Merlinde
Diskussionsleiter
Profil anzeigen
Private Nachricht
Link kopieren
Lesezeichen setzen
dabei seit 2014
Profil anzeigen
Private Nachricht
Link kopieren
Lesezeichen setzen
Baba
01.05.2014 um 10:23Verflixt, was war das nun schon wieder. Der dünne Faden hatte sich schon zum dritten Mal in kurzer Zeit in der Nähmaschine verfitzt. Wie sollte ich da fertig werden. In einer Stunde kam Frau Meyer, mit Ypsilon, und wollte ihre Gardinen abholen. Ungeduldig zupfte ich die Fädchen aus der Spule und wickelte sie neu auf. Ab nun klappte alles reibungslos.
Pünktlich 15 Uhr klingelte es und meine liebe Frau Meyer, aufgetakelt wie immer, stand an der Tür und verlangte ihre fertigen Gardinen. Mit einem süß - saurem Lächeln drückte sie mir das Geld in die Hand und ging ohne sich zu bedanken davon. Die war ich erst mal los. Aber da ich dringend auf die paar Mark angewiesen war, durfte ich nicht unfreundlich sein.
Jetzt einen Kaffee trinken, das wäre nicht schlecht. Kaffe mit viel Milch und Honig, dafür würde ich sterben.
Doch schon wieder klingelte es. Ein gutgekleideter Mann um die Fünfzig, grauer Anzug, frisch geputzte Schuhe, stand lässig angelehnt, den Mantel über der Schulter vor mir. Er lächelte mich freundlich an und fragte, ob ich ihm wohl seinen Mantel reparieren würde, die Innentasche sei zerrissen. Ich bat ihn in die Küche, bot ihm einen Kaffee an und sagte ihm, daß er morgen wiederkommen könnte.
Sofort machte ich mich an die Arbeit und der Schaden war bald behoben. Doch ausruhen konnte ich mich noch nicht. Schnell ging ich das Nötigste einkaufen, machte dann meinen Haushalt, und endlich konnte ich meinen Kaffee genießen.
Ich setzte mich an mein kleines Bodenfenster und schaute in den aufkommenden Abendhimmel. Langsam wurde es Frühling und der Schnee von letzter Woche war restlos getaut. Ich freute mich schon auf die warmen Tage. Mit meiner Freundin würde ich dann wieder endlose Spaziergänge durch die kleine Stadt und das Wäldchen unternehmen. Es gab ja so viel zu sehen und wir entdeckten immer etwas Neues. Manchmal nahmen wir uns Marschverpflegung mit, aber manchmal, wenn es der Geldbeutel zuließ, kehrten wir ein. Es gab einige gemütliche Gaststätten mit gutem preiswerten Essen. Man kannte uns schon und begrüßte uns immer freundlich. Besonders meine Freundin Karin war begehrt. Und das hatte seinen Grund. Überall wo sie hinging, schleppte sie ihre Tarotkarten mit. Die Leute waren ganz wild darauf, sich die Zukunft voraussagen zu lassen. Dafür bekamen wir oftmals eine warme Mahlzeit umsonst, was natürlich nicht schlecht war.
Ich selbst hatte mir die Karten noch nie legen lassen, sie machten mir Angst. Es kam ja doch alles, wie es kommen mußte, wozu sollte ich das vorher erfahren? Nein, ich wollte einfach nichts davon wissen.
Meine Tasse war leer und ich erhob mich aus dem gemütlichen alten Sessel. Draußen war es bereits dunkel und ein paar Sterne glitzerten in der Nacht. Plötzlich fegte ein dunkler Schatten am Fenster vorbei. Erschrocken wich ich zurück, doch dann mußte ich lachen. Es war sicher ein Vogel, der sich verspätet hatte und nun schnell in sein Nest wollte. Aber dann müßte es ein riesiger Vogel gewesen sein, überlegte ich weiter. Ich öffnete das Fenster. Laue Frühlingsluft schlug mir entgegen. Da draußen war nichts. Und wenn es wirklich ein Vogel war, dann war er längst weg. Eine Weile blieb ich noch stehen und schaute in die Nacht. Vom Weiten hörte ich den Lärm der Straße, irgendwie beruhigte mich das. Es gab mir das Gefühl, nicht allein zu sein. Und dann merkte ich, das ich immer noch Angst vor dem Schatten hatte.
Das Beste war jetzt Karin anzurufen, sie würde mich mit ihrem Geplauder ablenken.
Doch das Gegenteil geschah. Karin wurde ganz still als ich ihr meine kurze Begebenheit erzählte. „Was ist los Karin, warum sagst du nichts?“ Karin stotterte erst etwas herum und dann rückte sie mit der Sprache heraus.
„Du wirst es nicht glauben Baba, aber ich habe eben für dich die Karten gelegt. Ich weiß, daß du das nicht willst, aber irgend etwas trieb mich dazu. Eine innere Stimme sagte es mir und du weißt ja, daß ich darauf sehr viel gebe. Bitte sei mir nicht böse, ich wollte dich nämlich gerade anrufen um dich zu warnen.“ „Wieso warnen, was ist los? Nein, sag nichts, wenn du deine Weisheit aus den Karten hast, ich will es nicht wissen. Du weißt genau was ich davon halte. Und wenn deine Karten wirklich recht haben und etwas Schlimmes auf mich zukommt, will ich es erst recht nicht wissen. Du machst mir Angst.“ „Bitte laß es mich dir sagen, es ist wirklich wichtig, du bist in Gefahr!“ „Lieber nicht, dann kann ich nicht schlafen, aber wenn du willst, können wir ja am Sonntag spazieren gehen. Vielleicht will ich es dann wissen.“ Karin antwortete besorgt: „Dann schließe Tag und Nacht die Türen und Fenster und laß niemanden herein.“ „Wie stellst du dir das vor Karin, du weißt doch, daß ich meine Kundschaft herein lassen muß, sonst kann ich die Näherei aufgeben.“ „OK, sei einfach wachsam, schlaf gut, bis morgen.“ Damit legte sie auf.
Am nächsten Tag erschien der ältere Herr um seinen Mantel abzuholen. Er hatte wieder eine Kleinigkeit zur Reparatur mitgebracht. Bevor er ging, drückte er mir fünf Mark in die Hand und ließ sie nicht los. Ganz nah kam er an mich heran und sagte: „Ich habe eine gute Bekannte, die ist Nachrichtensprecherin beim Fernsehen,“ und er nannte einen ganz bekannten Namen. „Sie hat deine Figur und ich könnte dir ihre abgelegten Kleider geben.“ Verlegen zog ich meine Hand zurück. Wie sollte ich mich jetzt verhalten, was bildete der sich ein und wieso duzte er mich? Ehe ich reagieren konnte, hatte er mich gepackt und drückte seine wiederlichen Lippen auf meinen Mund. Da ich mich wehrte, ließ er von mir ab. Ich gab ihm seine Jacke, welche ich eigentlich reparieren sollte und schob ihn zur Tür hinaus.
Puh, was war das für eine Nummer? Meine Hände zitterten vor Aufregung. So ein Mistkerl, der bildet sich ein jede zu kriegen mit seiner schrägen Art. Es dauerte eine Weile bis ich mich wieder beruhigt hatte. Dann konnte ich mich endlich wieder meiner Arbeit widmen. An Karin mußte ich auch denken. Da hatte sie sich solche Sorgen um mich gemacht, aber damit wurde ich allein fertig. Wenns weiter nichts ist, als einen zudringlichen Kerl abzuwehren, na da brauch ich keine Voraussage der Tarotkarten.
Abends saß ich wieder auf meinem Lieblingsplatz am Fenster und schaute auf die fernen Berge. Gerade als ich aufstehen wollte, um ins Bett zu gehen, flog wieder ein Schatten vorbei. Ich glaubte so etwas wie ein Gesicht zu erkennen, mit glühenden Augen und furchterregend. Bis an die Wand wich ich zurück und versuchte meine Gedanken zu ordnen. Dann ließ ich schnell die Rollos in meiner kleinen Wohnung herunter und sprang ins Bett. Bis an die Ohren deckte ich mich zu und es dauerte lange bis ich einschlief.
Am nächsten Morgen versuchte ich das Erlebnis zu verdrängen. Ich redete mir ein, daß ich schon Gespenster sehe. Vielleicht brauchte ich Ablenkung. Immer nur Haushalt und nähen, da grübelt man zu viel.
Zum Glück war ich heute abgelenkt. Frau Meyer, die ich sonst garnicht gern sah, wollte eine Hose genäht haben. Dafür brachte sie grünen Samt mit. Grüner Samt - und das bei ihrem dicken Hintern... Nachdem ich Maß genommen hatte, erzählte sie mir endlose Geschichten von ihrer dummen Verwandtschaft. Wenn ich ab und zu nickte, erzählte sie fleißig weiter. Heute störte es mich mal nicht, auch nicht ihre grell-roten Lippen und ihr verschmierter Lidschatten.
Als sie weg war, fing ich an die Hose zuzuschneiden. Dabei merkte ich nicht, daß mir ein grober Fehler unterlief. Den mußte ich dann später ausbaden.
