Merlinde
Diskussionsleiter
Profil anzeigen
Private Nachricht
Link kopieren
Lesezeichen setzen
dabei seit 2014
Profil anzeigen
Private Nachricht
Link kopieren
Lesezeichen setzen
Baba (Fortsetzung)
01.05.2014 um 10:59Wir schenkten uns noch den Rest Kaffee ein, rauchten ein Zigarettchen und dann musste ich hurtig weiternähen. Karin wollte anschließend gleich zu Sira, um ihr auf den Zahn zu fühlen. Doch ihr Blick fiel auf meine Pinnwand und sie nahm Bastis Zettel in die Hand. „Hast Du ihn mal angerufen?“ „Ach, ich hab so viel zu tun“, meinte ich leichthin, „was soll ich ihm sagen?“ „Na hör mal“, rief Karin, „schließlich hat er Dir geholfen. Und mit einem Lächeln fügte sie hinzu: „Ich weiß doch, dass er Dir gefällt, ich kenne Dich mein Schatz. Ruf ihn einfach an und bedanke Dich, das sagt Dir Deine beste Freundin!“
Ich arbeitete weiter, doch Karins Ratschlag ging mir nicht aus dem Sinn.
Nach Mitternacht sank ich totmüde ins Bett. Ich hatte nicht mal geduscht, nur kurz die Zähne geputzt. Traumlos schlief ich bis zum nächsten Morgen. In meinem Schlafzimmer war es warm und stickig. Noch immer schlief ich mit geschlossenen Fenstern und heruntergezogenen Rollos. Es war ein warmer klarer Sommermorgen und ich hatte gute Laune. Frisch und erhohlt saß ich am Kaffeetisch. Nachdem Frau Meyer ihr wertvolles Brokatkleid abgeholt hatte, beschloss ich, Basti anzurufen. Doch er war scheinbar nicht zu Hause. Nach einer Stunde hatte ich Glück. Basti lud mich zum Mittagessen ein. Das passte gut am heutigen Samstag. Die paar Aufträge zu Montag konnte ich Sonntag erledigen. Als ich später vor meinem Spiegel stand, war ich mit mir zufrieden. Ich freute mich auf den restlichen Tag.
Und der wurde schön! Basti und ich hatten uns unheimlich viel zu erzählen und es wurde nicht langweilig. Nach dem Essen machten wir einen Spaziergang zur Burg. Die Idee hatte heute die halbe Stadt und wir mußten warten. Doch wir wurden durch die wunderschöne Aussicht belohnt. Die Landschaft lag im Sonnenlicht zu unseren Füßen und wir beschlossen morgen zum nahen Wäldchen zu wandern um dort ein Picknick zu machen.
Abends saß ich dann an meiner Nähmaschine und erledigte die Arbeiten für Sonntag. Natürlich wurde es wieder spät, aber ich wollte auf keinen Fall die Verabredung mit Basti versäumen. Ich war Karin dankbar, dass sie mich gedrängt hatte, ihn anzurufen. Basti war ein ganz lieber Mensch und ich konnte mir gut vorstellen, immer mit ihm zusammen zu sein.
Diese Nacht ließ ich die Fenster offen.
Gleich am nächsten Morgen setze ich Pellkartoffeln auf. Ich hatte doch versprochen, für unser Picknick, das Essen mitzubringen, Basti sorgte für Getränke. Ich zauberte einen tollen Kartoffelsalat und packte noch ein Glas Wiener Würstchen in den Rucksack. Aus dem Schrank nahm ich meine Wanderschuhe und mein Blick fiel auf meine Ausgeh - Tanzschuhe. Mir wurde plötzlich schwindlig und ich mußte mich festhalten, denn der Traum der letzten Nacht stand vor meinen Augen.
Die grausame Wirtin kam an meinem Bett und riss mir die Decke weg. Dann griff sie mit ihren eiskalten Fingern nach mir und ich fand mich in der Ruine, im Tanzsaal, wieder. Sie schleuderte mich wie zuvor im Kreis herum und tanzte ihren wilden Tanz. Dazu sang sie ein schauriges Lied und ich mußte ständig in ihr schreckliches Gesicht blicken. An mehr konnte ich mich nicht erinnern. Aber es reichte. Sofort machte ich das Radio an, um mich abzulenken. Nein, den Sonntag wollte ich mir nicht verderben lassen, ich hatte mich so darauf gefreut.
Unter der hohlen Eiche, dem ältesten Baum der Stadt, packten wir unsere Schätze aus und wollten essen. Verdammt, ich hatte das Besteck vergessen! Doch Basti nahm sein Taschenmesser und schnitzte uns einen Ersatz. Wir mußten viel lachen, denn der Salat fiel immer wieder zurück auf den Pappteller. So zog sich unser gemütliches Picknick dahin. Ich hatte ganz und gar meinen schlimmen Traum verdrängt, bis Basti vorschlug, doch am nächsten Wochenende zur Ruine zu wandern. „Das geht leider nicht, meine Mama hat Geburtstag, das will ich nicht verpassen. Ich sehe sie eh zu selten. Und ausserdem...“ Ich stockte. Sollte ich Basti von all dem erzählen? Auslachen würde er mich sicher nicht, aber würde er es verstehen? „Nun sag schon Baba, was ist ausserdem?“ Da begann ich ihm meine ganze Geschichte zu erzählen, angefangen, von dem Schatten am Fenster, bis hin zum Traum der letzten Nacht.
Meinen großen Schneidertisch hatte ich leer geräumt und einigermaßen festlich gedeckt. Noch schnell duschen, bevor Jan, Karin und Basti kamen. Wir wollten zusammen Romme´spielen und so würden sie auch Basti gleich kennenlernen.
Das letzte Wochenende bei meinen Eltern war sehr schön. Wir hatten uns viel zu erzählen gehabt und ich erfuhr nebenbei den neusten Klatsch aus dem Dorf. Die meißten meiner Klassenkameraden waren inzwischen verheiratet und hatten Kinder. Meine Mama konnte es sich nicht verkneifen zu fragen, wann ich ihr denn endlich ein Enkelkind schenken würde. „Wart´s ab Muttchen“, hatte ich geantwortet, „manchmal geht das schneller als man denkt.“ Und dann fing ich an von Basti zu schwärmen. „Bring ihn doch mal mit her, Papa freut sich bestimmt auch.“ Und das wollte ich auch tun. Aber erst einmal klingelte es Sturm. Alle drei standen auf dem Treppenabsatz und hatten sich scheinbar schon bekannt gemacht, denn sie kicherten und klopften sich auf die Schultern.
„Kommt ihr rein, oder soll ich euch das Essen rausbringen?“ Jetzt erst bemerkten sie mich und wir begrüßten uns. Was war ich froh, solche Freunde zu haben. Wir alberten den ganzen Abend herum, so viel gelacht hatte ich lange nicht. Später fragte ich Karin, ob sie mal bei Sira war. Sofort wurde es still am Tisch, alle warteten gespannt auf die Antwort. „Ja stimmt Baba, ich war bei ihr, aber sie wollte mir anfangs nicht verraten, mit welchem Fluch sie Jans Vater belegt hat. Erst als ich sie bedrängte, rückte sie mit der Sprache heraus. Es war ihr sichtlich peinlich. Sie kennt nur den Spruch für einen einzigen Fluch und den hat sie genommen.“ Karin machte eine Pause und trank von ihrer Erdbeerbowle. Ungeduldig hingen wir an Karins Lippen. Was würde sie sagen? Karin griff nach der Kelle und schenkte sich nach. „Sie hat ihm das ewige Leben gewünscht!“
Ein paar Minuten herrschte Ruhe am Tisch, doch dann redeten alle durcheinander. „So ein Unsinn... Betrügerin... Hexe...keine Strafe...Schwachsinn...“ Die Wortfetzen drangen an mein Ohr und ich war genau so ratlos wie die anderen. Basti sagte als erster einen vernünftigen Satz. „Ich finde schon, dass es eine Strafe ist, ewig zu leben.“ Daraus entfachte sich eine Diskussion bis in die frühen Morgenstunden. Keiner von uns wollte ewig leben, so verlockend dies auch im ersten Moment klang. Man sah die, die man liebte, dahingehen, man wurde irgendwann des Lebens überdrüssig. Man sah seine Liebsten leiden und sterben und einem selbst war es nicht vergönnt.
Gegen vier Uhr war die Bowle alle und einige Flaschen Wein und Bier. Ziehmlich angetrunken verließen meine Gäste das Haus. Ich fiel ins Bett und wurde erst gegen Mittag wach.
Abends traf ich mich mit Basti und wir liefen Arm in Arm durch die Stadt. Vor einem Laden blieb er stehen und zog mich rein. „Komm nur, ich habe eine Überraschung für Dich.“ Kurze Zeit später standen wir wieder draussen, ich hatte meine Überraschung in der Hand - ein niegelnagel neues Handy! Ein bisschen peinlich war es mir schon, und ich glaube Basti freute sich mehr als ich. Doch als er mich so anstrahlte, fiel ich ihm um den Hals. „Dankeschön, das ist lieb von Dir, aber bezahlen werde ich dir das Ding.“ „Nein, lass mal, „Das Ding“ ist ein Geschenk von mir, wir können jetzt jederzeit telefonieren.“ Dann erklärte er mir geduldig, wie es funktioniert und was man alles für tolle Sachen damit machen kann. Viel verstand ich nicht, aber das traute ich mir nicht zu sagen. Technisch war ich total unbegabt.
Als es dunkel wurde, wollte Basti in einer kleinen Kneipe Abendbrot essen. „Spar Dir Dein Geld“, sagte ich, „zu Hause liegen Kohlrouladen im Kühlschrank. Wir müssen nur noch Kartoffeln machen.“ „Hmm Kohlrouladen, die mag ich am liebsten, meine Mutter hat sie oft gemacht.“
Sah ich da Traurigkeit in Bastis Augen? Von seinen Eltern hatte er noch nie gesprochen. Aber schon zog er mich zur Haltestelle. „Wir fahren mit dem Bus zu Dir, das geht schneller. Ich habe einen Bärenhunger!“
Einige Tage später klingelte Basti aufgeregt an meiner Tür. „Weißt Du was ich heute erlebt habe, Du glaubst es nicht. Ich war im Esoterikladen und wollte für Dein Fenster eine schwarze Kerze kaufen, und für Dich ein Amulett, das böse Geister vertreibt. Ich stand an den Regalen und schaute mir alles an. Es war nicht viel Betrieb, nur eine schwarzhaarige, etwas gruftimäßige Frau war noch da. Dann öffnete sich die Tür und eine ähnlich gekleidete Frau kam herein. Die beiden schienen sich gut zu kennen, denn sie fingen gleich ein Gespräch an. Ich wollte schon weitergehen, da hörte ich den Namen Sira. Die eine hatte vor, zu Sira zu gehen, und sie sollte Kontakt mit dem verstorbenen Vater aufnehmen. So, wie ich es verstanden habe, hat das Sira schon öfter gemacht.“ Basti sah mich erwartungsvoll an. „Meinst Du so etwas gibt es? Meinst Du sie kann das? Ich würde ja auch gern mal...“ „Mit wem willst Du aus dem Jenseits reden“, fragte ich behutsam, „wen hast Du dort?“ Und da war sie wieder, die Traurigkeit in Bastis Augen. „Meine Eltern, sie starben als ich Fünfzehn war, ein Unfall.“ Mein geliebter Basti, wie tat er mir leid in diesem Moment. Wir nahmen uns ganz fest in die Arme und ich strich ihm beruhigend übers Haar. „Wenn sie es wirklich kann, dann wirst Du mit Deiner Mama und Deinem Papa sprechen, oder eine Botschaft von ihnen erhalten. Ich werde Dir einen Termin besorgen.“
Für das nächste Wochenende hatten wir wiederum ein Picknick geplant, aber dieses mal am See. Der Sommer neigte sich langsam dem Ende zu und es wurde zeitiger dunkel. Die Nächte waren schon recht kühl. Trotzdem saßen wir Abends am Ufer, ausgestattet mit Verpflegung und warmen Decken. Basti schleppte einen uralten Recorder mit sich herum. Auf meine neugierigen Fragen, machte er nur ein geheimnisvolles Gesicht. Doch dann kam der große Moment. Die Sonne neigte sich und tauchte die Landschaft in rotes warmes Licht. Wir hatten jeder ein Glas Wein in der Hand und die Kuscheldecken um die Schultern gelegt. Basti machte die Musik an und ich schmolz dahin, er hatte mein Lieblingslied ausgewählt. „Katamaran“ schallte es weit über den See. Die Tränen liefen mir über die Wangen. Das Lied war ergreifend schön, aber auch traurig. Wenn ich es hörte, wußte ich, ich kann alles erreichen im Leben. Arm in Arm, eng aneinander geschmiegt, den Blick in den Sonnenuntergang, hörten wir der rauen Stimme des Sängers zu. Noch lange hatte ich diese Melodie im Kopf. Ohne es auszusprechen, gaben wir uns das Wort, uns immer und ewig zu lieben. Keine Macht der Welt würde uns je trennen können.
„Nein, Du darfst auf keinen Fall mit Basti zu Sira gehen. Ich sags Dir nocheinmal, Sira betreibt schwarze Magie und das ist sehr gefährlich. Du tust ihm damit keinen Gefallen!“ So zornig hatte ich Karin lange nicht gesehen. Sie stand vor mir und redete eindringlich auf mich ein. Aber ich war selbst schuld, hatte ich ihr doch bei jedem Satz widersprochen. Ich würde eben alles für Basti tun, hauptsache, er wäre glücklich. Aber nun wurde ich nachdenklich, Karin mußte es ja wissen.
„Du weißt, ich tue alles für Dich Baba, nur lass die Finger von Sira. Ich war bei ihr und wir haben lange gesprochen. Glaube mir, mit Sira möchte ich nichts mehr zu tun haben, sie würde uns alle ins Unglück stürzen. Auch ich werde in Zukunft keine Zaubersprüche mehr aufsagen oder sonstiges machen. Das wollte ich Dir eigentlich nicht sagen, aber Sira hat mir ganz stolz erzählt, dass sie mit dem Teufel einen Pakt geschlossen hat. Das kann natürlich alles nur Spinnerei sein, aber ich bin da vorsichtig.“ „Hör schon auf Karin, Du hast mich doch überzeugt, beruhige Dich. Mit Satan will ich nichts zu tun haben, und auch mit Sira nichts mehr!“ Ich nahm sie in die Arme und spürte, wie sie zitterte. „Du bist meine Freundin, meine liebe Karin bist Du. Komm wir rufen Jan und Basti an und machen uns einen schönen Abend. Vergessen wir einfach das Ganze.“
Die Beiden hatten keine Zeit und so ging ich mit Karin allein spazieren.
