieder.

Und so taten sie es auch bei mir. Und mein Vater, der Bär, der Riese, schaute weg, wenn meine Mutter ihre Wutanfälle an uns ausließ. Sie verschonte auch nicht meinen kleinen Bruder. Natürlich nicht. Und wenn er schrie vor Angst und Schmerz, wie oft wünsche ich mir heute, ich hätte die Polizei gerufen. Irgendwann war ich alt genug um zu wissen, dass Eltern und auch ältere Geschwister nicht alles mit einem tun dürfen. Zu dem Zeitpunkt hatte ich schon vergessen, was mein Bruder mir angetan hat. So viele Jahre. Was ich tun musste. Was mich ekelte, was ich ertrug, so wie ich die Prügel ertrug. Ich dachte es wäre normal.
Ich weiß, dass es ganz und gar nicht normal ist.

Ich habe Angst, diesen Fluch, diesen Familienfluch weiterzuführen. Eine brutale Mutter zu sein. Mein Kind nicht vor sexuellen Übergriffen zu schützen. Einmal Opfer, immer Opfer. Mein Bruder war nicht der einzige, der erkannt hat, dass ich mich nicht wehren kann. Väter von Freundinnen fassten mich an. Ich mochte das nicht. Aber sie waren erwachsen. Ich ein Kind. Ich hatte gelernt zu gehorchen. Und ich gehorchte.


Ich wünsche mir sehnsüchtig ein Kind. Ein kleines Wesen, das ich lieben und umsorgen kann. Welches ich beschützen kann, so wie eine Wölfin, Mutig und ohne Angst. Einfach nur für dieses kleine Menschenwunder da sein.
Ich hatte sehr, sehr lange angst davor, ein eigenes Kind zu bekommen. Ich hatte Angst, so große Angst, zu sein wie meine Mutter. Diese Angst ist noch viel, viel größer als die Angst, dass ich mit meiner Krankheit ungeeignet wäre, Kinder großzuziehen. Ich will nicht, dass der Familienfluch durch mich weitergetragen wird. Ich will nicht, dass mein Kind wird wie ich.

Ich will ein gesundes, glückliches und fröhliches Kind, das mutig in die Welt hinausgehen kann. Das selbstbewusst ist. Und das weiß, wie sich ein liebevolles Zuhause anfühlt.
Ich weiß jetzt, dass ich das kann. Denn Gott gibt mir die Kraft dafür. Er gibt mir die Gewissheit, dass ich eine gute Mutter sein werde. Ich werde unter seiner Führung eine Mutter sein, die ihr Kind schützt und liebt und in die Herrlichkeit von Gottes Gnade einführt. Der Herr ist mein Vater und so wie er mich liebt und schützt und für mich da ist und ich immer seine Nähe spüren kann, so will ich versuchen für mein Kind da zu sein. Der Herr lässt mich niemals im Stich. Er vergibt mir. Und noch wichtiger, er prügelt mich nicht. Er beschimpft mich nicht, er hat nicht das Bedürfnis auf meiner zernarbten und schlecht verheilten Seele herumzutrampeln.
Ich möchte diese Kinderseele ebenso schützen. Sie ermutigen, aufbauen und vor allem lieb haben.
Kinder sind große Schätze, wir sollten das nicht vergessen.
Und sie dementsprechend behandeln.

Ich werde den Familienfluch brechen. Mit Gottes Hilfe werde ich ihn nicht weitertragen. Und mein Kind wird wachsen mit einer gesunden Seele und an seine Kinder Liebe und Wärme weitergeben können.