Obwohl ich es nicht wollte, schweiften meine Gedanken oftmals zu dem großen schrecklichen Gesicht. Hatte ich das nun wirklich gesehen? Ich mußte unbedingt noch einmal mit Karin darüber reden. Und sogleich stieg Freude in mir auf, denn morgen war Sonntag.
Als es langsam anfing zu dämmern, hatte ich schon längst meine Rollos hinunter gezogen. Nocheinmal wollte ich mir diesen Anblick nicht antun. Ich setzte mich vor den Fernseher, in eine warme Decke eingehüllt, und der Abend war gerettet.
Nach einer ausgiebigen Dusche begab ich mich gegen elf Uhr zu Bett. So einfach ist das also, dachte ich gerade, als ich ein gruseliges Geräusch vernahm.Es klang wie Stimmen aus dem Jenseits, anders kann ich es nicht beschreiben. Obwohl, ich hatte noch nie Stimmen aus dem Jenseits gehört, wie kam ich nur darauf? Mein Herz schlug schneller und ich wagte nicht die Hand auszustrecken, um die Nachttischlampe anzuknipsen. Dieses schreckliche Etwas könnte vielleicht hier im Zimmer sein. So verkroch ich mich abermals zum Schutz unter meiner Bettdecke.
Der Sonntag war wie für mich geschaffen. Ein strahlend blauer Himmel und Sonnenschein empfing mich, als ich die Rollos hochzog, natürlich mit einem mulmigen Gefühl. Mein Frühstück nahm ich Sonntags immer an meinem kleinen Bodenfenster ein. Hier war es am gemütlichsten. Heute jedoch setzte ich mich an den Küchentisch. Nur nicht an gestern denken. Karin würde mir helfen, davon war ich überzeugt. Als ich mein Brötchen aufgegessen hatte griff ich zur Zigarettenschachtel und danach zum Telefonhörer. Ich wollte Karin bitten, mich abzuholen. Sie sollte sich hier mal umsehen. Karin war einverstanden und wollte schon in einer halben Stunde da sein. Nun mußte ich mich beeilen. Noch ein kurzer Blick in meinen „Schlank-mach-Spiegel“ und die Haare kämmen. Da klingelte es schon.
Nachdem wir uns umarmt hatten sprudelte Karin gleich los. Sie stand mir in nichts nach, wenn es ums Erzählen ging. „Umsonst soll ich mich hier sicher nicht umsehen, irgendwas ist doch geschehen? Du siehst auch recht blass aus Baba.“ Nachdem ich ihr alles berichtet hatte, schaute sie mich traurig an. „Das tut mir leid mein Schatz, aber wir werden schon eine Lösung finden.“ Sie stellte sich an das Fenster und sah hinaus. „Hör zu Barbara, ich muß dir unbedingt sagen, was ich in den Karten gelesen habe.“ Wenn sie mich Barbara nannte, war es sicher wichtig. Inzwischen war ich selbst neugierig geworden. Ich hatte den Verdacht, daß es mit meinen seltsamen Erlebnissen zusammenhing.
„Ich habe gesehen, daß dich etwas bedroht, etwas Böses. Der Tod und ein Dämon stehen in deiner Nähe und ein Mann. Bei dem Mann bin ich mir nicht ganz sicher, was er für eine Rolle spielt.
Ich bekam einen Panikanfall und meine Beine versagten mir den Dienst. Ich glaubte Karin jedes Wort. „Wie können deine Karten das wissen?“ Karin sah noch immer zum Fenster hinaus als sie langsam antwortete. „Alles haben mir die Karten nicht gesagt, erst hier in deinem Zimmer an diesem Fenster habe ich es erfahren. Hier sieh nur, in das Holz ist ein umgedrehtes Kreuz eingeritzt. Von dir kann es wohl nicht sein, es sieht schon sehr alt aus.“ Endlich drehte sie sich zu mir und sah mir in die Augen. „Baba, es tut mir weh dir diese Voraussage zu machen, aber besser du erfährst es jetzt. Vielleicht, aber nur vielleicht, können wir das Schlimmste abwenden. Dazu brauche ich deine Hilfe.“
„Du brauchst meine Hilfe? Ich brauche deine Hilfe, ohne dich geht garnichts. Bitte nimm deine Voraussage zurück und erzähl mir, daß alles nur ein Scherz war.“ Ich wußte genau, daß Karin nicht scherzte , aber ich wollte das alles nicht wahr haben. „Erzähl mir über Geister und Dämonen, ich wüßte gern, was mir bevorsteht.“
Aus unserem Spaziergang ist an diesem Tage nichts mehr geworden. Wir saßen noch als es dunkel wurde. „Karin?“ „Ja Baba, ich weiß was du mich fragen willst. Die Antwort lautet: Ja! Ja, ich bleibe heut Nacht bei dir.“
Es war Montag Morgen und ich saß mit Karin in der Küche. Unser Gespräch drehte sich natürlich wieder um Geister.
Karin hatte gestern Abend noch einen ihrer Zaubersprüche am Fenster gemurmelt und eine schwarze Kerze hingestellt, welche die ganze Nacht brannte. Und es half! Kein Geist, kein Dämon und keine seltsamen Geräusche. Ich hatte geschlafen wie ein Bär.
Karin hatte zum Glück Spätdienst. Sie arbeitete als Verkäuferin in einem Supermarkt in Schichten.
Nach dem Frühstück zündeten wir uns eine Zigarette an. Es war unser gemeinsames Laster, welches wir nicht in den Griff bekamen. Unzählige Male hatten wir schon versucht aufzuhören. Seit langem war davon keine Rede mehr. Außerdem hatte ich im Moment andere Sorgen. Aber so schlimm waren sie garnicht mehr. Karin hatte sicher noch andere Zaubersprüche und alles würde gut werden.
Als es an der Tür klingelte, wurde ich aus meinen Gedanken gerissen. „O Gott Karin, ich bin noch nicht angezogen, das ist sicher Kundschaft.“ „Wieso, du siehst doch gut aus, geh ruhig im Bademantel zur Tür, was soll schon passieren.“ Also öffnete ich einen Spalt breit und lugte vorsichtig hinaus. Ein junger Mann wünschte mir einen `Guten Morgen`, überreichte mir einen Strauß weißen Flieder und einen Briefumschlag.
„Wer war das, was hast du da?“ Karin schaute mich neugierig an. Ich ließ mich auf den Stuhl fallen und antwortete: „Stell dir vor, `Superman`hat das gebracht. Er sieht toll aus, aber wir wollen erst mal nachsehen was in dem Brief steht.
Sehr gehrte Frau Herz!
Bitte entschuldigen Sie, den für mich, sehr peinlichen Vorfall. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.
Ich bitte hiermit in aller Form um Entschuldigung und hoffe sehr, Sie nehmen es an.
Ich stehe in Ihrer Schuld. Sollten sie jemals in Not sein, bitte wenden Sie sich an mich. Mein Sohn und ich werden tun, was möglich ist.
Mit freundlichen Grüßen!
Gerald Bernauer
„Na toll, erst knutscht er mich ab und dann entschuldigt er sich, der spinnt doch!“ Karin war da anderer Meinung. „Lies doch noch mal durch, ich glaube, er meint es ehrlich und helfen will er dir auch. Sicher hat er sich gründlich daneben benommen, aber wenn er ehrlich bereut, solltest du ihm verzeihen.“ `Der kann mich mal`, wollte ich gerade sagen, als mein Blick auf die Blumen fiel. Weißer Flieder, wie schön er aussah und wie er duftete... Damit hatte er mich gekriegt, denn Flieder war meine Lieblingsblume und noch dazu Weißer.
„OK, verziehen, aber jetzt erst mal ab ins Bad, sonst wird es heute nichts mehr mit nähen. Du bleibst doch noch zum Essen?“
Karin blieb. Das Gespräch führte hauptsächlich ich. Ich kam garnicht wieder heraus aus dem Schwärmen für den Blumenboten. Karin unterbrach mich. „Und wenn das nun der Sohn war von deinem `Knutschfreund`? „Boh Karin, wenn das der Sohn war, kann der mich auch mal..., ist doch eine Sippe.“ Karin widersprach zwar, doch für mich war hier das Thema erledigt.
Der Tag verlief ruhig und ich konnte meine Arbeiten erledigen. Überhaupt verlief der Rest der Woche ohne Zwischenfälle und das hatte ich wohl Karin zu verdanken. Insgeheim nannte ich sie meine kleine Hexe.
Am Sonntag saßen wir dann endlich wieder in unserer Lieblingskneipe. Das Essen war vorbei und wir hatten jeder einen Glimmstengel in der Hand. Irgendwie, aus keinem besonderem Grund, mieden wir das Thema Geister. Karin erzählte von ihrer Arbeit und dem Ärger mit einem Kunden. Ich steuerte meinen Senf dazu, mit Frau Meyer. Wir zogen über sie her was das Zeug hielt.
„Ist hier noch frei?“ Wir unterbrachen unser Geplapper und sahen einen jungen Mann. Karin bot ihm einen Platz an, bevor ich etwas sagen konnte. Ich war mit einem Schlag puterrot im Gesicht. Der junge Mann war mein `Supermann`.