Am Himmel türmten sich schwarze Wolken auf, doch die Sonne hatte noch die Kraft, die Ränder der Wolken zu erhellen. Es war ein beeindruckender Anblick. Ja, das Leben ist schön, schön, mit so einer Freundin an der Seite und natürlich mit meinem über alles geliebten Freund Bastian. Wenn ich ein Unglück von ihm fernhalten konnte, dann würde ich es tun, koste es, was es wolle.
Ich lief mit Basti über den alten Friedhof und zeigte ihm, wo ich als Kind gespielt hatte.
Wir hatten die Einladung meiner Eltern angenommen und waren für ein paar Tage hier ins Dorf meiner Kindheit gekommen. Die vollgepackten Rucksäcke auf dem Rücken, spazierten wir vom Bahnhof, über den Friedhof nach Hause. Hier war alles noch wie früher, nur das es viel gepflegter aussah.
„Sieh mal da hinten, im Gebüsch, da haben wir uns immer Buden gebaut, und hier vorn lagen uralte Baumstämme, die steinhart waren. Mein Vater sagte, das wäre versteinertes Holz, aber jetzt ist es weg. Und da drüben, an der alten Gruft, war unser Treffpunkt.“ Wieso habt ihr auf dem Friedhof gespielt, hattet ihr keine Angst“? fragte Basti. „Angst“, lachte ich, „ich glaube, wir hatten damals vor garnichts Angst. Es war eine wunderschöne Zeit. Man müßte nochmal Kind sein“, seufzte ich wehmütig.
Mama hatte meinen Lieblingskuchen gebacken und das ganze Haus duftete lecker danach. Wir saßen zu dritt am Kaffeetisch und unterhielten uns angeregt. Basti plauderte ohne Ende mit meiner Mutter und ich sah es mit Vergnügen. Zum Abendbrot war Papa dann auch da. Ich sah ihm seine Freude an. Naja, selten genug war ich im letzten Jahr hier, aber ich hatte mir vorgenommen, das zu ändern. Zur Feier des Tages holte Papa eine seiner letzten Flaschen, vom selbstgemachten Wein, aus dem Keller. Er schmeckte nicht mal besonders, aber das war egal, weil ich wußte, seinen Wein rückte er nur zu besonderen Anlässen heraus.
Ich erwachte in meinem Kinderzimmer, viel geschlafen hatte ich nicht, weil das Bett viel zu schmal war für zwei. Zwar stand noch eine Liege extra für Basti da, aber er wollte wie immer, bei mir sein. Liebevoll sah ich auf meinen schlafenden Freund und stieg dann vorsichtig aus dem Bett.
Mama hatte schon den Frühstückstisch gedeckt. Marmelade, Honig, Käse und Salami und natürlich frische Brötchen. „Ich geh gleich mal in den Garten Mama, ein paar Blumen holen, Basti hat heute Geburtstag.“ Meine Mutter schaute mich erschrocken an. „Kind, hättest Du das nicht früher sagen können, was soll ich ihm denn schenken?“
Die Blumen standen auf dem Tisch. Jetzt schnell noch das Geschenk holen und Basti wecken. Ich gab ihm einen Kuß und er schlug die Augen auf. Bevor er richtig wach war, hatte ich ihm ein silbernes Kettchen um den Hals gelegt und gratulierte ihm. Danach gingen wir in die Küche. Mama legte gerade den Telefonhörer auf und umarmte dann Basti und wünschte ihm alles Gute. „Ich habe für heute Abend eine Überraschung für Dich, vorher wird nichts verraten.“ Ich war neugieriger als Basti, was hatte sich meine Mama nur ausgedacht?
Nach dem Frühstück machten wir einen Spaziergang durchs Dorf. Ich zeigte Basti meine ehemaligen Plätze, wo wir Kinder am liebsten gespielt hatten. Zuerst gings über die Promenade zum kleinen See, den alle Tonloch nannten. Noch immer schwammen die Enten darauf herum. Weiter ging es zum Schützenhaus und zu meiner ehemaligen Schule. Dann quer durchs Dorf an alten und neuen Häusern vorbei. Die Erinnerungen stürmten auf mich ein. Den kleinen Gemischtwarenladen, wo ich mir immer Zuckerstangen gekauft hatte, gab es nicht mehr. Auch die gemütliche Kneipe neben dem Kino war verschwunden. Nach einem Abstecher zum Sportplatz, welcher stolz von den Einwohnern „Stadion“ genannt wurde, kehrten wir nach Hause zurück.
„Schön, dass Ihr da seid, wascht Euch die Hände und setzt Euch an den Tisch, wir können gleich Mittagbrot essen.“ Typisch Mama, ich war eben immer noch ihr Kind. Papa war auch da, er hatte Holz für den Kamin geholt. Jede Wette, dass er ihn heute Abend anmachte, er war sehr stolz auf seinen selbstgemauerten Kamin. Überhaupt konnte Papa fast alles, nur an die Elektrik ging er nicht mehr heran, seit er vor Jahren mal einen Stromschlag bekommen hatte.
Es gab Grünkohl mit Kasseler Kotelett, eines meiner Leibgerichte. Niemand konnte das besser kochen als meine Mama. Ach, wenn ich doch nur auch so eine tolle Hausfrau wäre. Allerdings nähte Mama nicht, das war ihr ein Graus. Aber stricken und häkeln tat sie wie ein Weltmeister und meine Puppengalerie war immer aufs Neuste ausgestattet.
Später standen wir zu viert am alten Holztisch in der Küche. Papa wurde zum Abwaschen verdonnert und wir drei zauberten eine Geburtstagstorte. Hmmm, wie lange hatte ich die eigentlich schon nicht mehr gegessen. Mamas Buttercreme war Spitze, sie mußte mir unbedingt das Rezept geben.
„Glaubst Du, dass es eine gute Idee ist, vielleicht tust Du Barbaras Freund damit keinen Gefallen?“ Ich wollte gerade ins Wohnzimmer und meinen Eltern Bescheid sagen, dass ich mit Basti noch mal raus gehe, als ich diesen Satz von meinem Papa hörte. Sofort kehrte ich wieder um. Nein, lauschen wollte ich gewiss nicht, aber was hatte er damit gemeint? Sicher hing das mit Mamas Überraschung zusammen. Ich wußte nur, dass sie mit Basti irgendwo hinwollte, keiner durfte mit.
Basti saß auf dem Bett und besah sich mein altes Fotoalbum. „Baba, wer ist die kleine Dicke neben der hübschen Frau?“ Ich brauchte garnicht hinsehen, ich wußte wer das war. „Das Dickerchen bin ich mit drei Jahren und die hübsche Frau hält heute Abend eine Überraschung für Dich bereit.“ Ich ging zu Basti, warf ihn auf den Rücken und kitzelte ihn durch. „Wag es noch einmal zu sagen, ich wäre dick, dann mußt Du mit bösen Folgen rechnen.“ „Nein, Du bist die schlankste und schönste Frau der Welt, aber bitte hör auf, ich krieg schon keine Luft mehr. Lass uns das Album weiter anschauen, rausgehen können wir morgen immer noch, falls das Dorf dann noch steht“, fügte er lachend hinzu.
Kurz vor 19 Uhr machten sich Beide auf den Weg. Ich wusch mit Papa das Geschirr ab und dann deckten wir den Tisch feierlich. Ein weißes Tischtuch, die guten Kristallgläser, den alten silbernen Leuchter und etwas Knabberzeug. „Perfekt“, sagte Papa und stellte noch zwei Flaschen Wein dazu. „Weißt Du eigentlich, was die Zwei treiben?“ fragte er mich und nahm mich in die Arme. Ich lehnte meinen Kopf an seine Schulter und antwortete: „Schön wärs, Papa, aber Mama tut so geheimnisvoll. Na, ich werd es ja bald erfahren, oder willst Du es mir erzählen?“ „Ich werde mich hüten, Deine Mutter schlägt mich grün und blau, mein Engel. Aber komm, lass uns noch ein paar Schnittchen machen, Hunger habe ich zwar nicht, aber essen muß der Mensch.“ Wir stellten noch einen Teller mit verschiedenen Leckereien auf den Tisch, Papa schmiss den Kamin an und nach einer endlosen Stunde kamen auch Mama und Basti zurück. Basti war ziehmlich blass, aber er hatte ein glückliches Leuchten in den Augen. Sofort kam er auf mich zu, gab mir einen Kuß und flüsterte mir ins Ohr: „Schatz, ich habe mit meinen Eltern gesprochen.“
Ich glaubte mich verhört zu haben. „Was hast Du? Sag mal gehts noch? Wir waren uns doch einig, keine Zauberei oder Magie mehr und schon gar keinen Kontakt ins Jenseits.“ Ich war sauer, doch als ich in Bastis erschrockenes Gesicht blickte, entschuldigte ich mich. „Tut mir leid, aber ich habe solche Angst deswegen. Du weißt doch was Karin gesagt hat.“ „Ich wollte ja auch erst nicht, aber wie sollte ich das Deiner Mutter beibringen und, naja, ich wollte eben auch mit meinen Eltern sprechen.“ Schuldbewusst sah er mich an. Wir waren allein im Wohnzimmer, meine Eltern hatten sich höflicherweise verzogen und so konnte ich mit Basti offen sprechen.
„Deine Mutter sagte mir erst vor der Tür der alten Frau Krüger, was mich drinnen erwarten würde, sie mußte draußen bleiben. Ich habe nur kurz überlegt und bin dann rein zu ihr. Ich dachte, mir wird schon nichts passieren. Ich fragte vorher Deine Mama, ob mich schwarze Magie erwartet, aber sie meinte nur, dass sie davon keine Ahnung hat. Nur, dass die Krüger, solange sie denken kann, diese Gabe hat und damit schon viele glücklich gemacht hat."
Und Basti fing an zu erzählen.
„Ich ging durch einen langen, dunklen Flur, überall waren Kerzen aufgestellt, welche mich bis zur hintersten Tür führten. Vorsichtig klopfte ich an und eine krächzende Stimme rief mich hinein. Das Zimmer war dunkel, nur ein runder Holztisch wurde von kleinen schwarzen Kerzen beleuchtet, welche im Kreis angeordnet waren. Ein uraltes kleines Mütterchen hielt eine Tüte in der Hand und winkte mir kurz zu, mich hinzusetzen. Bleib ruhig sitzen und rede nur, wenn Du gefragt wirst, sagte sie und schüttete Mehl in den Kreis der Kerzen. Mit ihren knochigen Händen strich sie es glatt. Dann bückte sie sich und hatte plötzlich ein Huhn im Arm. Mit einem spitzen Messer stach sie das Huhn in den Hals welches erschreckend laut gackerte und fortfliegen wollte. Mir wurde bei dem Anblick schlecht. Die Alte hielt das Huhn mit dem Kopf nach unten und das Blut spritzte nach allen Seiten. Sie packte es noch fester und bald war von dem Mehl nichts mehr zu sehen, alles war blutrot. Dabei murmelte sie wohl Zaubersprüche, ich verstand leider kein einziges Wort. Dann war minutenlange Stille, bis sie mich nach den Vornamen meiner Eltern fragte. Baba, es war so gruslig, ich dachte schon, dass dies schwarze Magie ist, aber ich traute mich nicht zu gehen. So fasste ich meine Silberkette an und sprach in Gedanken ein Gebet. Die Alte rief inzwischen immer lauter die Namen und das ihr Sohn hier wäre. Dann wieder eine Ruhepause. Deine Eltern sind da, sag etwas zu ihnen, krächzte sie mich an. Mama, Papa, ich bin hier. Geht es euch gut? Ich vermisse euch so! Mehr konnte ich nicht sagen, die Alte deutete mir mit einer Handbewegung, dass ich schweigen soll. Ich hätte auch nicht viel mehr rausgebracht, die Tränen liefen und liefen. Ich war furchtbar aufgewühlt. Hatten mich meine Eltern gehört? Würde ich von ihnen etwas hören? Das verrunzelte Mütterchen hob die Arme und rief nocheinmal laut die Namen und das sie sprechen mögen. Ich lauschte angespannt. Irgend ein Flüstern drang an mein Ohr und nach einiger Zeit verstand ich was da gesagt wurde. Bastian, wir sind bei dir. Ich schluchzte laut auf, das Licht ging an und aller Zauber war vorbei. Die Alte schob mich schnell zur Tür hinaus und Deine Mutter ging kurz rein zu ihr. Sicher um zu bezahlen. Ich bin danach mit Deiner Mama noch lange um den kleinen See gewandert und sie hat solange mit mir geredet, bis ich mich beruhigt hatte. Das war alles.“
Minutenlanges Schweigen. Meine Eltern kamen wieder herein und Mama setzte sich neben mich. Sie nahm meine Hand und sprach: „Tut mir leid mein Schatz, hätte ich gewußt, was das für eine Aufregung verursacht, hätte ich das nie angezettelt. Die Idee kam mir spontan, weil ich das Gefühl hatte, dein Freund Basti ist unglücklich. Du weißt doch, wir sprachen gestern über seine Eltern.“ „Ist schon gut Mama, du hast nichts falsch gemacht, das Problem habe nur ich, weil mir das alles Angst macht.
Es wurde trotzdem ein sehr schöner Abend und wir tranken wohl alle ein Gläschen zu viel. Albernd und kichernd, wie kleine Kinder, begaben wir uns noch vor Mitternacht zu Bett.
Am nächsten Tag fuhren wir mit dem letzten Zug nach Hause. Vorher gingen wir zum neuen Friedhof und ich legte Blumen auf das Grab meiner Großeltern. Vom Zugfenster aus, schaute ich wehmütig auf mein Heimatdorf. Aber meine Kindheit war vorbei und ich mußte nach vorn schauen. In diesem Moment legte Basti den Arm um mich und ich war ihm dankbar dafür. Eng aneinander geschmiegt standen wir die kurze Fahrt und ließen die Landschaft an uns vorbei sausen. Wir fuhren zurück in unsere Welt.
Bastis freie Tage waren zu Ende und ich hatte einiges nachzuholen. Also stürzte ich mich in die Arbeit. Gegen Abend rief Karin an. „Kann ich bei dir übernachten, ich möchte nicht allein sein. Jan ist mal wieder unterwegs, irgend einen Vortrag halten, bitte.“ „Klar, jederzeit, ich freue mich.“ Ich wollte noch fragen, ob was nicht stimmt, aber Karin hatte schon aufgelegt. Schnell zog ich meine Jacke an, um Karin entgegen zu gehen. Ihre Stimme hatte so seltsam geklungen.