Er bestellte sich einen Kaffee und griff dann auch zur Zigarette. Ich hatte mich inzwischen beruhigt, aber Karin sah mich fragend an. Superman entkrampfte die Situation, indem er sagte: „Entschuldigung, daß ich mich hier dazwischen dränge. Ich sah sie von draußen, und da dachte ich, es wäre doch gut mit ihnen zu reden.“ Karins Stirn legte sich in dicke Falten. Sie begriff garnichts mehr. Doch er redete schon weiter. „Darf ich mich vorstellen, mein Name ist Jan Bernauer.“
„Ach, der Supermanblumenbote, der vom Papa vorgeschickt wurde“, antwortete Karin schnell. Biss sich jedoch sofort auf die Zunge. Aber gesagt war gesagt. Wir sahen uns verlegen an und nippten an unseren Tassen.
„Entschuldigen sie bitte, ich bin neu hier. Meine Kollegin sagte mir, daß sie Karten legen.“ Vor uns stand eine kleine dicke Kellnerin mit freundlichen Augen und roten Wangen. Karin griff sogleich nach ihren Karten und bat sie an den Nebentisch. Ich glaube, sie war froh hier fort zu kommen.
Aber wie kam ich aus der Sache raus? Fort wollte ich zwar nicht, denn er gefiel mir ausnehmend gut, aber was sollte ich mit ihm reden?
Vom Nebentisch kam ein Freudenschrei der kleinen Kellnerin. Und gleich darauf hörten wir sie sagen: „Und ich dachte schon, ich bekomme nie einen Freund.“
Superman lächelte mich an. „Stimmt denn das, was ihre Freundin da sagt?“ „Naja, bis jetzt ist alles eingetroffen, soviel ich weiß. Sie hat ein besonderes Talent.“ Kurze Zeit später war Karin wieder am Tisch und fragte: „Wollen wir noch ein Glas Wein trinken und dann unseren Spaziergang machen?“ „Der Wein geht auf meine Rechnung, ich trinke auch ein Glas mit, wenns recht ist.“ Herr Bernauer sah uns fragend an. Es war uns recht. Also saßen wir noch ein Stündchen und es wurde sehr gemütlich. Wir tranken sogar Brüderschaft und luden Jan zu unserem Spaziergang ein.
Der Weg führte uns in Richtung Rabeninsel. Zuerst wurden, wie immer, die nimmersatten Enten gefüttert. Dann schlugen wir den Weg zum Wehr ein. Hin und wieder mußten wir einer Pfütze ausweichen und einigen rücksichtslosen Fahradfahrern. Ansonsten war es ein schöner Spaziergang. Die Sonne wärmte schon ein bißchen und die Sträucher am Wegesrand zeigten das erste Grün.
An einem Seitenpfad blieb Jan stehen. „Habt ihr Mädels Lust die alte Ruine zu besichtigen?“
„Warum nicht, wir waren schon seit Jahren nicht mehr dort“ sagte ich und wir folgten dem schmalen Pfad. Superman immer vornweg. Bald war es kein Pfad mehr, nur noch Wildnis. Die Zweige schlugen uns ins Gesicht und wir versanken teilweise knöcheltief im Matsch. Das nahm Karin zum Anlass mit Jan zu scherzen. „Na toll, will der Herr nachher unsere Schuhe putzen? Weißt du überhaupt noch, wo es lang geht?“ Jan lachte etwas verlegen. „Ich war auch seit Jahren nicht mehr hier, denke schon, daß wir bald da sind. Und eure Schuhe putze ich gern, aber nur, wenn ich dafür einen Kaffe bekomme.“ „Den Kaffee spendiere ich gern, wenn wir nur heil hier heraus kommen,“ meinte Karin, doch plötzlich schrie sie auf. Ein Brombeerzweig hatte sich in ihren langen Haaren verfangen und sie konnte sich nicht allein befreien. Sofort war Jan zur Stelle und löste die Ranke vorsichtig, ja beinah zärtlich, aus ihrem Haar. Ich sah es mit Vergnügen. Wenn sich da nicht etwas anbahnte... Mir sollte es recht sein. Karin hatte bisher wenig Glück mit Männern gehabt und sie wünschte sich doch so sehr einen lieben Partner an ihrer Seite. Im Gegensatz zu mir, ich war als Single sehr zufrieden.
Nach einer ganzen Weile standen wir vor dem alten Gemäuer. Endlich Licht und Luft und kein lästiges Gesträuch mehr. Aber wieso eigentlich. Beim näheren Hinsehen bemerkte ich, daß hier Menschenhand am Werk war. Inzwischen waren Jan und Karin schon weiter gegangen. Als ich sie einholte, hörte ich aus ihrem Gespräch, daß es in der Ruine spuken sollte. Jan erzählte ihr, daß die letzte Besitzerin dieser ehemaligen Ausflugsgaststätte hier nachts umgeht und fürchterliche Greueltaten begeht. Das sagte er jedoch mit einem verschmitztem Lächeln. Er wollte uns ein bißchen Angst einjagen. Wir taten ihm den Gefallen und jammerten, daß wir schnell hier weg wollten, damit sie uns nicht auffrisst. Ich lachte zwar darüber, aber komisch war mir schon. Von Geistern hatte ich genug gehört. Am liebsten hätte ich sofort den Rückweg angetreten. Doch erst einmal liefen wir um das Haus. Jan erzählte, daß seine Großeltern hier früher oft und gern eingekehrt waren und sie ihn auch manches Mal mitgenommen hatten. Aber daran konnte er sich nicht mehr erinnern.
Zurück ging es wieder über Stock und Stein. Länger hätten wir uns dort nicht aufhalten können, denn bald brach die Dämmerung herein.
Jan ging wieder vorn und ich als Letzte. Aber das mit Bedacht, denn ich wollte mich mal kurz in die Büsche schlagen. Ich blieb etwas zurück und rief ihnen zu, sie sollten doch auf mich warten. Das „kleine Geschäft“ war schnell erledigt und ich stand da und zog meinen Reißverschluß hoch. Da fiel mein Blick auf etwas seltsames. War das eine Hand? Waren das Äste oder altes Laub?
Vorsichtig ging ich näher heran. Ich hatte wohl laut geschrien, denn Jan und Karin standen neben mir. „Beruhige dich Baba, ich rufe die Polizei, bitte geht etwas zurück, wir dürfen hier nichts verändern.“ Jan zog sein Handy aus der Lederjacke und wählte den Notruf.
Dann schlug er vor, bis auf den Hauptweg zu gehen um dort auf die Polizei zu warten. Wir sollten hier bleiben. Da wir uns keine Blöße geben wollten, blieben wir. Was sollte er von uns denken wenn wir uns zickig hatten und unsere Angst eingestanden. Nee, nicht mit uns!
Erst standen wir wie festgewachsen und rauchten nervös Eine nach der Anderen. Doch dann setzten wir uns auf einen umgekippten Baumstamm und harrten der Dinge, die da kommen sollten. Um uns war Dunkelheit und nur die schmale Sichel des Mondes spendete diffuses Licht. Inzwischen hatten wir aufgehört zu reden. Karin knipste ab und zu ihr Feuerzeug an, doch jedes Mal ging unser Blick in Richtung Leiche. Also ließ sie es bald.
Nach endloser Zeit hörten wir Stimmen und das Knacken der Äste. „Hier sind wir“ riefen wir wie aus einem Munde und gleich darauf mußten wir lachen. Es war ein Lachen der Erleichterung, denn jetzt merkten wir erst, daß wir ziehmlich verkrampft und ängstlich waren.
Die Kegel der Taschenlampen durchschnitten die Dunkelheit. Die Krähen, die sich in ihrer Nachtruhe gestört fühlten, flogen mit lautem Geflatter davon.
Endlich waren wir nicht mehr allein. Jan hatte wohl schon unterwegs erzählt, was er wußte. Auch wir konnten nichts Neues beisteuern und so durften wir dann bald nach Hause.
Karin schlug vor, daß wir alle zu ihr gehen. Wir waren einverstanden, denn keiner von uns wollte diese Nacht einsam verbringen.
In ihrer Wohnung war es gemütlich und warm. Ich kochte uns einen Kräutertee und Karin wärmte Suppe auf. So saßen wir noch lange zusammen und sprachen über das Erlebte. Irgendwie wußten wir, daß wir Drei tiefe Freundschaft geschlossen hatten. Deshalb bot auch Karin Jan einen Schlafplatz auf ihrer Couch an. Ich durfte mit in ihrem großen Bett schlafen. Somit waren wir alle beisammen und fühlten uns geborgen.
Die folgende Woche bekamen wir eine Vorladung zur Polizei. Da wir weiter nichts wußten, war das schnell erledigt. Ich machte mir so meine Gedanken. Karin hatte doch gesagt, der Tod steht in meiner Nähe. Bestimmt war damit die Leiche gemeint, welche ich entdeckt hatte. Ich hoffte es jedenfalls. Den Polizeibeamten hatte ich ein bißchen verärgert mit meinen vielen Fragen. Er sagte mir jedes Mal, er dürfe keine Auskunft geben. Na, ich war dann auch sauer, er sollte sich mal nicht so haben.