Schneeregen und kalter Wind empfingen mich. Als ich auf Karin traf, liefen ihr Tränen über die Wangen, oder war es geschmolzener Schnee? Nein, eine Träne nach der anderen perlte aus ihren großen braunen Augen. So kannte ich meine Freundin nicht, sie war keine Heulsuse wie ich. Etwas Schlimmes mußte passiert sein und eigentlich sollte sie noch auf Arbeit sein.
Bis wir zu Hause waren, hatte sie sich schon wieder gefangen und konnte mir alles erzählen.
„Ich stand draußen auf der Rampe mit einer Kollegin. Sie warf ihre Pappe in die Presse und ich mußte warten, bis ich drann kam. Da die Presse voll war, beugte sie sich hinaus und drückte auf den Schalter. Sofort ging die Presse an, aber meine Kollegin rutschte aus, konnte sich nicht mehr halten und fiel hinein.“ Karin schluckte und machte eine Pause. Schon wieder rollten Tränen. Ehe ich etwas sagen konnte hatte sie schon weitergesprochen. „Sie fiel zwischen die Pappen und ich hörte sie schreien. Sofort sprang ich hin und versuchte sie zu erreichen. Ich beugte mich so weit es ging hinein, aber ich konnte sie nicht fassen. Das Schreien und das Knirschen der Presse machten mich halb wahnsinnig, am liebsten wäre ich hinterher gesprungen. Dann hörte das Schreien auf, aber die Presse lief immer weiter und weiter... Ich bin umgefallen, erzählten mir dann die Kolleginnen. Sie hatten mich vermisst im Laden und auf der Rampe gefunden. Baba, dieses unmenschliche Schreien ist immer noch in meinem Kopf, es geht nicht weg. Von der Polizei und dem ganzen Trubel habe ich nicht viel mitbekommen. Ich wurde ins Krankenhaus gebracht, durfte aber bald wieder gehen. Man hat mir Psychopharmaka verschrieben, aber glaube nicht, dass ich das Zeug nehme. Ich bin ja jetzt bei dir, da geht es mir gleich besser. Ich bin so froh, dass ich dich habe.“
Eng umschlungen saßen wir lange und sprachen nicht. Mir fehlten die Worte. Was hätte ich sagen sollen.
Für die Nacht hatte ich Karin einen Tee aus Johanniskrautblüten gemacht, und ich konnte sie überreden eine Schlaftablette zu nehmen. Sie war fix und fertig, als ich sie ins Bett brachte und zudeckte. Halb schon im Schlaf murmelte sie noch: „Sira hat mir das Böse geschickt, Sira will mich vernichten!“ Oh, wenn sie wüßte, dass Basti zu einer Geisterbeschwörung war. Irgendwann würde ich es ihr beichten müssen, aber erst einmal sollte sie sich erholen. An diesem Abend telefonierte ich lange mit Basti und fand dann keinen Schlaf. Mich hatte Karins Zustand mehr mitgenommen, als ich dachte.
Am nächsten Morgen ging ich mit zu Karins Hausarzt, der sie gleich vierzehn Tage krank schreiben wollte. Da kannte er meine Karin nicht! „Zwei Tage Ruhe, mehr nicht, ich bin doch nicht aus Zucker!“
Ich hatte also zwei Tage Zeit, meine Freundin wieder aufzubauen. Doch ich war erstaunt, Karin war eine starke Frau, sie steckte es weg. Wir sprachen zwar noch einmal darüber, aber sie weinte nicht mehr. Meine Näherei ließ ich sein und schleppte Karin in die Stadt. Das war das Beste, was ich im Moment machen konnte. Sie war abgelenkt und wir hatten noch sehr viel Spass. Als wir jedoch nach dem Abendbrot in meiner Küche saßen, fing sie wieder mit Sira an.
„Barbara, ich glaube, ich habe Sira mit meinen Worten verletzt, du weißt schon, als ich neulich bei ihr war. Sie will mich seelisch fertig machen, ich spüre das.“ Jetzt war die Gelegenheit von Bastis Geburtstagsüberraschung zu sprechen, und ich erzählte ihr alles. Doch sie reagierte anders, als ich erwartet hatte. „Mach dir doch nicht so viel Sorgen, Baba, es ist nun einmal geschehen und nicht mehr zu ändern. Außerdem trifft dich keine Schuld, es mußte wohl alles so kommen. Hauptsache dein Basti ist glücklich. Vielleicht ist die Alte eine ehrliche Haut und hat keine bösen Geister gerufen. Es scheint ja auch alles gut gegangen zu sein, denn er hat die Stimmen seiner Eltern gehört.“
Nachdem ich meine Näharbeiten erledigt hatte, legte ich mich auch hin. Es war wieder recht spät geworden. Für den morgigen Tag hatte ich mir etwas Besonderes ausgedacht. Ich wollte mit Karin ins neu eröffnete Spassbad und anschließend in die Sauna.
„Baba, altes Haus, aufsteeeehn!“ Boh, ich hatte verschlafen und rappelte mich schnell aus dem warmen Bett. Es duftete schon angenehm nach Kaffee. „Du gehst jetzt unter die Dusche und ich hole fix Brötchen.“ Das war sie wieder, meine Karin, wie ich sie kannte.
Es war ein kalter Morgen und die Sonne kam nur zögerlich hervor. Was störte uns das, wir hatten es so gemütlich in meiner kleinen Küche. Von meinem Plan war Karin begeistert. „Toll, Baba, was du dir immer ausdenkst. Ich freue mich richtig darauf. Wenn deine Kunden weg sind, gehen wir los, Mittagessen können wir unterwegs. Hast du Lust bei Achmed vorbei zu gehen, ich habe seit ewigen Zeiten keinen Döner mehr gegessen, ich weiß garnicht mehr, wie der schmeckt.“
Und so wurde es dann gemacht.
Abends fielen wir totmüde ins Bett, wir hatten einen wunderschönen Tag hinter uns und waren glücklich und zufrieden.
Doch Karin sollte noch keine Ruhe finden. Die Kriminalpolizei untersuchte den Vorfall mit der Papierpresse. Sie mußte aufs Revier und tausend Fragen beantworten. „Ich kam mir vor wie ein Schwerverbrecher, Baba. Sie fragten mich, warum ich die Kartonpresse nicht abgestellt habe. Das habe ich mich doch auch immer wieder gefragt. Ich weiß es einfach nicht. Wahrscheinlich war es der Schock. Dann hat mich so eine blöde Ziege von Kommissarin gefragt, ob ich nachgeholfen hätte, also meine Kollegin geschubst. Ich war so baff, dass ich nicht antworten konnte. Sie wußte, dass ich mit ihr mal Streit hatte, aber das war doch eine Lapalie, deshalb bringe ich doch niemanden um. Wie kann man nur sowas von mir denken, das ist so gemein.“
Ja, das war mehr als gemein, aber die Kripo quälte Karin dann nicht mehr. Die Untersuchungen wurden eingestellt und als Unglücksfall abgetan.
Dann begann der Alltag wieder. Lange Zeit passierte nichts Aufregendes. Das war mir sehr angenehm, hatten wir doch genug mitgemacht. Langsam veblassten die Erinnerungen.
Weihnachten war lange vorbei und der Frühling näherte sich mit Riesenschritten. Auch Jans und Karins Geburtstag lag hinter uns. Von Sira hatten wir nichts mehr gehört und mieden tunlichst das Thema. Bis - ja, bis sich wieder so ein gräßliches Gesicht an meinem Fenster zeigte. Oder war es nur ein Vogel? Ein Vogel mit zottigen Fell und einem Maul mit langen Zähnen? Alles Einbildung Baba, sagte ich zu mir. Doch als ich Basti davon erzählte, kam er am nächsten Tag mit einem Holzkreuz und hängte es in mein Fenster, genau über das umgedrehte kleine Kreuz.
Was? Schon acht Uhr? Ging etwa mein Wecker falsch? Ich sprang aus dem Bett und lief ins Bad. In einer halben Stunde würde es klingeln, so war es vereinbart. Nur nicht trödeln jetzt, meine Kunden durfte ich nicht verärgern. Nach dem Duschen bügelte ich schnell die gekürzten Hosen und konnte sie pünktlich abliefern. Gestern war ich recht zeitig ins Bett gegangen und hatte lange geschlafen. Doch mir war, als hätte ich kein Auge zu getan. Ich war nervös, alles fiel mir aus den Händen. Ich versuchte mich zu erinnern, ob ich wieder etwas schlechtes geträumt hatte, doch ohne Ergebnis.
So, wie der Tag angefangen hatte, ging es weiter. Zu allem Unglück streikte dann auch noch meine Nähmaschine. Am liebsten hätte ich alles stehen und liegen gelassen, aber es half nichts. Ich nahm mein Arbeitsgerät auseinander, putzte und ölte die kleinen Teilchen und setzte alles wieder zusammen. Währenddessen hatte ich mich beruhigt, vielleicht hatte mir auch der starke Kaffee geholfen, den ich mir vorher aufgebrüht hatte. Nun lief alles wie geschmiert, aber ich hatte drei Stunden verloren.
Als Karin anrief, war ich fast fertig. „Wie siehts aus bei dir“?, fragte sie mich. „Hast du Lust und Zeit am Sonntag? Wir waren lange nicht zusammen spazieren, und wenn du willst gehen wir vorher noch in unsere Kneipe.“ „Schön, Karin, ich freue mich, vergiss deine Karten nicht. Wollen wir mal zum Flohmarkt, oder hast du was Bestimmtes vor?“
Karin hatte etwas Bestimmtes vor, das wollte sie mir aber noch nicht verraten. Mir war es egal, hauptsache, ich war mit ihr zusammen. Ich vermisste unsere Ausflüge sehr.
Sonntag Mittag saßen wir in unserer Lieblingskneipe und schwatzten und schwatzten...
Dann rückte Karin mit der Sprache heraus. Sie machte ein geheimnisvolles Gesicht und zog einen Schlüssel aus ihrer Tasche. „Sieh mal, was ich hier habe, wir sehen uns jetzt mein neues Zuhause an. Jan und ich werden zusammen ziehen. Es ist der Schlüssel zum Glück!“
Weit mußten wir nicht laufen. Die Wohnung lag im obersten Stock eines alten Hauses. Das Gebäude war ziehmlich imposant, überall Türmchen und recht verwinkelt gebaut. Aber es war frisch saniert und sah fast wie ein Märchenschloß aus. „Die unteren zwei Etagen sind schon vergeben, aber das ist mir ganz recht, oben hat man den besseren Ausblick. Komm, ich zeige es dir.“
Die Räume waren hell und sonnig. Karin erklärte mir, wie sie die Zimmer nutzen wollten und wo was hinkam. Ich stand an ihrem zukünftigen Schlafzimmerfenster und sah hinaus. „Sag mal Karin, da unten ist gleich der Friedhof mit der kleinen Kapelle, stört dich das nicht?“ „Ach was, warum sollte mich das stören? Sieh doch nur wie schön das alles aussieht, das viele Grün und da vorn ist auch die älteste und kleinste Kirche unserer Stadt. Und gleich hinter dem Fluß ist die Rabeninsel, und da, die alte Mühle und der Kindergarten neben dem Sportplatz. Ich kann alles überblicken. Komm mal ans andere Fenster, von da aus kann ich das Dach und das Bodenfenster deines Hauses sehen. Wir könnten uns zuwinken.“ Karin strahlte über das ganze Gesicht und ich gönnte ihr die Freude.
Später liefen wir den schmalen Pfad am Fluß entlang. Die Sonne schien noch immer und wir waren bester Laune. Kein Wunder bei diesem Frühlingswetter. Karin hatte plötzlich eine Idee. „Was hälst du davon, wenn wir nächstes Wochenende zu viert in der neuen Wohnung übernachten, nur so zum Spass. Wir könnten auf Luftmatratzen schlafen und nehmen uns was zu essen mit und dann machen wir eine Nachtwanderung durch alle Kneipen der Stadt. Oder wir spielen Karten, oder erzählen uns Gruselgeschichten im Dunkeln? Fragend und voller Erwartung sah sie mich an.
Und wie ich Lust hatte. Auch Basti und Jan freuten sich und so konnte unser Abenteuer beginnen.
Freitag Abend, nach Karins Spätschicht, gingen wir los, jeder einen Rucksack voll warmer Sachen und allerlei unentbehrlichen Dingen. Ich trug eine Riesenschüssel meines berühmten und begehrten Kartoffelsalates, Karin war für Brot und Wurst verantwortlich und unsere Männer für die Getränke. Sie hatten schon ein paar Tage vorher die Luftmatratzen und Decken hergebracht, so brauchten wir das nicht auch noch zu schleppen.
Als Jan die Tür öffnete und das Licht einschaltete, waren wir angenehm überrascht. Vier Luftmatratzen, prall gefüllt, ein Tischtuch in der Mitte, mit Papptellern und Plastebesteck, wohl zehn Weinflaschen, ein Kasten Bier und überall weiße Kerzen. Zum Glück keine Schwarzen, dachte ich so bei mir. Es gab ein großes Hallo und unsere Männer wurden ohne Ende gelobt.
Das Licht wurde ausgeschaltet und die Kerzen angezündet. Wir ließen uns zum Essen nieder und sprachen über allgemeine Dinge. Klatsch und Tratsch auf Arbeit, Politik, Umzug und Miete der Wohnung. Basti und ich boten den beiden unsere Hilfe an, doch wir wurden nicht gebraucht, ein Umzugsunternehmen würde alles erledigen.
Gegen Mitternacht war die Stimmung auf dem Höhepunkt. Wir erzählten uns Witze und lachten endlos darüber. Dann stimmte Jan Trinklieder an und wir sangen fröhlich laut und falsch. Gut, dass uns niemand hörte. Basti hatte wieder seinen alten Recorder mit und nach der Musik tanzten wir dann. Was war das für ein Spass, betrunken und singend hüpften wir im Kreis einen Sirtaki.
Danach standen wir am geöffneten Schlafzimmerfenster und rauchten.
Basti sah es zuerst. „Seht mal, auf der Insel brennt ein Feuer!“ Sofort schauten wir alle hin. „Ob das Sira ist? Wahrscheinlich macht sie eine ihrer Geisterbeschwörungen. Schade, dass es so weit weg ist, wir könnten sie sonst beobachten.“ "Willst du das wirklich sehen Basti“?, fragte ich erstaunt.
„Ja Baba, lass uns heranschleichen, aber leise, damit sie uns nicht sieht.“ Jan und Karin wollten auch hin und sie brauchten nicht lange, mich zu überreden.
Angetrunken und sorglos wie wir waren, marschierten wir über die Brücke zur Insel, wo uns ein neues Abenteuer erwartete.
Hinter der Brücke wurde der Weg schmaler und wir liefen im Gänsemarsch. Natürlich tapsten wir in jede Pfütze. Ich ging voraus und summte ein Lied. Plötzlich merkte ich, wie mir jemand die Hände auf die Schultern legte. Ich drehte mich um und sah meine Freunde, wie sie gebückt, mit eingeknickten Beinen hinter mir her liefen. Es war so ein lustiger Anblick und ich lachte bis mir die Tränen kamen. Auch die anderen konnten sich nicht mehr halten und knieten lachend im Matsch. Als wir uns beruhigt hatten, marschierten wir weiter. Immer wieder fing jemand an zu kichern und alle mußten mitlachen. „Pscht“! machte Jan und wir waren für einen kurzen Moment still. In die Stille hinein kam ein „Pscht“ von Karin und wir knieten wieder vor lachen. War es der Alkohol oder unsere Müdigkeit, die uns über jede Kleinigkeit lachen ließ?
Als wir an den Seitenpfad kamen, der zur Ruine führte, blieben wir unschlüssig stehen. Wollten wir da wirklich durch? Die Taschenlampen hatten wir vergessen und nur mit den Feuerzeugen würde es nicht gehen. Außerdem würde uns Sira schon vom Weiten hören, wenn wir uns durchs Gebüsch kämpften. Also kehrten wir um und gingen singend und kichernd, nass und schmutzig den Weg zurück.
In unserer Behausung angekommen, zogen wir uns erst einmal um. Dann kuschelten wir uns in unsere Schlafsäcke und schwatzten, bis uns die Augen zufielen.
„Leute, ich habe eine Idee!“ Wir saßen auf der Erde und machten Mittag und Frühstück zugleich. Die Männer hatten in weiser Voraussicht die Kaffeemaschine mitgebracht und so konnten wir an diesem kalten Morgen etwas Warmes trinken. Wir sahen alle ziehmlich zerzaust und müde aus. Der gestrige Alkohol war wohl schuld daran. Gespannt schauten wir nun zu Jan, was hatte er denn für eine Idee? „Heute ist lange Museumsnacht, da könnten wir doch hingehen, ein kleiner Kneipenbesuch nebenbei wird uns auch nicht schaden.“ An unseren Gesichtern konnte er ablesen, wie `begeistert`wir waren. „Das ist doch langweilig Jan, hast du keine bessere Idee“?, fragte Karin. „Na dann macht ihr doch einen Vorschlag, ich jedenfalls gehe sehr gern ins Museum.“
Ich hatte einen Vorschlag. „Hört mal, ein Kunde von mir hat in der Nähe ein Wassergrundstück und das Beste daran ist sein Motorboot. Was meint ihr, soll ich ihn mal fragen ob er es uns ausleiht?“ Heftiges Nicken folgte und so ging ich später mit Karin zu Herrn Wachssiegel und setzte meine freundlichste Miene auf. So ganz recht war es ihm nicht, doch als ich ihm fünfzig Mark rüberschob, klappte es. Er wollte das Boot fertig machen und in einer Stunde durften wir kommen.
Die Männer waren echt begeistert, war es doch ein seltenes Spielzeug für sie.
Basti und Jan saßen vorn und wechselten sich am Steuer ab. Ich hatte es mir mit Karin auf der Rückbank bequem gemacht. Wir waren vorher nocheinmal kurz zu Hause um uns Mütze, Schal, Handschuhe und Regenmäntel zu holen. Wir Frauen hatten jeder noch eine Thermoskanne mit heißem Kaffee und ein paar belegte Brötchen mitgebracht. Das war auch notwendig, denn das Wetter spielte verrückt. Einmal schneite es, dann folgte Regen und dann schien wieder die Sonne. Eben richtiges Aprilwetter.
Jan und Basti unterhielten sich über technische Dinge, das Boot hatte es ihnen angetan und wir existierten nicht mehr für sie. Das machte uns garnichts aus, wir beide unterhielten uns über die gestrige Nacht und hatten unseren Spaß.
„Guck mal, wir fahren in die Schleuse“, sagte Karin plötzlich. „Nein, Jan“, rief ich, „nicht in die Schleuse. Herr Wachssiegel hat extra gesagt, wir sollen das nicht machen, da dürfen nur erfahrene Bootsfahrer durch!“ „Ach lass mal Baba, wir machen das schon, nur keine Angst. Ich habe oft genug zugeschaut, uns wird nichts passieren.“
Jan steuerte in die Schleuse und Basti zog ein langes Seil durch einen der Eisenringe an der Mauer. Langsam sank der Wasserspiegel und es wurde immer dunkler um uns. Jan hatte ein Paddel ergriffen und hielt das Boot damit vom Rand fern, es würde sonst zerkratzt werden. Basti hatte das Seil in der Hand und achtete darauf, dass es nicht zu locker wurde. Endlich öffneten sich die schweren Schleusentore und wir durften hinaus paddeln. Dann ging es wieder mit Motorkraft weiter. Jan konnte es sich nicht verkneifen, mir einen triumphierenden Blick zu zuwerfen. Das nahm ich zum Anlass nach dem Benzinvorrat zu fragen. Sofort waren die Männer wieder in ihrem Element. Sie diskutierten nun, wie weit wir noch fahren konnten und wurden sich nicht einig.
Karin und ich genossen die Landschft rechts und links unseres Heimatflusses. Voller Neid schauten wir auf die schmucken, gepflegten Anwesen. „Ein Wassergrundstück müßte man haben“, schwärmte Karin, „da würde ich den ganzen Sommer lang wohnen. Ich verstehe nicht, warum so viele Menschen ihren Urlaub im Ausland verbringen. Fernweh hatte ich noch nie, hier ist es so schön!“
Inzwischen waren sich die Männer einig geworden. Sie hatten an Hand des vorhandenen Benzins genau ausgerechnet, wann wir umkehren mußten, plus minus einen Kilometer. Karin und ich lachten uns kaputt, das war typisch Mann. Na, wenn das nur gut ging.
Ich hielt meine Hand ins Wasser, zog sie aber schnell wieder zurück. Das trübe schmutzige Etwas war eiskalt. An uns vorbei trieben Zweige und große Äste. „Basti pass auf, da vorn kommt ein Baum angeschwommen“, rief ich laut um den Motorenlärm zu übertönen. „Hab ich doch längst gesehen, Schatz, das geht doch schon die ganze Zeit so. Wir haben April und da ist eben Hochwasser, aber als wir losfuhren war es noch nicht so schlimm. Sieh nur, wie wir gegen die Fluten kämpfen müssen, hoffentlich hält der Motor die halbe Stunde noch durch.“ Bastis Stimme klang besorgt, doch Karin und ich waren frohen Mutes. Waren wir doch auf dem Rückweg und die Schleuse lag hinter uns. Die Sorglosigkeit sollte uns aber bald vergehen, denn plötzlich setzte der Motor aus. Noch lachten wir und fragten hämisch: „Sprit alle? Verrechnet?“ Doch die Männer hörten uns garnicht zu. Sie beugten sich weit aus dem Boot und griffen wohl nach dem Motor. Wir hörten aus ihrem Gespräch, das sich etwas, ein Seil oder Netz, im Motor verfangen hatte. Jan stocherte mit dem Ende des Paddels im Wasser herum und Basti hielt ihn fest. „Komm, lass mich mal ran“, sagte Basti, „vielleicht kann ich das Seil lösen.“ Nun hielt Jan ihn fest. „Paddelt doch ans Ufer, dort könnt ihr in Ruhe alles machen“, sagte Karin und ich stimmte zu. Wir hatten kaum ausgesprochen, da kam ein Aufschrei von Basti und gleich darauf schimpfte er wie ein Rohrspatz. Ein großer Ast hatte ihm das wertvolle Paddel aus der Hand gerissen und die Fluten trugen es fort. Jetzt war guter Rat teuer. Basti versuchte krampfhaft mit dem verbliebenen Paddel das rettende Ufer zu erreichen.
Doch wir trieben zurück zur Schleuse. Bei der Geschwindigkeit würde das Boot an den eisernen Toren zerschellen. Wie durch ein Wunder gelang es Basti und Jan, der verzweifelt mit den Händen paddelte, in den Seitenarm zu gelangen. Hier floss das Wasser nicht ganz so schnell, aber wir kamen nicht ans Ufer. Jan hatte sich aufgerichtet und schaute entsetzt nach vorn. Dann schrie er laut: „Wir treiben auf das Wehr zu, haltet euch fest!“
Wenn jetzt kein Wunder geschah, würde es uns schlecht ergehen.
Jan riss Basti das Paddel aus den entkräfteten Händen und konnte das Boot aus der stärksten Strömung herausholen. Wir blieben seitlich vor dem Wehr im Gestrüpp hängen. Sofort wurde das Boot mit dem Seil an das Gestrüpp gebunden. Jan rief die Wasserschutzpolizei an. Wir mußten nicht mehr lange warten. Die Polizei schleppte uns bis zu Herrn Wachssiegel an den Bootssteg. Eigentlich hatten wir ein kräftiges Donnerwetter erwartet, doch Herr Wachssiegel meinte nur, dass wir das reparieren müßten. Nach einer Stunde hatten unsere Männer auch das geschafft und wir machten uns so schnell es ging auf den Heimweg.
Der Abend verlief ziehmlich ruhig.
Sonntag früh tranken wir noch Kaffee zusammen und packten dann unsere Sachen. Jan hatte heute Dienst im Krankenhaus und auch Basti mußte zu seiner Schicht. Wir waren uns einig, dass es ein wunderschönes Wochenende war, aber wir hatten erst mal genug von Abenteuern.
Drei Wochen später saßen wir bei mir zu Hause und feierten meinen Geburtstag. Karin und Jan waren inzwischen umgezogen und erzählten begeistert von ihrer Wohnung. Basti und ich schauten uns an. Dachten wir etwa das Gleiche? Ganz bestimmt! Auch wir hatten vor zusammen zu ziehen, aber wann, das stand in den Sternen. Von Basti hatte ich ein Silberkettchen erhalten. Das Besondere daran war der Anhänger. Herz, Kreuz und Anker! Basti sagte, man nennt dies Seemannsgrab, es steht für Glaube, Liebe und Hoffnung. Ich freute mich sehr darüber, aber egal, was er mir auch schenkte, ich liebte ihn über alles.
Nach dem Abendessen wurde mir ein Briefumschlag überreicht. Alle drei schauten mich gespannt an, während ich ihn öffnete. Es stand nur ein einziger Satz darin: Einladung zum Mitternachtspicknick!
Na Klasse, ein neues Abenteuer, aber ich war bereit. Allerdings wurde mir noch nichts verraten. Weder wann es stattfinden sollte, noch wo. Ich rätselte eine Weile herum und fragte und bettelte, aber sie blieben standhaft und verrieten nichts.
Dann kam die nächste Überraschung, und zwar von Karin und Jan. Noch ein Briefumschlag! Ich merkte beim Anfassen, dass sich darin etwas hartes befand, fast wie ein Schlüssel. Ungeduldig riss ich den Umschlag auf und es fiel ein Schlüssel heraus. Fragend schaute ich die beiden an. Sie sahen so glücklich aus. Karin kam an meinen Platz, nahm mich in die Arme und sagte: „Dieser Schlüssel ist für die Wohnung unter uns, für dich und Basti.“
Ich war sprachlos. Und Basti genauso. Wir konnten unser Glück kaum fassen. So eine große und schöne Wohnung, so wenig Miete, fast geschenkt, in einem wunderschönen alten Haus in traumhafter Umgebung...Und dann mit unseren Freunden zusammen...
Ich muß wohl ziemlich dumm aus der Wäsche geguckt haben, denn Karin und Jan lachten los. Karin nahm meine Hände, zog mich hoch und wirbelte mich im Kreis herum. Sie war so glücklich. Aber ich war noch immer sprachlos. Basti dagegen fing an zu fragen und es stellte sich heraus, dass Jans Vater das Haus gekauft und hatte renovieren lassen. Die Wohnung sollte sowas wie ein Geschenk für mich sein, sowas wie eine Wiedergutmachung.
Nachdem ich dies erfahren hatte, lehnte ich strikt ab, dort zu wohnen. Von diesem Schwein wollte ich nichts geschenkt haben. Und Basti verstand mich. Auch Karin und Jan verstanden es, doch sie meinten, ich hätte alle Zeit der Welt, darüber nachzudenken und ich könnte jederzeit meine Meinung ändern. Diese Wohnung wäre für uns reserviert, niemand anderes würde jemals dort einziehen. Dann sprachen wir nicht mehr davon und der Abend wurde noch sehr lustig.
Die folgenden Tage versuchte ich nicht daran zu denken. Doch je mehr ich es wegschob, um so hartnäckiger kehrte es zurück. Natürlich wäre es toll mit Basti in einer Wohnung, natürlich wäre es toll mit Karin in einem Haus. Es wäre einfach alles toll und ich konnte mir nichts besseres vorstellen. Aber - selbst wenn die Miete statt der zweihundert Mark achthundert wäre und somit nicht geschenkt, ich würde sie an meinen Feind bezahlen. Und erst recht, wollte ich nichts geschenkt von meinem Feind. Der Herr Dr. Gerald Bernauer wollte mich kaufen. Oh, warum war ich nur so zimperlich? Er hatte mir genug angetan und es wäre doch recht und billig, wenn er es wieder gutmacht. Ich schwankte hin und her mit meiner Meinung. Manchmal richtete ich die Wohnung schon in Gedanken ein, doch dann ärgerte ich mich über mich selbst. Doch als ich eines Tages mit Basti darüber sprach und wir die Wohnung in Gedanken zusammen einrichteten, wußte ich auch, dass wir umziehen würden. Endlich war die Entscheidung gefallen und Basti und ich waren sehr glücklich darüber. Ein neuer Lebensabschnitt würde beginnen.
Das Mitternachtspicknick fand eine Woche vor dem Einzug statt. Es war eine laue, angenehme Sommernacht. Wir saßen zu viert auf dem Vorhof der alten Mühle auf Decken und Kissen. Licht spendete uns ein kleines Lagerfeuer, welches in der Mitte brannte. Seitlich stand ein Grill, von dem es köstliche Rostbrätel gab. Ich hielt meinen Becher mit dem Glühwein fest umfasst und sah ins Feuer. So glücklich kann man garnicht sein, dachte ich. Liebevoll sah ich zu meinen Freunden und zu Basti. Ich war dankbar für jeden Tag, den ich mit ihnen erleben durfte und ich war überzeugt, dass das Leben noch viel Schönes für uns bereit hielt.