Jan machte wieder seine Späße und behauptete, die unheimliche Wirtin wäre die Mörderin. Dafür erntete er natürlich Spott von uns. Als er uns jedoch am kommenden Sonntag wiederum zur Ruine einlud, hatten wir keine Lust. Das sagten wir, aber wir hatten einfach Angst. Doch dann änderte Karin ihre Meinung. „Baba, ich geh da nochmal hin. Irgend etwas passiert dort, ich muß es wissen. Vielleicht kann ich erfahren, ob es dort wirklich spukt. Ich hatte so ein seltsames Gefühl.“ Jan glaubte zwar nicht an solche Dinge, aber er nutzte die Gelegenheit, um mit Karin zusammen zu sein.
Also war ich am Sonntag allein. Erst dachte ich, es macht mir nichts aus. Doch je länger ich darüber nachdachte, um so wütender wurde ich. Erst mal war ich wütend auf mich, weil ich so ein Angsthase war und deshalb nun hier allein saß. Dann ärgerte ich mich über Karin und Jan, daß sie nicht versucht hatten mich zu überreden. Ich steigerte mich da so hinein, daß mir zum Schluß die Tränen liefen. Als ich mich später etwas beruhigt hatte, nahm ich meine Jacke und verließ das Haus. Ich hatte einen Entschluß gefasst.
Ich saß im Bus und fuhr Richtung Neustadt. Von dort aus gab es einen anderen Weg zur Ruine. Die Beiden würden schön dumm aus der Wäsche gucken, wenn ich sie überraschte. Doch dann fiel mir noch etwas anderes ein und ich mußte insgeheim lachen. Ich wollte ihnen ein bißchen Angst machen, mich ins Gebüsch stellen und wie ein Wolf heulen. Tierstimmen konnte ich gut nachahmen.
Vorsichtig schlich ich mich an die Ruine, aber von Karin und Jan keine Spur. Na toll, ich hatte mir alles so schön vorgestellt und nun war keiner hier. Doch dann hörte ich Stimmen und ging näher an das Gebäude heran. Ob sie einen Zugang gefunden hatten? Saß Karin da drinn und murmelte ihre Zaubersprüche? Wohl drei Mal lief ich an alle Fenster und Türen. Nichts, ich konnte nicht hinein. Alles war zugemauert. Nun rief ich ganz laut: „Karin, Jan, wo seid ihr?“ Wieder nichts, nur unheimliche Stille. „Karin, ich bin hier“, rief ich abermals. Nun stand ich da, ganz allein. Was hatte ich mir nur dabei gedacht hier her zu kommen. Und wieder drangen Stimmen an mein Ohr. Aber es war wie ein Flüstern. Starr und steif und zu keiner Bewegung fähig wurde mein Körper. Alle Angst, die ich hatte, kam auf mich zu. Ich dachte an den Schatten und das gruslige Gesicht an meinem Fenster und an die mordende Wirtin. Fort, nur fort von hier, aber die Beine versagten mir den Dienst. In der aufkommenden Dunkelheit sah ich seltsame Gestalten, durchscheinende Wesen, die mit lautem Geheul auf mich zu kamen. Sie bildeten einen Kreis um mich und aus ihren gräßlichen Mäulern tropfte Blut. Immer näher kamen sie heran und ich war halb ohnmächtig vor Angst. Dann berührten sie mich mit ihren schleimigen, knochigen Händen und ich schrie.
Schreiend und schweißgebadet wachte ich auf. Ich lag zu Hause auf meiner Couch zwischen zerwühlten Kissen. Nur langsam begriff ich, daß dies ein Traum gewesen war. Allerdings ein Albtraum. Bevor ich noch weiter darüber nachdenken konnte, klingelte es an der Haustür. Ich rappelte mich auf und fragte: „Wer ist da?“ „Mach schnell auf Baba, wir sinds.“ Was war ich froh Karins Stimme zu hören. Sie stürmte herein, Jan im Schlepptau, und fing sofort an zu erzählen. „Du glaubst nicht, was wir erlebt haben. Stell dir vor, wir haben an der Ruine eine Frau getroffen, eine richtige Hexe. Das behauptete sie jedenfalls. Sie macht dort regelmäßig Geisterbeschwörungen und... Mein Gott Baba, wie siehst du denn aus?“ An Karins Gesicht konnte ich ablesen, daß sie echt erschrocken war. Ich schaute in den Spiegel und erschrak auch. Meine Kleidung war voller Blut und in den Haaren klebte grüner Schleim. Aber das war ich ja garnicht im Spiegel. Ich sah eines dieser Geisterwesen von der Ruine. Mir wurde schlecht und ich rannte ins Bad. Nachdem ich mich übergeben hatte, schaute ich nochmals in den Spiegel. Alles war wieder normal, nur das ich Karins Gesicht hinter mir sah. „Was ist los mit dir, bist du krank?“ Sie legte ihre Hand auf meine Stirn und befahl mir, mich hinzulegen. „Ich glaube du hast Fieber, du bist auch ganz nass geschwitzt. Ich mache dir einen Tee.“ Vorsichtig schaute ich nochmals in den Spiegel, bevor ich mich wieder zur Couch begab. Kein Blut und kein Schleim an mir, nur ein bissel blass und die Haare verschwitzt.
Nachdem Karin in der Küche fertig war, saßen wir zu dritt auf dem Sofa. Jeder eine große Tasse mit dampfenden Tee in der Hand. Ein süßer Fenchelduft zog durch das Zimmer.
„Schade, daß du nicht dabei warst. Ich fand es unheimlich interessant,was Sira uns alles erzählt hat. Weißt du, sie heißt Sira und wohnt ganz in meiner Nähe. Wir wollen uns mal treffen und ich lege ihr die Karten. Ich bin so froh, daß ich jemanden gefunden habe, der auf meiner Wellenlänge ist.“ Sie schaute zu mir. „Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?“
„Entschuldige Karin, ich hatte einen Albtraum bevor ihr kamt. Ich habe von der Ruine geträumt.“ Nun mußte ich alles berichten. Danach sahen mich Karin und Jan fassungslos an. „Langsam wird mir das unheimlich mit euch Mädels“, sagte Jan. „Bisher hatte ich gedacht, das sind nur Spinnereien, aber nun glaube ich alles was passiert. Stell dir vor Baba, Sira hat eine Hexenbeschwörung gemacht und Karin und ich durften dabei sein. Das Seltsame an der Sache ist aber, daß wir auch diese Geisterwesen gesehen haben.“ Wir saßen lange da und schwiegen.
Die nächsten zwei Wochen war ich krank. Nicht körperlich krank, nein, meine Seele litt. Ich hatte furchtbare Angstzustände und blieb in meiner Wohnung. Zum Glück kam Karin jeden zweiten Tag und redete mir gut zu. Langsam wurde es besser. An einem sonnigen Morgen raffte ich mich auf und ging hinaus. Oh, was hatte ich alles vepasst. Der Frühling war in vollem Gange und in der Luft lag der Duft von Jasmin. Eigentlich wollte ich etwas einkaufen, aber ich lief und lief und genoss den frischen Tag. Auf einer Parkbank ließ ich mich nieder und zog meine Jacke aus. Dann kramte ich in meiner Handtasche nach den Zigaretten. Nach drei Zügen fühlte ich mich so wohl wie lange nicht. Ich lehnte den Kopf zurück, schloß die Augen und die Sonne wärmte meine Haut.
Als ich die Augen wieder öffnete, schwebte ich über den Wipfeln der Bäume. Unter mir sah ich die Ruine. Die Krähen auf den Ästen schrieen unerträglich und flogen auf mich zu. Aber ich konnte mich vor ihnen retten und versteckte mich hinter der Ruine. Vorsichtig lugte ich um das Gebäude herum. Auf der Wiese saß Sira, die Hexe und die Krähen hatten einen Kreis um sie gebildet. In der Mitte brannte ein Feuer und daraus stiegen seltsame Gestalten auf, die sich dann in Nebel auflösten. Die Nebelschwaden hüllten mich ein und trugen mich ins Innere der Ruine. Ich befand mich in einem großen Raum, der wohl mal ein Tanzsaal war. Rings an den Wänden standen Tische und Stühle. Aber ich hatte keine Zeit mich weiter umzusehen, denn eine Frau stand plötzlich vor mir und nahm mich bei den Händen. „Komm mein Mädchen, tanz mit mir, ich habe lange auf dich gewartet. Heute tanzt du den letzten Tanz deines Lebens.“ Sie wirbelte mich herum und tanzte und stampfte und machte keine Pause. Ich versuchte mich zu befreien, aber sie hielt mich eisern fest. Meine Haare und meine Kleider flogen und der Atem ging mir aus, doch ich mußte tanzen. Alles drehte sich um mich und ich sah nur noch das lachende Gesicht meiner Tanzpartnerin. Aufeinmal wußte ich wer sie war. Die Wirtin! Es war die verstorbene Wirtin. Die grausame Wirtin, die jeden umbrachte. Sie zerrte mich durch den großen Saal und drehte mich im Kreis. Es gab kein Entkommen. Die Wirtin krallte sich an mir fest und schrie und sang und lachte wie irre. Ihr Gesicht hatte sich zur Fratze verändert und nun sah es aus, wie das gräßliche Gesicht an meinem Fenster.
„Geh weg du Satan, verschwinde!“ wollte ich rufen, doch kein Laut kam aus meinem Mund.