Die Entscheidung war gefallen, der Umzug war organisiert. Ich wußte, ein neues Leben würde beginnen. Ein Leben mit Basti. Wir hatten so viel vor, das ganze Leben lag vor uns und wir waren der festen Überzeugung, das es ein glückliches, zufriedenes Leben würde. Auch ein oder zwei Kinder waren geplant. Was sollte uns passieren? Wir liebten uns und nur das zählte. Wir wußten nichts von steinigen Wegen, die man gehen muß. Wir wußten nichts von Krankheit und Not, die man überwinden mußte. Wir hatten uns und unsere Liebe. Und - wir hatten die besten Freunde die es gab an unserer Seite.
Ich arbeitete weiter, doch Karins Ratschlag ging mir nicht aus dem Sinn.
Nach Mitternacht sank ich totmüde ins Bett. Ich hatte nicht mal geduscht, nur kurz die Zähne geputzt. Traumlos schlief ich bis zum nächsten Morgen. In meinem Schlafzimmer war es warm und stickig. Noch immer schlief ich mit geschlossenen Fenstern und heruntergezogenen Rollos. Es war ein warmer klarer Sommermorgen und ich hatte gute Laune. Frisch und erhohlt saß ich am Kaffeetisch. Nachdem Frau Meyer ihr wertvolles Brokatkleid abgeholt hatte, beschloss ich, Basti anzurufen. Doch er war scheinbar nicht zu Hause. Nach einer Stunde hatte ich Glück. Basti lud mich zum Mittagessen ein. Das passte gut am heutigen Samstag. Die paar Aufträge zu Montag konnte ich Sonntag erledigen. Als ich später vor meinem Spiegel stand, war ich mit mir zufrieden. Ich freute mich auf den restlichen Tag.
Und der wurde schön! Basti und ich hatten uns unheimlich viel zu erzählen und es wurde nicht langweilig. Nach dem Essen machten wir einen Spaziergang zur Burg. Die Idee hatte heute die halbe Stadt und wir mußten warten. Doch wir wurden durch die wunderschöne Aussicht belohnt. Die Landschaft lag im Sonnenlicht zu unseren Füßen und wir beschlossen morgen zum nahen Wäldchen zu wandern um dort ein Picknick zu machen.
Abends saß ich dann an meiner Nähmaschine und erledigte die Arbeiten für Sonntag. Natürlich wurde es wieder spät, aber ich wollte auf keinen Fall die Verabredung mit Basti versäumen. Ich war Karin dankbar, dass sie mich gedrängt hatte, ihn anzurufen. Basti war ein ganz lieber Mensch und ich konnte mir gut vorstellen, immer mit ihm zusammen zu sein.
Diese Nacht ließ ich die Fenster offen.
Gleich am nächsten Morgen setze ich Pellkartoffeln auf. Ich hatte doch versprochen, für unser Picknick, das Essen mitzubringen, Basti sorgte für Getränke. Ich zauberte einen tollen Kartoffelsalat und packte noch ein Glas Wiener Würstchen in den Rucksack. Aus dem Schrank nahm ich meine Wanderschuhe und mein Blick fiel auf meine Ausgeh - Tanzschuhe. Mir wurde plötzlich schwindlig und ich mußte mich festhalten, denn der Traum der letzten Nacht stand vor meinen Augen.
Die grausame Wirtin kam an meinem Bett und riss mir die Decke weg. Dann griff sie mit ihren eiskalten Fingern nach mir und ich fand mich in der Ruine, im Tanzsaal, wieder. Sie schleuderte mich wie zuvor im Kreis herum und tanzte ihren wilden Tanz. Dazu sang sie ein schauriges Lied und ich mußte ständig in ihr schreckliches Gesicht blicken. An mehr konnte ich mich nicht erinnern. Aber es reichte. Sofort machte ich das Radio an, um mich abzulenken. Nein, den Sonntag wollte ich mir nicht verderben lassen, ich hatte mich so darauf gefreut.
Unter der hohlen Eiche, dem ältesten Baum der Stadt, packten wir unsere Schätze aus und wollten essen. Verdammt, ich hatte das Besteck vergessen! Doch Basti nahm sein Taschenmesser und schnitzte uns einen Ersatz. Wir mußten viel lachen, denn der Salat fiel immer wieder zurück auf den Pappteller. So zog sich unser gemütliches Picknick dahin. Ich hatte ganz und gar meinen schlimmen Traum verdrängt, bis Basti vorschlug, doch am nächsten Wochenende zur Ruine zu wandern. „Das geht leider nicht, meine Mama hat Geburtstag, das will ich nicht verpassen. Ich sehe sie eh zu selten. Und ausserdem...“ Ich stockte. Sollte ich Basti von all dem erzählen? Auslachen würde er mich sicher nicht, aber würde er es verstehen? „Nun sag schon Baba, was ist ausserdem?“ Da begann ich ihm meine ganze Geschichte zu erzählen, angefangen, von dem Schatten am Fenster, bis hin zum Traum der letzten Nacht.
Meinen großen Schneidertisch hatte ich leer geräumt und einigermaßen festlich gedeckt. Noch schnell duschen, bevor Jan, Karin und Basti kamen. Wir wollten zusammen Romme´spielen und so würden sie auch Basti gleich kennenlernen.
Das letzte Wochenende bei meinen Eltern war sehr schön. Wir hatten uns viel zu erzählen gehabt und ich erfuhr nebenbei den neusten Klatsch aus dem Dorf. Die meißten meiner Klassenkameraden waren inzwischen verheiratet und hatten Kinder. Meine Mama konnte es sich nicht verkneifen zu fragen, wann ich ihr denn endlich ein Enkelkind schenken würde. „Wart´s ab Muttchen“, hatte ich geantwortet, „manchmal geht das schneller als man denkt.“ Und dann fing ich an von Basti zu schwärmen. „Bring ihn doch mal mit her, Papa freut sich bestimmt auch.“ Und das wollte ich auch tun. Aber erst einmal klingelte es Sturm. Alle drei standen auf dem Treppenabsatz und hatten sich scheinbar schon bekannt gemacht, denn sie kicherten und klopften sich auf die Schultern.
„Kommt ihr rein, oder soll ich euch das Essen rausbringen?“ Jetzt erst bemerkten sie mich und wir begrüßten uns. Was war ich froh, solche Freunde zu haben. Wir alberten den ganzen Abend herum, so viel gelacht hatte ich lange nicht. Später fragte ich Karin, ob sie mal bei Sira war. Sofort wurde es still am Tisch, alle warteten gespannt auf die Antwort. „Ja stimmt Baba, ich war bei ihr, aber sie wollte mir anfangs nicht verraten, mit welchem Fluch sie Jans Vater belegt hat. Erst als ich sie bedrängte, rückte sie mit der Sprache heraus. Es war ihr sichtlich peinlich. Sie kennt nur den Spruch für einen einzigen Fluch und den hat sie genommen.“ Karin machte eine Pause und trank von ihrer Erdbeerbowle. Ungeduldig hingen wir an Karins Lippen. Was würde sie sagen? Karin griff nach der Kelle und schenkte sich nach. „Sie hat ihm das ewige Leben gewünscht!“
Ein paar Minuten herrschte Ruhe am Tisch, doch dann redeten alle durcheinander. „So ein Unsinn... Betrügerin... Hexe...keine Strafe...Schwachsinn...“ Die Wortfetzen drangen an mein Ohr und ich war genau so ratlos wie die anderen. Basti sagte als erster einen vernünftigen Satz. „Ich finde schon, dass es eine Strafe ist, ewig zu leben.“ Daraus entfachte sich eine Diskussion bis in die frühen Morgenstunden. Keiner von uns wollte ewig leben, so verlockend dies auch im ersten Moment klang. Man sah die, die man liebte, dahingehen, man wurde irgendwann des Lebens überdrüssig. Man sah seine Liebsten leiden und sterben und einem selbst war es nicht vergönnt.
Gegen vier Uhr war die Bowle alle und einige Flaschen Wein und Bier. Ziehmlich angetrunken verließen meine Gäste das Haus. Ich fiel ins Bett und wurde erst gegen Mittag wach.
Abends traf ich mich mit Basti und wir liefen Arm in Arm durch die Stadt. Vor einem Laden blieb er stehen und zog mich rein. „Komm nur, ich habe eine Überraschung für Dich.“ Kurze Zeit später standen wir wieder draussen, ich hatte meine Überraschung in der Hand - ein niegelnagel neues Handy! Ein bisschen peinlich war es mir schon, und ich glaube Basti freute sich mehr als ich. Doch als er mich so anstrahlte, fiel ich ihm um den Hals. „Dankeschön, das ist lieb von Dir, aber bezahlen werde ich dir das Ding.“ „Nein, lass mal, „Das Ding“ ist ein Geschenk von mir, wir können jetzt jederzeit telefonieren.“ Dann erklärte er mir geduldig, wie es funktioniert und was man alles für tolle Sachen damit machen kann. Viel verstand ich nicht, aber das traute ich mir nicht zu sagen. Technisch war ich total unbegabt.
Als es dunkel wurde, wollte Basti in einer kleinen Kneipe Abendbrot essen. „Spar Dir Dein Geld“, sagte ich, „zu Hause liegen Kohlrouladen im Kühlschrank. Wir müssen nur noch Kartoffeln machen.“ „Hmm Kohlrouladen, die mag ich am liebsten, meine Mutter hat sie oft gemacht.“
Sah ich da Traurigkeit in Bastis Augen? Von seinen Eltern hatte er noch nie gesprochen. Aber schon zog er mich zur Haltestelle. „Wir fahren mit dem Bus zu Dir, das geht schneller. Ich habe einen Bärenhunger!“
Einige Tage später klingelte Basti aufgeregt an meiner Tür. „Weißt Du was ich heute erlebt habe, Du glaubst es nicht. Ich war im Esoterikladen und wollte für Dein Fenster eine schwarze Kerze kaufen, und für Dich ein Amulett, das böse Geister vertreibt. Ich stand an den Regalen und schaute mir alles an. Es war nicht viel Betrieb, nur eine schwarzhaarige, etwas gruftimäßige Frau war noch da. Dann öffnete sich die Tür und eine ähnlich gekleidete Frau kam herein. Die beiden schienen sich gut zu kennen, denn sie fingen gleich ein Gespräch an. Ich wollte schon weitergehen, da hörte ich den Namen Sira. Die eine hatte vor, zu Sira zu gehen, und sie sollte Kontakt mit dem verstorbenen Vater aufnehmen. So, wie ich es verstanden habe, hat das Sira schon öfter gemacht.“ Basti sah mich erwartungsvoll an. „Meinst Du so etwas gibt es? Meinst Du sie kann das? Ich würde ja auch gern mal...“ „Mit wem willst Du aus dem Jenseits reden“, fragte ich behutsam, „wen hast Du dort?“ Und da war sie wieder, die Traurigkeit in Bastis Augen. „Meine Eltern, sie starben als ich Fünfzehn war, ein Unfall.“ Mein geliebter Basti, wie tat er mir leid in diesem Moment. Wir nahmen uns ganz fest in die Arme und ich strich ihm beruhigend übers Haar. „Wenn sie es wirklich kann, dann wirst Du mit Deiner Mama und Deinem Papa sprechen, oder eine Botschaft von ihnen erhalten. Ich werde Dir einen Termin besorgen.“
Für das nächste Wochenende hatten wir wiederum ein Picknick geplant, aber dieses mal am See. Der Sommer neigte sich langsam dem Ende zu und es wurde zeitiger dunkel. Die Nächte waren schon recht kühl. Trotzdem saßen wir Abends am Ufer, ausgestattet mit Verpflegung und warmen Decken. Basti schleppte einen uralten Recorder mit sich herum. Auf meine neugierigen Fragen, machte er nur ein geheimnisvolles Gesicht. Doch dann kam der große Moment. Die Sonne neigte sich und tauchte die Landschaft in rotes warmes Licht. Wir hatten jeder ein Glas Wein in der Hand und die Kuscheldecken um die Schultern gelegt. Basti machte die Musik an und ich schmolz dahin, er hatte mein Lieblingslied ausgewählt. „Katamaran“ schallte es weit über den See. Die Tränen liefen mir über die Wangen. Das Lied war ergreifend schön, aber auch traurig. Wenn ich es hörte, wußte ich, ich kann alles erreichen im Leben. Arm in Arm, eng aneinander geschmiegt, den Blick in den Sonnenuntergang, hörten wir der rauen Stimme des Sängers zu. Noch lange hatte ich diese Melodie im Kopf. Ohne es auszusprechen, gaben wir uns das Wort, uns immer und ewig zu lieben. Keine Macht der Welt würde uns je trennen können.
„Nein, Du darfst auf keinen Fall mit Basti zu Sira gehen. Ich sags Dir nocheinmal, Sira betreibt schwarze Magie und das ist sehr gefährlich. Du tust ihm damit keinen Gefallen!“ So zornig hatte ich Karin lange nicht gesehen. Sie stand vor mir und redete eindringlich auf mich ein. Aber ich war selbst schuld, hatte ich ihr doch bei jedem Satz widersprochen. Ich würde eben alles für Basti tun, hauptsache, er wäre glücklich. Aber nun wurde ich nachdenklich, Karin mußte es ja wissen.
„Du weißt, ich tue alles für Dich Baba, nur lass die Finger von Sira. Ich war bei ihr und wir haben lange gesprochen. Glaube mir, mit Sira möchte ich nichts mehr zu tun haben, sie würde uns alle ins Unglück stürzen. Auch ich werde in Zukunft keine Zaubersprüche mehr aufsagen oder sonstiges machen. Das wollte ich Dir eigentlich nicht sagen, aber Sira hat mir ganz stolz erzählt, dass sie mit dem Teufel einen Pakt geschlossen hat. Das kann natürlich alles nur Spinnerei sein, aber ich bin da vorsichtig.“ „Hör schon auf Karin, Du hast mich doch überzeugt, beruhige Dich. Mit Satan will ich nichts zu tun haben, und auch mit Sira nichts mehr!“ Ich nahm sie in die Arme und spürte, wie sie zitterte. „Du bist meine Freundin, meine liebe Karin bist Du. Komm wir rufen Jan und Basti an und machen uns einen schönen Abend. Vergessen wir einfach das Ganze.“
Die Beiden hatten keine Zeit und so ging ich mit Karin allein spazieren.
Am Himmel türmten sich schwarze Wolken auf, doch die Sonne hatte noch die Kraft, die Ränder der Wolken zu erhellen. Es war ein beeindruckender Anblick. Ja, das Leben ist schön, schön, mit so einer Freundin an der Seite und natürlich mit meinem über alles geliebten Freund Bastian. Wenn ich ein Unglück von ihm fernhalten konnte, dann würde ich es tun, koste es, was es wolle.
Ich lief mit Basti über den alten Friedhof und zeigte ihm, wo ich als Kind gespielt hatte.
Wir hatten die Einladung meiner Eltern angenommen und waren für ein paar Tage hier ins Dorf meiner Kindheit gekommen. Die vollgepackten Rucksäcke auf dem Rücken, spazierten wir vom Bahnhof, über den Friedhof nach Hause. Hier war alles noch wie früher, nur das es viel gepflegter aussah.
„Sieh mal da hinten, im Gebüsch, da haben wir uns immer Buden gebaut, und hier vorn lagen uralte Baumstämme, die steinhart waren. Mein Vater sagte, das wäre versteinertes Holz, aber jetzt ist es weg. Und da drüben, an der alten Gruft, war unser Treffpunkt.“ Wieso habt ihr auf dem Friedhof gespielt, hattet ihr keine Angst“? fragte Basti. „Angst“, lachte ich, „ich glaube, wir hatten damals vor garnichts Angst. Es war eine wunderschöne Zeit. Man müßte nochmal Kind sein“, seufzte ich wehmütig.
Mama hatte meinen Lieblingskuchen gebacken und das ganze Haus duftete lecker danach. Wir saßen zu dritt am Kaffeetisch und unterhielten uns angeregt. Basti plauderte ohne Ende mit meiner Mutter und ich sah es mit Vergnügen. Zum Abendbrot war Papa dann auch da. Ich sah ihm seine Freude an. Naja, selten genug war ich im letzten Jahr hier, aber ich hatte mir vorgenommen, das zu ändern. Zur Feier des Tages holte Papa eine seiner letzten Flaschen, vom selbstgemachten Wein, aus dem Keller. Er schmeckte nicht mal besonders, aber das war egal, weil ich wußte, seinen Wein rückte er nur zu besonderen Anlässen heraus.
Ich erwachte in meinem Kinderzimmer, viel geschlafen hatte ich nicht, weil das Bett viel zu schmal war für zwei. Zwar stand noch eine Liege extra für Basti da, aber er wollte wie immer, bei mir sein. Liebevoll sah ich auf meinen schlafenden Freund und stieg dann vorsichtig aus dem Bett.
Mama hatte schon den Frühstückstisch gedeckt. Marmelade, Honig, Käse und Salami und natürlich frische Brötchen. „Ich geh gleich mal in den Garten Mama, ein paar Blumen holen, Basti hat heute Geburtstag.“ Meine Mutter schaute mich erschrocken an. „Kind, hättest Du das nicht früher sagen können, was soll ich ihm denn schenken?“
Die Blumen standen auf dem Tisch. Jetzt schnell noch das Geschenk holen und Basti wecken. Ich gab ihm einen Kuß und er schlug die Augen auf. Bevor er richtig wach war, hatte ich ihm ein silbernes Kettchen um den Hals gelegt und gratulierte ihm. Danach gingen wir in die Küche. Mama legte gerade den Telefonhörer auf und umarmte dann Basti und wünschte ihm alles Gute. „Ich habe für heute Abend eine Überraschung für Dich, vorher wird nichts verraten.“ Ich war neugieriger als Basti, was hatte sich meine Mama nur ausgedacht?
Nach dem Frühstück machten wir einen Spaziergang durchs Dorf. Ich zeigte Basti meine ehemaligen Plätze, wo wir Kinder am liebsten gespielt hatten. Zuerst gings über die Promenade zum kleinen See, den alle Tonloch nannten. Noch immer schwammen die Enten darauf herum. Weiter ging es zum Schützenhaus und zu meiner ehemaligen Schule. Dann quer durchs Dorf an alten und neuen Häusern vorbei. Die Erinnerungen stürmten auf mich ein. Den kleinen Gemischtwarenladen, wo ich mir immer Zuckerstangen gekauft hatte, gab es nicht mehr. Auch die gemütliche Kneipe neben dem Kino war verschwunden. Nach einem Abstecher zum Sportplatz, welcher stolz von den Einwohnern „Stadion“ genannt wurde, kehrten wir nach Hause zurück.
„Schön, dass Ihr da seid, wascht Euch die Hände und setzt Euch an den Tisch, wir können gleich Mittagbrot essen.“ Typisch Mama, ich war eben immer noch ihr Kind. Papa war auch da, er hatte Holz für den Kamin geholt. Jede Wette, dass er ihn heute Abend anmachte, er war sehr stolz auf seinen selbstgemauerten Kamin. Überhaupt konnte Papa fast alles, nur an die Elektrik ging er nicht mehr heran, seit er vor Jahren mal einen Stromschlag bekommen hatte.
Es gab Grünkohl mit Kasseler Kotelett, eines meiner Leibgerichte. Niemand konnte das besser kochen als meine Mama. Ach, wenn ich doch nur auch so eine tolle Hausfrau wäre. Allerdings nähte Mama nicht, das war ihr ein Graus. Aber stricken und häkeln tat sie wie ein Weltmeister und meine Puppengalerie war immer aufs Neuste ausgestattet.
Später standen wir zu viert am alten Holztisch in der Küche. Papa wurde zum Abwaschen verdonnert und wir drei zauberten eine Geburtstagstorte. Hmmm, wie lange hatte ich die eigentlich schon nicht mehr gegessen. Mamas Buttercreme war Spitze, sie mußte mir unbedingt das Rezept geben.
„Glaubst Du, dass es eine gute Idee ist, vielleicht tust Du Barbaras Freund damit keinen Gefallen?“ Ich wollte gerade ins Wohnzimmer und meinen Eltern Bescheid sagen, dass ich mit Basti noch mal raus gehe, als ich diesen Satz von meinem Papa hörte. Sofort kehrte ich wieder um. Nein, lauschen wollte ich gewiss nicht, aber was hatte er damit gemeint? Sicher hing das mit Mamas Überraschung zusammen. Ich wußte nur, dass sie mit Basti irgendwo hinwollte, keiner durfte mit.
Basti saß auf dem Bett und besah sich mein altes Fotoalbum. „Baba, wer ist die kleine Dicke neben der hübschen Frau?“ Ich brauchte garnicht hinsehen, ich wußte wer das war. „Das Dickerchen bin ich mit drei Jahren und die hübsche Frau hält heute Abend eine Überraschung für Dich bereit.“ Ich ging zu Basti, warf ihn auf den Rücken und kitzelte ihn durch. „Wag es noch einmal zu sagen, ich wäre dick, dann mußt Du mit bösen Folgen rechnen.“ „Nein, Du bist die schlankste und schönste Frau der Welt, aber bitte hör auf, ich krieg schon keine Luft mehr. Lass uns das Album weiter anschauen, rausgehen können wir morgen immer noch, falls das Dorf dann noch steht“, fügte er lachend hinzu.
Kurz vor 19 Uhr machten sich Beide auf den Weg. Ich wusch mit Papa das Geschirr ab und dann deckten wir den Tisch feierlich. Ein weißes Tischtuch, die guten Kristallgläser, den alten silbernen Leuchter und etwas Knabberzeug. „Perfekt“, sagte Papa und stellte noch zwei Flaschen Wein dazu. „Weißt Du eigentlich, was die Zwei treiben?“ fragte er mich und nahm mich in die Arme. Ich lehnte meinen Kopf an seine Schulter und antwortete: „Schön wärs, Papa, aber Mama tut so geheimnisvoll. Na, ich werd es ja bald erfahren, oder willst Du es mir erzählen?“ „Ich werde mich hüten, Deine Mutter schlägt mich grün und blau, mein Engel. Aber komm, lass uns noch ein paar Schnittchen machen, Hunger habe ich zwar nicht, aber essen muß der Mensch.“ Wir stellten noch einen Teller mit verschiedenen Leckereien auf den Tisch, Papa schmiss den Kamin an und nach einer endlosen Stunde kamen auch Mama und Basti zurück. Basti war ziehmlich blass, aber er hatte ein glückliches Leuchten in den Augen. Sofort kam er auf mich zu, gab mir einen Kuß und flüsterte mir ins Ohr: „Schatz, ich habe mit meinen Eltern gesprochen.“
Ich glaubte mich verhört zu haben. „Was hast Du? Sag mal gehts noch? Wir waren uns doch einig, keine Zauberei oder Magie mehr und schon gar keinen Kontakt ins Jenseits.“ Ich war sauer, doch als ich in Bastis erschrockenes Gesicht blickte, entschuldigte ich mich. „Tut mir leid, aber ich habe solche Angst deswegen. Du weißt doch was Karin gesagt hat.“ „Ich wollte ja auch erst nicht, aber wie sollte ich das Deiner Mutter beibringen und, naja, ich wollte eben auch mit meinen Eltern sprechen.“ Schuldbewusst sah er mich an. Wir waren allein im Wohnzimmer, meine Eltern hatten sich höflicherweise verzogen und so konnte ich mit Basti offen sprechen.
„Deine Mutter sagte mir erst vor der Tür der alten Frau Krüger, was mich drinnen erwarten würde, sie mußte draußen bleiben. Ich habe nur kurz überlegt und bin dann rein zu ihr. Ich dachte, mir wird schon nichts passieren. Ich fragte vorher Deine Mama, ob mich schwarze Magie erwartet, aber sie meinte nur, dass sie davon keine Ahnung hat. Nur, dass die Krüger, solange sie denken kann, diese Gabe hat und damit schon viele glücklich gemacht hat."
Und Basti fing an zu erzählen.
„Ich ging durch einen langen, dunklen Flur, überall waren Kerzen aufgestellt, welche mich bis zur hintersten Tür führten. Vorsichtig klopfte ich an und eine krächzende Stimme rief mich hinein. Das Zimmer war dunkel, nur ein runder Holztisch wurde von kleinen schwarzen Kerzen beleuchtet, welche im Kreis angeordnet waren. Ein uraltes kleines Mütterchen hielt eine Tüte in der Hand und winkte mir kurz zu, mich hinzusetzen. Bleib ruhig sitzen und rede nur, wenn Du gefragt wirst, sagte sie und schüttete Mehl in den Kreis der Kerzen. Mit ihren knochigen Händen strich sie es glatt. Dann bückte sie sich und hatte plötzlich ein Huhn im Arm. Mit einem spitzen Messer stach sie das Huhn in den Hals welches erschreckend laut gackerte und fortfliegen wollte. Mir wurde bei dem Anblick schlecht. Die Alte hielt das Huhn mit dem Kopf nach unten und das Blut spritzte nach allen Seiten. Sie packte es noch fester und bald war von dem Mehl nichts mehr zu sehen, alles war blutrot. Dabei murmelte sie wohl Zaubersprüche, ich verstand leider kein einziges Wort. Dann war minutenlange Stille, bis sie mich nach den Vornamen meiner Eltern fragte. Baba, es war so gruslig, ich dachte schon, dass dies schwarze Magie ist, aber ich traute mich nicht zu gehen. So fasste ich meine Silberkette an und sprach in Gedanken ein Gebet. Die Alte rief inzwischen immer lauter die Namen und das ihr Sohn hier wäre. Dann wieder eine Ruhepause. Deine Eltern sind da, sag etwas zu ihnen, krächzte sie mich an. Mama, Papa, ich bin hier. Geht es euch gut? Ich vermisse euch so! Mehr konnte ich nicht sagen, die Alte deutete mir mit einer Handbewegung, dass ich schweigen soll. Ich hätte auch nicht viel mehr rausgebracht, die Tränen liefen und liefen. Ich war furchtbar aufgewühlt. Hatten mich meine Eltern gehört? Würde ich von ihnen etwas hören? Das verrunzelte Mütterchen hob die Arme und rief nocheinmal laut die Namen und das sie sprechen mögen. Ich lauschte angespannt. Irgend ein Flüstern drang an mein Ohr und nach einiger Zeit verstand ich was da gesagt wurde. Bastian, wir sind bei dir. Ich schluchzte laut auf, das Licht ging an und aller Zauber war vorbei. Die Alte schob mich schnell zur Tür hinaus und Deine Mutter ging kurz rein zu ihr. Sicher um zu bezahlen. Ich bin danach mit Deiner Mama noch lange um den kleinen See gewandert und sie hat solange mit mir geredet, bis ich mich beruhigt hatte. Das war alles.“
Minutenlanges Schweigen. Meine Eltern kamen wieder herein und Mama setzte sich neben mich. Sie nahm meine Hand und sprach: „Tut mir leid mein Schatz, hätte ich gewußt, was das für eine Aufregung verursacht, hätte ich das nie angezettelt. Die Idee kam mir spontan, weil ich das Gefühl hatte, dein Freund Basti ist unglücklich. Du weißt doch, wir sprachen gestern über seine Eltern.“ „Ist schon gut Mama, du hast nichts falsch gemacht, das Problem habe nur ich, weil mir das alles Angst macht.
Es wurde trotzdem ein sehr schöner Abend und wir tranken wohl alle ein Gläschen zu viel. Albernd und kichernd, wie kleine Kinder, begaben wir uns noch vor Mitternacht zu Bett.
Am nächsten Tag fuhren wir mit dem letzten Zug nach Hause. Vorher gingen wir zum neuen Friedhof und ich legte Blumen auf das Grab meiner Großeltern. Vom Zugfenster aus, schaute ich wehmütig auf mein Heimatdorf. Aber meine Kindheit war vorbei und ich mußte nach vorn schauen. In diesem Moment legte Basti den Arm um mich und ich war ihm dankbar dafür. Eng aneinander geschmiegt standen wir die kurze Fahrt und ließen die Landschaft an uns vorbei sausen. Wir fuhren zurück in unsere Welt.
Bastis freie Tage waren zu Ende und ich hatte einiges nachzuholen. Also stürzte ich mich in die Arbeit. Gegen Abend rief Karin an. „Kann ich bei dir übernachten, ich möchte nicht allein sein. Jan ist mal wieder unterwegs, irgend einen Vortrag halten, bitte.“ „Klar, jederzeit, ich freue mich.“ Ich wollte noch fragen, ob was nicht stimmt, aber Karin hatte schon aufgelegt. Schnell zog ich meine Jacke an, um Karin entgegen zu gehen. Ihre Stimme hatte so seltsam geklungen.
Schneeregen und kalter Wind empfingen mich. Als ich auf Karin traf, liefen ihr Tränen über die Wangen, oder war es geschmolzener Schnee? Nein, eine Träne nach der anderen perlte aus ihren großen braunen Augen. So kannte ich meine Freundin nicht, sie war keine Heulsuse wie ich. Etwas Schlimmes mußte passiert sein und eigentlich sollte sie noch auf Arbeit sein.
Bis wir zu Hause waren, hatte sie sich schon wieder gefangen und konnte mir alles erzählen.