Unser Tanz wurde immer schneller, ich spürte den Boden nicht mehr. Unheimlich und grausam sah mein Gegenüber aus. Und sie brüllte und bedrohte mich. Mein Kopf wollte zerspringen, die Sinne schwanden mir und endlich konnte ich schreien. Es war wie eine Befreiung und ich schrie allen Schmerz und alle Angst aus mir heraus.
„Gott sei Dank, du bist endlich wach.“ Mühsam schlug ich die Augen auf. Ich starrte in Karins besorgtes Gesicht. Um mich herum weiße Wände und vergitterte Fenster. Auch um mein Bett ein Gitter. Bett? Wieso lag ich im Bett? „Karin, was ist los, wo bin ich hier?“ „Ach Baba, ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht. Man hat dich schreiend im Park gefunden und irgendwer hat dich in die Psychatrie eingewiesen. Du warst drei Tage verschwunden und erst von der Polizei habe ich erfahren, das du hier bist.“ Sie schwieg und sah mich an. Auch ich schwieg und versuchte mich zu erinnern. Ruine... Hexe... Wirtin... Tanzsaal...
Plötzlich wußte ich wieder alles. „Karin, ich war in der Geisterruine und die Wirtin war dort.“
Nachdem ich Karin alles erzählt hatte, nahm sie mich in die Arme und drückte mich ganz fest. Es tat mir so gut und ich war froh, so eine Freundin zu haben. „Bringst du mich von hier fort? Ich will nach Hause, mir fehlt nichts.“ „Sicher Baba, ich versuche gleich den Arzt zu erreichen. Ich komme dann nochmal zu dir rein.“ Damit war sie verschwunden und ich lag allein und hilflos in einem vergitterten Raum. Wieso hilflos, dachte ich und stand auf. Schnell zog ich meine Sachen an und ging zur Tür. Ich wollte öffnen, fasste den Knauf und prallte mit Karin zusammen. „He Mädchen, willst du abhauen? Meinst du, das ist gut für dich? Den Arzt konnte ich nicht finden, er hat schon Feierabend.“
„Komm, schnell weg hier Karin, ich bleibe doch nicht in der Klapse.“ Langsam und vorsichtig schlichen wir über den Flur. Eine Schwester war nicht zu sehen und so kamen wir unbehelligt raus. Draußen stand der Mond am Himmel und die Straßenlaternen brannten. Warme Frühlingsluft schlug uns entgegen. Zur Bushaltestelle war es nicht weit und bald saßen wir bei Karin auf der Couch.
Hier fühlte ich mich geborgen und wir plauderten von belanglosen Dingen. Nach einer Weile fragte ich: „Sag mal, was läuft eigentlich zwischen dir und Jan?“ „Da läuft garnix, wir sind gute Freunde nach wie vor.“ Ich schaute Karin an. „Komm, gib es schon zu, du bist in ihn verknallt.“ Wurde Karin jetzt etwa rot? „Verknallt? Ich weiß nicht Baba, aber verliebt könnte man sagen. Ich mag ihn so sehr und ich bin traurig, daß er nicht da ist. Er ist zu einem Kongress nach Paris gefahren.“
„Zu einem Kongress?“ fragte ich neugierig. „Was macht er denn beruflich?“ „Er ist Arzt, Kinderarzt, hier im städischen Krankenhaus. Er hat mir erzählt, das er eigentlich immer Maler werden wollte, er hat schon viele Bilder gemalt, aber sein Vater, der selbst Arzt ist, wollte das nicht. Naja, und deshalb brauch ich mir auch keine Hoffnung machen. Er Arzt und ich eine poplige Verkäuferin, ich passe nicht in seine Welt.“ Nun war es an mir meine Freundin in den Arm zu nehmen. „Warte ab, Karin, wenn er dich auch liebt, wird das kein Hindernis sein. Ich wünsche dir so sehr, daß du glücklich bist.“
Als ich später auf der Besuchercouch lag, dachte ich über die letzte Zeit nach. Wurde ich langsam verrückt? Ich mußte mich zusammen reißen, nocheinmal wollte ich nicht in der Psychatrie landen, denn so schnell kam man da nicht wieder heraus. Nachdem ich beschlossen hatte, morgen wieder in meine Wohnung zu gehen, brav weiter zu nähen und den Rest zu ignorieren, schlief ich endlich ein.
Am nächsten Tag klingelte es laufend an meiner Tür. Die Einen brachten etwas zum Nähen und die Anderen wollten ihre Sachen abholen, die natürlich noch nicht fertig waren. Ich mußte mich entschuldigen ohne Ende. Zum Glück hatten alle Verständnis - bis auf Frau Ypsilon-Meyer. Oh Gott, was hat die mich rund gemacht. Sie brachte ihre berühmte Samthose zurück. Ich hatte mich vertan und durfte nun den Stoff ersetzen und mich tausend Mal entschuldigen. Hoffentlich war ich sie nun los.
Ich nähte wie eine Wilde und hatte dabei das Radio auf voller Lautstärke, damit ich nicht zum Nachdenken kam. Es funktionierte. Na bitte, geht doch, dachte ich, als ich durch den Lärm die Klingel abermals vernahm. Vor der Tür, lässig die Jacke über der Schulter, ein blödes Grinsen im Gesicht, stand Jans Vater, Herr Gerald Bernauer. Bums war die Tür wieder zu. Ich stand mit klopfendem Herzen dahinter. Boh, der hatte mir noch gefehlt in meiner Sammlung. Ich riss die Tür wieder auf und fragte recht unfreundlich, was er denn noch wolle. „Ich muß dringend mit ihnen reden Frau Herz. Wenn es ihnen recht ist, treffen wir uns heute Abend gegen Sieben im Eckcafe. Wir haben einiges zu besprechen.“ Ich wartete, ob er noch etwas sagen würde, aber er hatte sich schon umgedreht und ging. Was für ein unhöflicher Mensch, dachte ich wütend, und mit ihm treffen wollte ich mich schon garnicht. Es gab nichts zu besprechen. Punkt!
Neunzehn Uhr saß ich im Cafe und nippte an meinem Wein. Ich war immer noch wütend, doch dieses Mal auf mich. Wie konnte ich nur so dumm sein und hierher kommen. Diese verdammte Neugierde! Schnell stand ich auf um zu gehen, doch da stand der feine Herr schon vor mir. Wieder im grauen Anzug und wieder die Jacke über der Schulter. „So ein arroganter Kerl“ dachte ich bei mir. „Spielt hier einen auf jung und locker, na der wird mich kennen lernen.“
„Einen Martini Bianco, mit zwei Oliven!“ Er drückte der Kellnerin seine Jacke in die Hand und setzte sich zu mir. Damit hatte er schon wieder einen Minuspunkt gesammelt. Er dachte bestimmt, er sei ein toller Hecht.
„Frau Herz, ich möchte gleich zur Sache kommen. Es geht um ihre Freundin. Sie ist zu oft mit meinem Sohn zusammen, es wird ihm langsam lästig. Im Krankenhaus reden sie schon, daß er sich mit einer Verkäuferin abgibt. Es schadet seinem Image. Sprechen sie mit ihrer Freundin. Sie soll ihn in Ruhe lassen, schließlich will er sich verloben.“ Damit stand er auf, legte einen Schein auf den Tisch und war verschwunden.
Was war das denn? Ich saß wie betäubt und mein Kopf war leer. „Möchten sie den Martini trinken?“ Vor mir stand die nette Kellnerin, das Glas in der Hand, und sah mich abwartend an. „Äh...nein Danke, ich muß auch gehen.“
So genau wußte ich nicht mehr, wie ich nach Hause gekommen bin. Ich stand wie verloren in meiner Küche und versuchte meine Gedanken zu ordnen. Wütend war ich nicht mehr, ich war eigentlich garnichts. „Na, der wird mich kennen lernen,“ hatte ich im Cafe voller Wut gedacht. Nichts, garnichts hatte ich gesagt. Wie auch, wenn er immer so schnell weg war. Das schien seine Masche zu sein. Etwas sagen, oder anordnen und dann nichts wie weg. Sehr bequem von ihm, da braucht er nicht diskutieren. Oder er ist es gewöhnt, daß man tut was er sagt. Wieso bin ich eigentlich dahin gegangen? „Selber schuld Baba,“ sagte ich laut. Aber das Schlimmste stand mir noch bevor. Ich mußte mit Karin reden. Aber nicht am Telefon.