„Ich stand draußen auf der Rampe mit einer Kollegin. Sie warf ihre Pappe in die Presse und ich mußte warten, bis ich drann kam. Da die Presse voll war, beugte sie sich hinaus und drückte auf den Schalter. Sofort ging die Presse an, aber meine Kollegin rutschte aus, konnte sich nicht mehr halten und fiel hinein.“ Karin schluckte und machte eine Pause. Schon wieder rollten Tränen. Ehe ich etwas sagen konnte hatte sie schon weitergesprochen. „Sie fiel zwischen die Pappen und ich hörte sie schreien. Sofort sprang ich hin und versuchte sie zu erreichen. Ich beugte mich so weit es ging hinein, aber ich konnte sie nicht fassen. Das Schreien und das Knirschen der Presse machten mich halb wahnsinnig, am liebsten wäre ich hinterher gesprungen. Dann hörte das Schreien auf, aber die Presse lief immer weiter und weiter... Ich bin umgefallen, erzählten mir dann die Kolleginnen. Sie hatten mich vermisst im Laden und auf der Rampe gefunden. Baba, dieses unmenschliche Schreien ist immer noch in meinem Kopf, es geht nicht weg. Von der Polizei und dem ganzen Trubel habe ich nicht viel mitbekommen. Ich wurde ins Krankenhaus gebracht, durfte aber bald wieder gehen. Man hat mir Psychopharmaka verschrieben, aber glaube nicht, dass ich das Zeug nehme. Ich bin ja jetzt bei dir, da geht es mir gleich besser. Ich bin so froh, dass ich dich habe.“
Eng umschlungen saßen wir lange und sprachen nicht. Mir fehlten die Worte. Was hätte ich sagen sollen.
Für die Nacht hatte ich Karin einen Tee aus Johanniskrautblüten gemacht, und ich konnte sie überreden eine Schlaftablette zu nehmen. Sie war fix und fertig, als ich sie ins Bett brachte und zudeckte. Halb schon im Schlaf murmelte sie noch: „Sira hat mir das Böse geschickt, Sira will mich vernichten!“ Oh, wenn sie wüßte, dass Basti zu einer Geisterbeschwörung war. Irgendwann würde ich es ihr beichten müssen, aber erst einmal sollte sie sich erholen. An diesem Abend telefonierte ich lange mit Basti und fand dann keinen Schlaf. Mich hatte Karins Zustand mehr mitgenommen, als ich dachte.
Am nächsten Morgen ging ich mit zu Karins Hausarzt, der sie gleich vierzehn Tage krank schreiben wollte. Da kannte er meine Karin nicht! „Zwei Tage Ruhe, mehr nicht, ich bin doch nicht aus Zucker!“
Ich hatte also zwei Tage Zeit, meine Freundin wieder aufzubauen. Doch ich war erstaunt, Karin war eine starke Frau, sie steckte es weg. Wir sprachen zwar noch einmal darüber, aber sie weinte nicht mehr. Meine Näherei ließ ich sein und schleppte Karin in die Stadt. Das war das Beste, was ich im Moment machen konnte. Sie war abgelenkt und wir hatten noch sehr viel Spass. Als wir jedoch nach dem Abendbrot in meiner Küche saßen, fing sie wieder mit Sira an.
„Barbara, ich glaube, ich habe Sira mit meinen Worten verletzt, du weißt schon, als ich neulich bei ihr war. Sie will mich seelisch fertig machen, ich spüre das.“ Jetzt war die Gelegenheit von Bastis Geburtstagsüberraschung zu sprechen, und ich erzählte ihr alles. Doch sie reagierte anders, als ich erwartet hatte. „Mach dir doch nicht so viel Sorgen, Baba, es ist nun einmal geschehen und nicht mehr zu ändern. Außerdem trifft dich keine Schuld, es mußte wohl alles so kommen. Hauptsache dein Basti ist glücklich. Vielleicht ist die Alte eine ehrliche Haut und hat keine bösen Geister gerufen. Es scheint ja auch alles gut gegangen zu sein, denn er hat die Stimmen seiner Eltern gehört.“
Nachdem ich meine Näharbeiten erledigt hatte, legte ich mich auch hin. Es war wieder recht spät geworden. Für den morgigen Tag hatte ich mir etwas Besonderes ausgedacht. Ich wollte mit Karin ins neu eröffnete Spassbad und anschließend in die Sauna.
„Baba, altes Haus, aufsteeeehn!“ Boh, ich hatte verschlafen und rappelte mich schnell aus dem warmen Bett. Es duftete schon angenehm nach Kaffee. „Du gehst jetzt unter die Dusche und ich hole fix Brötchen.“ Das war sie wieder, meine Karin, wie ich sie kannte.
Es war ein kalter Morgen und die Sonne kam nur zögerlich hervor. Was störte uns das, wir hatten es so gemütlich in meiner kleinen Küche. Von meinem Plan war Karin begeistert. „Toll, Baba, was du dir immer ausdenkst. Ich freue mich richtig darauf. Wenn deine Kunden weg sind, gehen wir los, Mittagessen können wir unterwegs. Hast du Lust bei Achmed vorbei zu gehen, ich habe seit ewigen Zeiten keinen Döner mehr gegessen, ich weiß garnicht mehr, wie der schmeckt.“
Und so wurde es dann gemacht.
Abends fielen wir totmüde ins Bett, wir hatten einen wunderschönen Tag hinter uns und waren glücklich und zufrieden.
Doch Karin sollte noch keine Ruhe finden. Die Kriminalpolizei untersuchte den Vorfall mit der Papierpresse. Sie mußte aufs Revier und tausend Fragen beantworten. „Ich kam mir vor wie ein Schwerverbrecher, Baba. Sie fragten mich, warum ich die Kartonpresse nicht abgestellt habe. Das habe ich mich doch auch immer wieder gefragt. Ich weiß es einfach nicht. Wahrscheinlich war es der Schock. Dann hat mich so eine blöde Ziege von Kommissarin gefragt, ob ich nachgeholfen hätte, also meine Kollegin geschubst. Ich war so baff, dass ich nicht antworten konnte. Sie wußte, dass ich mit ihr mal Streit hatte, aber das war doch eine Lapalie, deshalb bringe ich doch niemanden um. Wie kann man nur sowas von mir denken, das ist so gemein.“
Ja, das war mehr als gemein, aber die Kripo quälte Karin dann nicht mehr. Die Untersuchungen wurden eingestellt und als Unglücksfall abgetan.
Dann begann der Alltag wieder. Lange Zeit passierte nichts Aufregendes. Das war mir sehr angenehm, hatten wir doch genug mitgemacht. Langsam veblassten die Erinnerungen.
Weihnachten war lange vorbei und der Frühling näherte sich mit Riesenschritten. Auch Jans und Karins Geburtstag lag hinter uns. Von Sira hatten wir nichts mehr gehört und mieden tunlichst das Thema. Bis - ja, bis sich wieder so ein gräßliches Gesicht an meinem Fenster zeigte. Oder war es nur ein Vogel? Ein Vogel mit zottigen Fell und einem Maul mit langen Zähnen? Alles Einbildung Baba, sagte ich zu mir. Doch als ich Basti davon erzählte, kam er am nächsten Tag mit einem Holzkreuz und hängte es in mein Fenster, genau über das umgedrehte kleine Kreuz.
Was? Schon acht Uhr? Ging etwa mein Wecker falsch? Ich sprang aus dem Bett und lief ins Bad. In einer halben Stunde würde es klingeln, so war es vereinbart. Nur nicht trödeln jetzt, meine Kunden durfte ich nicht verärgern. Nach dem Duschen bügelte ich schnell die gekürzten Hosen und konnte sie pünktlich abliefern. Gestern war ich recht zeitig ins Bett gegangen und hatte lange geschlafen. Doch mir war, als hätte ich kein Auge zu getan. Ich war nervös, alles fiel mir aus den Händen. Ich versuchte mich zu erinnern, ob ich wieder etwas schlechtes geträumt hatte, doch ohne Ergebnis.
So, wie der Tag angefangen hatte, ging es weiter. Zu allem Unglück streikte dann auch noch meine Nähmaschine. Am liebsten hätte ich alles stehen und liegen gelassen, aber es half nichts. Ich nahm mein Arbeitsgerät auseinander, putzte und ölte die kleinen Teilchen und setzte alles wieder zusammen. Währenddessen hatte ich mich beruhigt, vielleicht hatte mir auch der starke Kaffee geholfen, den ich mir vorher aufgebrüht hatte. Nun lief alles wie geschmiert, aber ich hatte drei Stunden verloren.
Als Karin anrief, war ich fast fertig. „Wie siehts aus bei dir“?, fragte sie mich. „Hast du Lust und Zeit am Sonntag? Wir waren lange nicht zusammen spazieren, und wenn du willst gehen wir vorher noch in unsere Kneipe.“ „Schön, Karin, ich freue mich, vergiss deine Karten nicht. Wollen wir mal zum Flohmarkt, oder hast du was Bestimmtes vor?“
Karin hatte etwas Bestimmtes vor, das wollte sie mir aber noch nicht verraten. Mir war es egal, hauptsache, ich war mit ihr zusammen. Ich vermisste unsere Ausflüge sehr.
Sonntag Mittag saßen wir in unserer Lieblingskneipe und schwatzten und schwatzten...
Dann rückte Karin mit der Sprache heraus. Sie machte ein geheimnisvolles Gesicht und zog einen Schlüssel aus ihrer Tasche. „Sieh mal, was ich hier habe, wir sehen uns jetzt mein neues Zuhause an. Jan und ich werden zusammen ziehen. Es ist der Schlüssel zum Glück!“
Weit mußten wir nicht laufen. Die Wohnung lag im obersten Stock eines alten Hauses. Das Gebäude war ziehmlich imposant, überall Türmchen und recht verwinkelt gebaut. Aber es war frisch saniert und sah fast wie ein Märchenschloß aus. „Die unteren zwei Etagen sind schon vergeben, aber das ist mir ganz recht, oben hat man den besseren Ausblick. Komm, ich zeige es dir.“
Die Räume waren hell und sonnig. Karin erklärte mir, wie sie die Zimmer nutzen wollten und wo was hinkam. Ich stand an ihrem zukünftigen Schlafzimmerfenster und sah hinaus. „Sag mal Karin, da unten ist gleich der Friedhof mit der kleinen Kapelle, stört dich das nicht?“ „Ach was, warum sollte mich das stören? Sieh doch nur wie schön das alles aussieht, das viele Grün und da vorn ist auch die älteste und kleinste Kirche unserer Stadt. Und gleich hinter dem Fluß ist die Rabeninsel, und da, die alte Mühle und der Kindergarten neben dem Sportplatz. Ich kann alles überblicken. Komm mal ans andere Fenster, von da aus kann ich das Dach und das Bodenfenster deines Hauses sehen. Wir könnten uns zuwinken.“ Karin strahlte über das ganze Gesicht und ich gönnte ihr die Freude.
Später liefen wir den schmalen Pfad am Fluß entlang. Die Sonne schien noch immer und wir waren bester Laune. Kein Wunder bei diesem Frühlingswetter. Karin hatte plötzlich eine Idee. „Was hälst du davon, wenn wir nächstes Wochenende zu viert in der neuen Wohnung übernachten, nur so zum Spass. Wir könnten auf Luftmatratzen schlafen und nehmen uns was zu essen mit und dann machen wir eine Nachtwanderung durch alle Kneipen der Stadt. Oder wir spielen Karten, oder erzählen uns Gruselgeschichten im Dunkeln? Fragend und voller Erwartung sah sie mich an.
Und wie ich Lust hatte. Auch Basti und Jan freuten sich und so konnte unser Abenteuer beginnen.
Freitag Abend, nach Karins Spätschicht, gingen wir los, jeder einen Rucksack voll warmer Sachen und allerlei unentbehrlichen Dingen. Ich trug eine Riesenschüssel meines berühmten und begehrten Kartoffelsalates, Karin war für Brot und Wurst verantwortlich und unsere Männer für die Getränke. Sie hatten schon ein paar Tage vorher die Luftmatratzen und Decken hergebracht, so brauchten wir das nicht auch noch zu schleppen.
Als Jan die Tür öffnete und das Licht einschaltete, waren wir angenehm überrascht. Vier Luftmatratzen, prall gefüllt, ein Tischtuch in der Mitte, mit Papptellern und Plastebesteck, wohl zehn Weinflaschen, ein Kasten Bier und überall weiße Kerzen. Zum Glück keine Schwarzen, dachte ich so bei mir. Es gab ein großes Hallo und unsere Männer wurden ohne Ende gelobt.
Das Licht wurde ausgeschaltet und die Kerzen angezündet. Wir ließen uns zum Essen nieder und sprachen über allgemeine Dinge. Klatsch und Tratsch auf Arbeit, Politik, Umzug und Miete der Wohnung. Basti und ich boten den beiden unsere Hilfe an, doch wir wurden nicht gebraucht, ein Umzugsunternehmen würde alles erledigen.
Gegen Mitternacht war die Stimmung auf dem Höhepunkt. Wir erzählten uns Witze und lachten endlos darüber. Dann stimmte Jan Trinklieder an und wir sangen fröhlich laut und falsch. Gut, dass uns niemand hörte. Basti hatte wieder seinen alten Recorder mit und nach der Musik tanzten wir dann. Was war das für ein Spass, betrunken und singend hüpften wir im Kreis einen Sirtaki.
Danach standen wir am geöffneten Schlafzimmerfenster und rauchten.
Basti sah es zuerst. „Seht mal, auf der Insel brennt ein Feuer!“ Sofort schauten wir alle hin. „Ob das Sira ist? Wahrscheinlich macht sie eine ihrer Geisterbeschwörungen. Schade, dass es so weit weg ist, wir könnten sie sonst beobachten.“ "Willst du das wirklich sehen Basti“?, fragte ich erstaunt.
„Ja Baba, lass uns heranschleichen, aber leise, damit sie uns nicht sieht.“ Jan und Karin wollten auch hin und sie brauchten nicht lange, mich zu überreden.
Angetrunken und sorglos wie wir waren, marschierten wir über die Brücke zur Insel, wo uns ein neues Abenteuer erwartete.
Hinter der Brücke wurde der Weg schmaler und wir liefen im Gänsemarsch. Natürlich tapsten wir in jede Pfütze. Ich ging voraus und summte ein Lied. Plötzlich merkte ich, wie mir jemand die Hände auf die Schultern legte. Ich drehte mich um und sah meine Freunde, wie sie gebückt, mit eingeknickten Beinen hinter mir her liefen. Es war so ein lustiger Anblick und ich lachte bis mir die Tränen kamen. Auch die anderen konnten sich nicht mehr halten und knieten lachend im Matsch. Als wir uns beruhigt hatten, marschierten wir weiter. Immer wieder fing jemand an zu kichern und alle mußten mitlachen. „Pscht“! machte Jan und wir waren für einen kurzen Moment still. In die Stille hinein kam ein „Pscht“ von Karin und wir knieten wieder vor lachen. War es der Alkohol oder unsere Müdigkeit, die uns über jede Kleinigkeit lachen ließ?