Kurz danach saß ich auf ihren Treppenstufen und rauchte. Karin war noch nicht da, aber sie mußte gleich von der Spätschicht nach Hause kommen. Nach einiger Zeit fing es an zu regnen. Ich ging auf die andere Straßenseite, um mich an der Bushaltestelle unter zu stellen. Von hier aus beobachtete ich Karins Haus. Die Laterne spendete genügend Licht, so daß ich sehen konnte, daß an der Ecke ein Mann stand. Er ähnelte dem Vater von Jan. „Du siehst schon wieder Gespenster Mädchen!“ Der Mann war der Letzte, den ich heute sehen wollte. Ich schaute noch einmal hin. Ja, er war es und ich sprang auf, um ihm endlich mal meine Meinung zu sagen. Doch im gleichen Augenblick kamen Jan und Karin, Arm in Arm, und gingen hinein. Jetzt wurde es spannend. War er wirklich so dumm und ging hinterher? Ich wartete, daß Herr Bernauer nach Hause ging. Doch er stellte sich jetzt genau vor die Haustür. Der Regen schien ihm nichts auszumachen. „Wenn er sich jetzt umdreht, sieht er mich.“ Langsam rückte ich auf meiner Bank aus dem Lichtkegel in die äußerste Ecke. Ich war unschlüssig, was ich tun sollte. Hingehen, warten? Nach Hause konnte ich nicht. Wenn ich aufstand, würde er mich sehen. Ich hatte heute keine Lust mehr mit ihm zu reden. Also blieb ich erst mal sitzen. Mir war kalt und ich wollte in mein Bett. Eine Zigarette konnte ich mir auch nicht leisten, er würde das Feuer beim Anzünden sehen. Ich kam mir vor wie ein Spion.
Auf meiner Uhr war es schon elf und ich beschloß, in den nächsten Bus einzusteigen, der kam. Eine halbe Stunde verging, kein Bus in Sicht. Den Fahrplan konnte ich aus meiner Ecke nicht erkennen. Dann kam mir eine andere Idee. Wenn der Bus kam, würde ich so tun, als ob ich ausgestiegen bin und dann gesenkten Kopfes nach Hause gehen. Das tat ich dann auch und machte mich flugs auf den Heimweg. Es war schon Mitternacht und ich war todmüde.
Was sind das für Schritte hinter mir? Ängstlich drehte ich mich um und stand wie angewurzelt. Der überaus nette Herr Bernauer verfolgte mich. Plötzlich kam alle Wut wieder hoch.
Und wieder wachte ich im Krankenhaus auf. Doch dieses Mal saß nicht Karin an meinem Bett sondern ein Arzt im weißen Kittel stand vor mir. Es war Herr Dr. Bernauer. Der Schreck fuhr mir in alle Glieder. War er etwa Neurologe? Ich brauchte nicht länger nachdenken, denn er fing an zu sprechen: „Das sie hier sind Frau Herz, haben sie sich selbst zuzuschreiben. Denken sie nicht, sie kommen so bald nach Hause. Die Schwestern haben ihre Anweisungen.“ Sprachs, drehte sich um und die Tür schloß sich hinter ihm.
Was war passiert? Irgendwie war alles verschwommen. Aber dann erinnerte ich mich.
Ich hatte Herrn Bernauer kräftig die Meinung gesagt und ihn übel beschimpft. Er stand nur da, als ob es ihn nichts angeht und fing an, zu telefonieren. Hätte ich mal hingehört, mit wem und was er sprach, mir wäre der Rest erspart geblieben, denn ich hätte schnell das Weite gesucht. Aber ich mußte ihn ja weiter beschimpfen. Man, was war ich dumm. Ein Auto hielt und zwei Männer schleppten mich weg. Im Krankenwagen bekam ich eine Spritze und dann mußte ich eingeschlafen sein. Irgendwie bekam ich noch mit, daß jemand sagte: „Die haut so schnell nicht wieder ab.“
Abhauen, das war das Zauberwort. Torkelnd schleppte ich mich zur Tür. „Was haben die mir nur für Pillen gegeben, ich kann ja nicht mal geradeaus gehen.“ Die Tür hatte nur einen Knauf, keine Klinke. Ich kam nicht raus. Ahja, das Fenster, ich muß zum Fenster raus... Aber auch da Fehlanzeige. Die Fenster ließen sich nicht öffnen und waren außerdem vergittert und ich mußte wohl im dritten Stock sein. Meine letzte Hoffnung war Karin, sie würde mich suchen und befreien.
Und genauso kam es. Karin stand am nächsten Tag im Zimmer. Sie war ganz blass und hatte rote Augen. „Komm mit Baba, ich bring dich nach Hause.“
Zu Hause erfuhr ich dann die schreckliche Wahrheit. Jans Vater hatte mit Karin gesprochen. Sie sollte die Finger von Jan lassen, sonst würde ich ewig in der Klinik bleiben. Und das er die Macht dazu hatte, hatte sie verstanden. „Er hat mir gesagt, Jan will sich verloben“ schluchzte Karin. „Ich kann das einfach nicht glauben. Er hat mich doch gleich nach seiner Reise von der Arbeit abgeholt, und wir waren die ganze Nacht zusammen. Er liebt mich Baba. Seinem Vater habe ich erst mal alles versprochen was der wollte, sonst hätte ich dich nicht aus dem Krankenhaus gekriegt.“
„Glaubst du, daß ich verrückt bin Karin?“ „Nie im Leben meine Baba, wenn einer verrückt ist, dann Jans bescheuerter Vater.“ „Was willst du jetzt tun Karin?“ „Ich werde mit Jan reden, er kommt heute Abend zu mir. Wenn er zu mir steht und zu dem was er gesagt hat, brauch ich mir keine Sorgen machen. Aber um dich mach ich mir Sorgen. Nicht das du wieder in der Klinik landest.“
Karin hatte aufgehört mit erzählen. Jan saß geschockt da und sagte erst mal garnichts. Er hatte den Kopf auf seine Hände gestützt und stöhnte. Karin legte ihren Arm um seine Schulter und beugte sich zu ihm.
Wir saßen wieder mal zu dritt auf Karins Couch. Sie hatte darauf bestanden, daß ich bei dem Gespräch dabei bin. Nun warteten wir auf Jans Reaktion.
„Nein, wie kann er nur... aber so kenne ich ihn... nur was er will geschieht.“ Stockend suchte Jan nach Worten. Doch dann sah er Karin an und nahm ihre Hand. „Ich liebe dich Karin, ich liebe dich über alles, und was mein Vater auch sagt oder tut, er wird uns nicht auseinander bringen.“ Sie gaben sich einen langen Kuß und ich war sehr gerührt. Ein Glück, daß mit den Beiden alles in Ordnung war. „Jetzt verstehe ich auch, warum meine Kollegin, die neue Kinderärztin, neulich bei uns zu Besuch war. Mein Vater hatte sie eingeladen, weil er deren Vater von früher kannte. Ich hatte schon die leise Vermutung, daß er mich verkuppeln will. Womöglich hatte er sogar seine Finger im Spiel, damit sie bei uns arbeitet. Ich traue ihm alles zu.“ „Was machen wir nun mit Baba? Er kann sie doch jederzeit wieder einsperren, weil sie aus der „Geschlossenen“ abgehauen ist“ fragte Karin. „Ja, da weiß ich im Moment auch keinen Rat, du könntest bei mir wohnen Baba und ich ziehe zu Karin.“ „Nein, lass mal Jan, das wäre für mich keine Lösung, muß doch meine Brötchen zu Hause verdienen. Und immer weglaufen kann ich auch nicht.“
„Dann sagen wir eben Sira Bescheid, sie soll deinen Vater verhexen“ lachte Karin. „Du, wenn das der letzte Ausweg ist, dann nehmen wir den“ sagte Jan voller Ernst. Wir schauten uns an.
Sira, die Hexe und Karin, mein kleines Hexlein würden es tun, davon war ich überzeugt. Und auch Jan nickte bestätigend. Karin stand auf. „Ich mach uns jetzt erst mal einen Tee und ein paar Schnittchen. Und Morgen spreche ich mit Sira.“
Jan, Karin, Sira und ich saßen neben der alten Ruine. Es war fast Mitternacht und wir unterhielten uns nur flüsternd. Sira hatte ein Feuer angezündet und rückte noch einige Utensilien zurecht. Im Schein des Feuers zuckten seltsame Schatten über unsere Gesichter. Auf Wunsch von Sira knieten wir uns um den Steinkreis und fassten uns bei den Händen. In der Ferne hörten wir die Kirchturmglocken läuten. Sofort fing Sira an ihre Zaubersprüche zu murmeln. Verstehen konnte ich sie nicht, aber sie hatte uns vorher erklärt, daß sie Jans Vater mit einem Fluch belegen wollte, und auch das wir nicht reden sollten während der Zeremonie.
Ich hielt Siras Hand und spürte eine seltsame aber angenehme Kraft von ihr ausgehen. Angst hatte ich nicht, aber gespenstisch war es schon. Gern hätte ich gewußt, welches Übel sie für den feinen Herrn Doktor bereithielt. Aber ansich war das egal, hauptsache er ließ uns in Zukunft in Ruhe.
Siras Stimme wurde leiser und leiser. Dann nahm sie eine kleine runde Flasche und goß den Inhalt ins Feuer welches hochauf loderte. Die Flammen fielen in sich zusammen und wir standen auf. Es war vollbracht.
Noch immer hielt Sira meine Hand und sprach: „Erschreckt jetzt bitte nicht, gleich kommen die ruhelosen Seelen und treiben Schabernack mit uns. Wenn ihr ganz ruhig stehen bleibt, wird euch nichts geschehen. Ihr dürft auch gerne beten dabei.“ Sie hatte kaum ausgesprochen, da ging der Spuk los. Da waren sie wieder die gräßlichen Gestalten mit ihrem schleimigen durchscheinenden Körper. Blut tropfte aus ihren Mäulern aus denen ein schreckliches Geheul kam. Sie sausten auf uns zu und - durch uns durch. Ich mußte an meine Oma denken, die mir immer Gruselgeschichten erzählt hatte. Aber sie hatte mir auch das Beten beigebracht und gleich fing ich an, das Vaterunser zu beten. Nach einer Weile hörte der wilde Tanz auf und die Gespenster verschwanden. Wir lösten unsere Hände voneinander und knipsten die Taschenlampen an. Jan fand als erster die Sprache wieder. „Kommt Mädels, ab nach Hause, trödelt nicht.“ Er marschierte los und wir hinterher. Er stimmte ein altes Volkslied an und wir fielen ein. Wenn uns jemand gesehen hätte, der hätte gedacht, wir sind nicht ganz bei Trost. Im Gänsemarsch, laut singend nach Mitternacht durch den Wald marschieren, das war schon nicht normal. Aber was war noch normal in unserem Leben...
Meine Nähmaschine ratterte ihr monotones Lied. Mir fielen fast die Augen dabei zu. Ich hatte dringend eine Pause nötig. Doch die konnte ich mir nicht leisten. Heute kamen noch fünf Kunden und wollten ihre fertige Kleidung. Warum hatte ich bloß so viele Aufträge angenommen? Ich arbeitete bis spät in die Nacht und morgens ging es fleißig weiter. Endlich hatte ich mehr Geld zur Verfügung, doch das trieb auch meine Steuern in die Höhe. Egal, ich war froh, das der Laden lief. Aber komisch war es schon. Noch vor vier Wochen hatte sich nur meine Stammkundschaft blicken lassen. Und nun so viele Neue. Ob es etwas mit dem Fluch zu tun hatte? „Baba, nun spinn mal nicht rum“ sagte ich zu mir selbst. Der Fluch... ich war schon neugierig, wie es Jans Vater ging. War er krank geworden? Hatte er seine Arbeit verloren? Was hatte Sira ihm nur angehängt?
Da ich in letzter Zeit so viel zu tun hatte und auch die Wochenenden zum nähen nutzte, sah ich Karin nur selten. Aber sie hatte ja nun auch nicht mehr so viel Zeit für mich. Jan arbeitete in Schichten und Karin auch. Die wenige Freizeit gehörte ihnen allein.
Die Sonnenstrahlen fielen durchs Fenster und wärmten meine rechte Schulter. Es war Sommer. Einen sehnsüchtigen Blick warf ich kurz hinaus und beugte mich wieder über meine Arbeit. Doch die Gedanken konnte ich nicht abstellen. Wie schön wäre es jetzt, mit Karin und Jan die Stadt unsicher zu machen. Wir hätten sicher sehr viel Spaß. Und wo waren die gemütlichen Kneipenbesuche? Alles hatte sich geändert.
In der Abenddämmerung saß ich mit duschfeuchten Haaren, aber sichtlich erfrischt, in meinem kleinen alten Sessel. Meine Arbeit war getan und ich konnte alles pünktlich abliefern. Seltsamerweise hatte mir heute niemand etwas gebracht. Ich beschloss, nicht mehr so viel zu nähen. Wenigstens die Wochenenden wollte ich frei haben. Dann würde ich eben allein etwas unternehmen. Mein Blick fiel auf das eingeritzte Kreuz im Fensterrahmen. Stimmt, dachte ich, hier am Fenster hatte alles angefangen und mit Siras Beschwörung hatte es aufgehört. Hatte es wirklich aufgehört, oder ging der Spuk irgendwann weiter. Eigentlich schade, dachte ich, damals war das Leben noch spannend. Und jetzt saß ich nur noch stumpfsinnig an meiner Nähmaschine.
„Ach wäre doch alles wie damals“ seufzte ich laut.
Hätte ich mir das nur niemals gewünscht.
Der Sturm tobte ohne Unterlass, Regen peitschte an meine Fenster. Ab und zu erhellte kurz ein Blitz die Dunkelheit in der dann das ohrenbetäubende Donnern zu hören war. Der Strom war seit einer halben Stunde ausgefallen, nur eine kleine Kerze verbreitete ihren warmen Schein.
Ich war allein und ich fühlte mich einsam. Nichts konnte ich tun. Nur warten, daß das Unwetter vorüber zog. Kein Strom hieß: kein Radio, kein Fernsehen! Telefonieren sollte man ja auch nicht bei Gewitter und zu duschen traute ich mich nicht. In meinem kleinen Bad hallte der Donner doppelt so laut, das machte mir Angst. An Schlaf war auch nicht zu denken bei diesem Lärm. Meinen Sessel hatte ich in die Mitte des Zimmers gezogen und da saß ich nun, eingehüllt in eine Decke und verängstigt.
Seit einiger Zeit sagte eine innere Stimme ständig zu mir: Geh zu Karin, geh zu Karin! Die Stimme wurde immer lauter und eindringlicher. Bei diesem Wetter raus? Niemals!
Doch schon griff ich nach meiner Handtasche und dem Regenmantel. Wenn Karin meine Hilfe brauchte, mußte ich hin.
Schon nach den ersten Schritten hatte mir der Sturm die Kapuze vom Kopf gerissen. Meine langen nassen Haare verfingen sich in meinem Gesicht und verdeckten meine Augen. Immer wieder strich ich die nassen Strähnen zurück. Dabei lief mir der Regen in die Ärmel. Ich glaube nach fünf Minuten war an mir kein Faden mehr trocken. Etwa zwanzig Meter vor mir schlug ein Blitz in einen Mast ein. Wie erstarrt blieb ich stehen, meine Füße wollten nicht weiter. Der Mast stand in hellen Flammen und irgendwelche Oberleitungen brannten mit. Als ich die Sirene der Feuerwehr hörte, lief ich auf die andere Straßenseite und war dann auch bald an Karins Haus angelangt.
Keine Laterne erhellte die Straße, hinter keinem Fenster brannte Licht. - Und keine Klingel funktioniert, dachte ich. Aber wie sollte ich zu Karin kommen? Steinchen werfen bei dem Lärm? Rufen? Ich war ziehmlich ratlos. Dann klopfte ich ewig bei ihrer alten Nachbarin unten ans Fenster. Irgendwann kam sie dann rausgeschlurft mit einem alten Kerzenleuchter in der Hand. Beinah hätte ich laut gelacht, als ich sie sah. Es war schon ein wunderlicher Anblick, wie sie da mit ihrem langen weißen Nachthemd und den offenen grauen Haaren, die wüst um ihren Kopf hingen, an der Tür stand. Sie hielt den Leuchter mit zitternden Händen und das Wachs tropfte fleißig auf den Fußboden. „Wasch isch denn losch, Frau Hersch.“ Nun konnte ich nicht mehr an mich halten und lachte lauthals. Nun hatte ich Frau Simon beleidigt. Sie ließ mich zwar ein, aber nuschelte hoheitsvoll: „Ohne Schähne schprischt man so, schie kommen da auch noch hin Frau Hersch.“
Atemlos kam ich in der dritten Etage an und hämmerte gegen Karins Tür. Nichts regte sich dahinter. Ich drückte den Klingelknopf sinnloser Weise immer wieder. Dann rief ich laut Karins Namen. „Karin, Karin, mach auf!“ Nochmals schlug ich mit den Fäusten gegen die Tür. Vielleicht ist sie garnicht zu Hause, schoß es mir plötzlich durch den Kopf. Was ist, wenn sie bei Jan ist? Zum ersten Mal bereute ich, daß ich kein Handy hatte. Was mache ich nur? Soll ich jetzt mitten in der Nacht bei Jan klingeln? Und wie komme ich dahin? Karin hatte zwar mal erwähnt, daß er Bergstraße 23 wohnt, aber in diese Gegend kam ich selten. Sollte ich wieder nach Hause gehen? Nein, schubste ich mich selbst an, was du angefangen hast, mußt du zu Ende führen!
Draußen regnete es noch immer, aber der Sturm und das Gewitter hatten sich verzogen. Ich ging rüber zur Bushaltestelle und studierte den Fahrplan. Endlich mal Glück! In drei Minuten kam ein Bus.
„Wo muß ich aussteigen, ich möchte zur Bergstraße? fragte ich den jungen Busfahrer. „Das ist die Endstation, ich steige da auch aus und mache Pause. Sie müssen die erste Straße rechts rein und dann gleich links, das ist sie dann.“ Der Fahrer wartete geduldig, bis ich mein Geld zusammen gekramt hatte und fuhr dann los. Ich war der einzige Fahrgast. Aus dem Radio dröhnte laute Musik. Im Bus war es warm und gemütlich und durch das Schunkeln wäre ich fast eingeschlafen.
Als der Bus hielt, fiel mir wieder ein, warum ich mitgefahren war. Der freundliche Fahrer rief mir noch hinterher: „In einer Stunde fahre ich wieder los, wenn sie`s bis dahin schaffen, nehme ich sie wieder mit.“ "Ja, ich komme ganz gewiss."