Als wir an den Seitenpfad kamen, der zur Ruine führte, blieben wir unschlüssig stehen. Wollten wir da wirklich durch? Die Taschenlampen hatten wir vergessen und nur mit den Feuerzeugen würde es nicht gehen. Außerdem würde uns Sira schon vom Weiten hören, wenn wir uns durchs Gebüsch kämpften. Also kehrten wir um und gingen singend und kichernd, nass und schmutzig den Weg zurück.
In unserer Behausung angekommen, zogen wir uns erst einmal um. Dann kuschelten wir uns in unsere Schlafsäcke und schwatzten, bis uns die Augen zufielen.
„Leute, ich habe eine Idee!“ Wir saßen auf der Erde und machten Mittag und Frühstück zugleich. Die Männer hatten in weiser Voraussicht die Kaffeemaschine mitgebracht und so konnten wir an diesem kalten Morgen etwas Warmes trinken. Wir sahen alle ziehmlich zerzaust und müde aus. Der gestrige Alkohol war wohl schuld daran. Gespannt schauten wir nun zu Jan, was hatte er denn für eine Idee? „Heute ist lange Museumsnacht, da könnten wir doch hingehen, ein kleiner Kneipenbesuch nebenbei wird uns auch nicht schaden.“ An unseren Gesichtern konnte er ablesen, wie `begeistert`wir waren. „Das ist doch langweilig Jan, hast du keine bessere Idee“?, fragte Karin. „Na dann macht ihr doch einen Vorschlag, ich jedenfalls gehe sehr gern ins Museum.“
Ich hatte einen Vorschlag. „Hört mal, ein Kunde von mir hat in der Nähe ein Wassergrundstück und das Beste daran ist sein Motorboot. Was meint ihr, soll ich ihn mal fragen ob er es uns ausleiht?“ Heftiges Nicken folgte und so ging ich später mit Karin zu Herrn Wachssiegel und setzte meine freundlichste Miene auf. So ganz recht war es ihm nicht, doch als ich ihm fünfzig Mark rüberschob, klappte es. Er wollte das Boot fertig machen und in einer Stunde durften wir kommen.
Die Männer waren echt begeistert, war es doch ein seltenes Spielzeug für sie.
Basti und Jan saßen vorn und wechselten sich am Steuer ab. Ich hatte es mir mit Karin auf der Rückbank bequem gemacht. Wir waren vorher nocheinmal kurz zu Hause um uns Mütze, Schal, Handschuhe und Regenmäntel zu holen. Wir Frauen hatten jeder noch eine Thermoskanne mit heißem Kaffee und ein paar belegte Brötchen mitgebracht. Das war auch notwendig, denn das Wetter spielte verrückt. Einmal schneite es, dann folgte Regen und dann schien wieder die Sonne. Eben richtiges Aprilwetter.
Jan und Basti unterhielten sich über technische Dinge, das Boot hatte es ihnen angetan und wir existierten nicht mehr für sie. Das machte uns garnichts aus, wir beide unterhielten uns über die gestrige Nacht und hatten unseren Spaß.
„Guck mal, wir fahren in die Schleuse“, sagte Karin plötzlich. „Nein, Jan“, rief ich, „nicht in die Schleuse. Herr Wachssiegel hat extra gesagt, wir sollen das nicht machen, da dürfen nur erfahrene Bootsfahrer durch!“ „Ach lass mal Baba, wir machen das schon, nur keine Angst. Ich habe oft genug zugeschaut, uns wird nichts passieren.“
Jan steuerte in die Schleuse und Basti zog ein langes Seil durch einen der Eisenringe an der Mauer. Langsam sank der Wasserspiegel und es wurde immer dunkler um uns. Jan hatte ein Paddel ergriffen und hielt das Boot damit vom Rand fern, es würde sonst zerkratzt werden. Basti hatte das Seil in der Hand und achtete darauf, dass es nicht zu locker wurde. Endlich öffneten sich die schweren Schleusentore und wir durften hinaus paddeln. Dann ging es wieder mit Motorkraft weiter. Jan konnte es sich nicht verkneifen, mir einen triumphierenden Blick zu zuwerfen. Das nahm ich zum Anlass nach dem Benzinvorrat zu fragen. Sofort waren die Männer wieder in ihrem Element. Sie diskutierten nun, wie weit wir noch fahren konnten und wurden sich nicht einig.
Karin und ich genossen die Landschft rechts und links unseres Heimatflusses. Voller Neid schauten wir auf die schmucken, gepflegten Anwesen. „Ein Wassergrundstück müßte man haben“, schwärmte Karin, „da würde ich den ganzen Sommer lang wohnen. Ich verstehe nicht, warum so viele Menschen ihren Urlaub im Ausland verbringen. Fernweh hatte ich noch nie, hier ist es so schön!“
Inzwischen waren sich die Männer einig geworden. Sie hatten an Hand des vorhandenen Benzins genau ausgerechnet, wann wir umkehren mußten, plus minus einen Kilometer. Karin und ich lachten uns kaputt, das war typisch Mann. Na, wenn das nur gut ging.
Ich hielt meine Hand ins Wasser, zog sie aber schnell wieder zurück. Das trübe schmutzige Etwas war eiskalt. An uns vorbei trieben Zweige und große Äste. „Basti pass auf, da vorn kommt ein Baum angeschwommen“, rief ich laut um den Motorenlärm zu übertönen. „Hab ich doch längst gesehen, Schatz, das geht doch schon die ganze Zeit so. Wir haben April und da ist eben Hochwasser, aber als wir losfuhren war es noch nicht so schlimm. Sieh nur, wie wir gegen die Fluten kämpfen müssen, hoffentlich hält der Motor die halbe Stunde noch durch.“ Bastis Stimme klang besorgt, doch Karin und ich waren frohen Mutes. Waren wir doch auf dem Rückweg und die Schleuse lag hinter uns. Die Sorglosigkeit sollte uns aber bald vergehen, denn plötzlich setzte der Motor aus. Noch lachten wir und fragten hämisch: „Sprit alle? Verrechnet?“ Doch die Männer hörten uns garnicht zu. Sie beugten sich weit aus dem Boot und griffen wohl nach dem Motor. Wir hörten aus ihrem Gespräch, das sich etwas, ein Seil oder Netz, im Motor verfangen hatte. Jan stocherte mit dem Ende des Paddels im Wasser herum und Basti hielt ihn fest. „Komm, lass mich mal ran“, sagte Basti, „vielleicht kann ich das Seil lösen.“ Nun hielt Jan ihn fest. „Paddelt doch ans Ufer, dort könnt ihr in Ruhe alles machen“, sagte Karin und ich stimmte zu. Wir hatten kaum ausgesprochen, da kam ein Aufschrei von Basti und gleich darauf schimpfte er wie ein Rohrspatz. Ein großer Ast hatte ihm das wertvolle Paddel aus der Hand gerissen und die Fluten trugen es fort. Jetzt war guter Rat teuer. Basti versuchte krampfhaft mit dem verbliebenen Paddel das rettende Ufer zu erreichen.
Doch wir trieben zurück zur Schleuse. Bei der Geschwindigkeit würde das Boot an den eisernen Toren zerschellen. Wie durch ein Wunder gelang es Basti und Jan, der verzweifelt mit den Händen paddelte, in den Seitenarm zu gelangen. Hier floss das Wasser nicht ganz so schnell, aber wir kamen nicht ans Ufer. Jan hatte sich aufgerichtet und schaute entsetzt nach vorn. Dann schrie er laut: „Wir treiben auf das Wehr zu, haltet euch fest!“
Wenn jetzt kein Wunder geschah, würde es uns schlecht ergehen.
Jan riss Basti das Paddel aus den entkräfteten Händen und konnte das Boot aus der stärksten Strömung herausholen. Wir blieben seitlich vor dem Wehr im Gestrüpp hängen. Sofort wurde das Boot mit dem Seil an das Gestrüpp gebunden. Jan rief die Wasserschutzpolizei an. Wir mußten nicht mehr lange warten. Die Polizei schleppte uns bis zu Herrn Wachssiegel an den Bootssteg. Eigentlich hatten wir ein kräftiges Donnerwetter erwartet, doch Herr Wachssiegel meinte nur, dass wir das reparieren müßten. Nach einer Stunde hatten unsere Männer auch das geschafft und wir machten uns so schnell es ging auf den Heimweg.
Der Abend verlief ziehmlich ruhig.
Sonntag früh tranken wir noch Kaffee zusammen und packten dann unsere Sachen. Jan hatte heute Dienst im Krankenhaus und auch Basti mußte zu seiner Schicht. Wir waren uns einig, dass es ein wunderschönes Wochenende war, aber wir hatten erst mal genug von Abenteuern.
Drei Wochen später saßen wir bei mir zu Hause und feierten meinen Geburtstag. Karin und Jan waren inzwischen umgezogen und erzählten begeistert von ihrer Wohnung. Basti und ich schauten uns an. Dachten wir etwa das Gleiche? Ganz bestimmt! Auch wir hatten vor zusammen zu ziehen, aber wann, das stand in den Sternen. Von Basti hatte ich ein Silberkettchen erhalten. Das Besondere daran war der Anhänger. Herz, Kreuz und Anker! Basti sagte, man nennt dies Seemannsgrab, es steht für Glaube, Liebe und Hoffnung. Ich freute mich sehr darüber, aber egal, was er mir auch schenkte, ich liebte ihn über alles.
Nach dem Abendessen wurde mir ein Briefumschlag überreicht. Alle drei schauten mich gespannt an, während ich ihn öffnete. Es stand nur ein einziger Satz darin: Einladung zum Mitternachtspicknick!
Na Klasse, ein neues Abenteuer, aber ich war bereit. Allerdings wurde mir noch nichts verraten. Weder wann es stattfinden sollte, noch wo. Ich rätselte eine Weile herum und fragte und bettelte, aber sie blieben standhaft und verrieten nichts.
Dann kam die nächste Überraschung, und zwar von Karin und Jan. Noch ein Briefumschlag! Ich merkte beim Anfassen, dass sich darin etwas hartes befand, fast wie ein Schlüssel. Ungeduldig riss ich den Umschlag auf und es fiel ein Schlüssel heraus. Fragend schaute ich die beiden an. Sie sahen so glücklich aus. Karin kam an meinen Platz, nahm mich in die Arme und sagte: „Dieser Schlüssel ist für die Wohnung unter uns, für dich und Basti.“
Ich war sprachlos. Und Basti genauso. Wir konnten unser Glück kaum fassen. So eine große und schöne Wohnung, so wenig Miete, fast geschenkt, in einem wunderschönen alten Haus in traumhafter Umgebung...Und dann mit unseren Freunden zusammen...
Ich muß wohl ziemlich dumm aus der Wäsche geguckt haben, denn Karin und Jan lachten los. Karin nahm meine Hände, zog mich hoch und wirbelte mich im Kreis herum. Sie war so glücklich. Aber ich war noch immer sprachlos. Basti dagegen fing an zu fragen und es stellte sich heraus, dass Jans Vater das Haus gekauft und hatte renovieren lassen. Die Wohnung sollte sowas wie ein Geschenk für mich sein, sowas wie eine Wiedergutmachung.
Nachdem ich dies erfahren hatte, lehnte ich strikt ab, dort zu wohnen. Von diesem Schwein wollte ich nichts geschenkt haben. Und Basti verstand mich. Auch Karin und Jan verstanden es, doch sie meinten, ich hätte alle Zeit der Welt, darüber nachzudenken und ich könnte jederzeit meine Meinung ändern. Diese Wohnung wäre für uns reserviert, niemand anderes würde jemals dort einziehen. Dann sprachen wir nicht mehr davon und der Abend wurde noch sehr lustig.
Die folgenden Tage versuchte ich nicht daran zu denken. Doch je mehr ich es wegschob, um so hartnäckiger kehrte es zurück. Natürlich wäre es toll mit Basti in einer Wohnung, natürlich wäre es toll mit Karin in einem Haus. Es wäre einfach alles toll und ich konnte mir nichts besseres vorstellen. Aber - selbst wenn die Miete statt der zweihundert Mark achthundert wäre und somit nicht geschenkt, ich würde sie an meinen Feind bezahlen. Und erst recht, wollte ich nichts geschenkt von meinem Feind. Der Herr Dr. Gerald Bernauer wollte mich kaufen. Oh, warum war ich nur so zimperlich? Er hatte mir genug angetan und es wäre doch recht und billig, wenn er es wieder gutmacht. Ich schwankte hin und her mit meiner Meinung. Manchmal richtete ich die Wohnung schon in Gedanken ein, doch dann ärgerte ich mich über mich selbst. Doch als ich eines Tages mit Basti darüber sprach und wir die Wohnung in Gedanken zusammen einrichteten, wußte ich auch, dass wir umziehen würden. Endlich war die Entscheidung gefallen und Basti und ich waren sehr glücklich darüber. Ein neuer Lebensabschnitt würde beginnen.
Das Mitternachtspicknick fand eine Woche vor dem Einzug statt. Es war eine laue, angenehme Sommernacht. Wir saßen zu viert auf dem Vorhof der alten Mühle auf Decken und Kissen. Licht spendete uns ein kleines Lagerfeuer, welches in der Mitte brannte. Seitlich stand ein Grill, von dem es köstliche Rostbrätel gab. Ich hielt meinen Becher mit dem Glühwein fest umfasst und sah ins Feuer. So glücklich kann man garnicht sein, dachte ich. Liebevoll sah ich zu meinen Freunden und zu Basti. Ich war dankbar für jeden Tag, den ich mit ihnen erleben durfte und ich war überzeugt, dass das Leben noch viel Schönes für uns bereit hielt.
Die Entscheidung war gefallen, der Umzug war organisiert. Ich wußte, ein neues Leben würde beginnen. Ein Leben mit Basti. Wir hatten so viel vor, das ganze Leben lag vor uns und wir waren der festen Überzeugung, das es ein glückliches, zufriedenes Leben würde. Auch ein oder zwei Kinder waren geplant. Was sollte uns passieren? Wir liebten uns und nur das zählte. Wir wußten nichts von steinigen Wegen, die man gehen muß. Wir wußten nichts von Krankheit und Not, die man überwinden mußte. Wir hatten uns und unsere Liebe. Und - wir hatten die besten Freunde die es gab an unserer Seite.