Die Bergstraße lag in einem alten Villenviertel. Hier wohnte die Sahne der Gesellschaft, die konnten sich das leisten. Vielleicht wohnt Karin auch bald hier? Na, da macht sein alter Herr aber einen Kofstand. Ich verdrängte die Gedanken und suchte nach der Nummer 23. Uralte schöne Häuser und uralte große Bäume, nur keine Nr. 23. Ich beschloß alle Namensschilder zu lesen. Die Straßenlaternen spendeten inzwischen wieder Licht. Dr. Bernauer, stand auf einem verschnörkelten Schild und klein daneben eine 23. Ich hatte es gefunden! Aber wieder war ich im Zweifel. Sollte ich nun klingeln oder nicht. Jan und Karin würden mich bestimmt auslachen. Mutig drückte ich die Klingel. Nach einer Weile ging innen das Licht an und die Tür öffnete sich. Im Bademantel und Hausschuhen stand vor mir - Jans Vater.
Mir verschlug es beinahe die Sprache und stotternd brachte ich heraus: „Ich wollte eigentlich zu Jan.“ „Ach schau an, die schöne Näherin aus der „Geschlossenen“ hat wohl Langeweile? Kein Grund mich zu stören, Jan ist nicht hier.“ Wider Erwarten drehte er sich nicht um und schloß die Tür. „Was wollen sie eigentlich? Jan wohnt nicht hier, er hat seine eigene Wohnung.“
Bums! Da lag ich aber falsch. So eine Blamage, ich hatte mal wieder nicht richtig zugehört und die Adresse Jan zugeordnet. Eigentlich war das lustig und ich fing an zu lachen. „Warum lachen sie?“ fragte Jans Vater unwirsch. Er hatte mir schon den Rücken zugedreht und drehte sich nun nochmals zu mir um. „Weil sie sich ihren Bademantel nicht lässig über die Schulter geworfen haben!“ Lachend ging ich den Weg zum Gartentor. Ich war zufrieden mit mir. Plötzlich ein Ruck an meinen Rücken und ein eiserner Griff um meinen Hals. „Über mich macht man sich nicht lustig“, hörte ich seine Stimme an meinem Ohr. „Du kleines Biest bringst alles durcheinander. Mein ganzes Leben machst du mir kaputt.“ Ich wagte mich nicht zu rühren. Wenn er mich doch nur los ließe. Seine Hand grabschte nach meiner Brust und die andere Hand drückte meinen Mund zu. Voller Wut versuchte ich mich zu befreien und schlug um mich. Vergebens, der alte Mann war stärker. Er zerrte mich zurück ins Haus und stieß mich auf die Treppe. Bevor ich mich erheben konnte hatte er die Tür abgeschlossen. Mein Blick irrte umher, wohin konnte ich fliehen? Plötzlich lag er auf mir und keuchte: „Ich kriege dich noch, warts nur ab, ich kriege dich so oft ich will. Du wirst schon noch zahm werden mein Täubchen.“ Er legte seine Hände auf meine Brüste und küßte mich wild und leidenschaftlich. Schreiend und tobend versuchte ich mich zu befreien. Es war sicher nur ein Traum wie immer. Doch da wurde ich gepackt und in einen dunklen Raum geworfen. Hier tobte ich weiter. Ich merkte nicht, daß ich mich an den Möbelstücken übel verletzte. Mit einem Stuhl schlug ich gegen die Tür. Immer und immer wieder, bis mich die Kräfte verließen.
„Stehen sie auf Frau Herz!“ Jans ekelhafter Vater stand vor mir und sah mich ernst an. „Ich mußte ihnen eine Beruhigungsspritze geben, sie haben meine Möbel zerschlagen und geschrien und getobt. Eigentlich hätte ich sie einweißen müssen. Aber eine letzte Chance gebe ich ihnen noch. Nur weil Jan nicht hier ist, müssen sie nicht so ein Theater machen. Gehen sie nach Hause bevor ich es mir anderst überlege.“ Er warf mir meinen Regenmantel und die Handtasche vor die Füße und verließ das Zimmer. Ich nahm meine Sachen und folgte ihm. Er stand an der Haustür und hielt sie weit auf. Am liebsten hätte ich ihm ins Gesicht geschlagen, doch ich hatte Angst, daß er mich dann wieder ins Haus zerrte. So torkelte ich also die Sraße zurück zur Bushaltestelle. Meine Seele und mein Körper waren beschmutzt und ich weinte. Meine Tränen sah niemand, der Regen wischte sie weg.
An der Haltestelle stand ein Bus mit geöffneten Türen und laufendem Motor. „Ich sah sie kommen und habe gewartet, jetzt muß ich aber los.“ Ich nickte dem Fahrer kurz zu und ließ mich auf einen Sitz fallen. Plötzlich saß der Fahrer neben mir. „Brauchen sie Hilfe, sie bluten, soll ich einen Arzt rufen?“ Jetzt sah ich mir den Fahrer genauer an, es war der nette junge Mann von vorhin. „Nein, lassen sie nur.“ Ich drehte den Kopf weg und meine Tränen flossen weiter. „Nach der Tour hab ich Feierabend, wenn sie wollen, gehe ich mit ihnen ins Krankenhaus.“ Um ihn los zu werden nickte ich. Ich mußte eingeschlafen sein. Eine fremde Hand lag auf meinem Arm und rüttelte mich sanft. Dann nahm mich jemand in den Arm und streichelte mein Haar. Jetzt erst merkte ich, daß ich schrie. „Alles wird gut, ich helfe ihnen. Bitte nicht weinen.“ Dieser Satz öffnete alle Pforten bei mir und ich weinte hemmungslos an der starken Schulter des Busfahrers. Nachdem ich mich etwas beruhigt hatte, war mir die ganze Sache sehr peinlich. Ich entschuldigte mich bei meinem Gegenüber. „Sie müssen sich nicht entschuldigen, kann ich sie nach Hause bringen oder zu einem Arzt?“ Ich sah mich um, der Bus war leer. Ziehmlich verlegen schaute mich der Fahrer an. „Ich habe jetzt Feierabend, kann ich etwas für sie tun?“ „Ich möchte nach Hause. Übrigens, ich heiße Barbara.“ „Und ich bin Bastian, aber alle sagen nur Basti.“ Ich reichte ihm die Hand. „Das gefällt mir Basti, laß uns Du sagen. Mich nennen die meißten Baba.“ Damit war erst mal alles gesagt. Basti sprach noch mit seinem Kollegen, der ihn ablöste. Dann traten wir gemeinsam den Heimweg an. Ich hatte mich soweit beruhigt, daß ich unterwegs erzählen konnte, was mir passiert war. Bastian war entsetzt. „Du mußt unbedingt zum Frauenarzt. Was, wenn er dich vergewaltigt hat? So ein Schwein! Von meinem Bruder die Frau ist Frauenärztin, ich rufe mal an, vielleicht dürfen wir gleich kommen.“ Wir durften. Es war alles in Ordnung. Er hatte mich nicht angerührt. Und meine Wunden hatte sie auch gleich versorgt.
Zu Hause rief ich erst mal bei Karin an und erfuhr, daß sie im dunkeln bei der Stromsperre gestürzt war und das Bewußtsein verloren hatte. Als sie später aufwachte, hatte sie Jan angerufen und sie waren beim Arzt. Dieser konnte aber nichts, als eine Beule am Kopf feststellen. Ich erzählte Karin nichts von meinem Erlebnis, nur fragte ich, wann sie Dienst hat und ob ich morgen zu ihr kommen kann. In der Zwischenzeit hatte mir Basti einen Tee gebrüht. Kurz darauf fielen mir die Augen zu und ich schlief elf lange Stunden. Bastian war weg, aber auf dem Tisch lag ein Zettel mit netten Grüßen und seine Telefonnummer.
Karin lief aufgeregt in ihrem Wohnzimmer auf und ab. Sie war wütend. So wütend hatte ich sie noch nie gesehen und sie gebrauchte die übelsten Schimpfwörter. „Du mußt das Schwein anzeigen, lass dir das nicht gefallen! Das ist Freiheitsberaubung und Nötigung, und sexueller Übergriff und was weiß ich noch alles.“ Ruckartig blieb sie stehen, strich wie abwesend über ihr Haar, kam zu mir auf die Couch und legte ihre Wange an meine. „Zeig ihn an, Jan und ich werden zu Dir stehen“, sagte sie nun mit sanfter Stimme. So saßen wir da und hingen unseren Gedanken nach als die Klingel schrillte. Es war Jan und Karin erzählte ihm schon im Flur, was passiert war. Nun saßen wir wieder mal zu Dritt auf Karins Couch. Jan war empört und er machte aus seinem Herzen keine Mördergrube. „Zeig ihn an, Baba, auch wenn es mein Vater ist.“ „Ich weiß nicht, Jan“, sagte ich, es ist immerhin Dein Vater. Willst Du nicht erst mal mit ihm reden? Anzeigen kann ich ihn immer noch, wenn er kein Einsehen hat.“ „Du hast ein großes Herz, Baba, ich werde gleich mit ihm reden. Vielen Dank.“ Er drückte mich flüchtig und verabschiedete sich von Karin. Sie begleitete ihn noch zur Tür und ging dann in die Küche. „Kommst Du Baba, ich hab noch einen Schluck Wein, der wird uns jetzt gut tun.“ Folgsam trottete ich hinterher und setzte mich in ihre gemütliche Essecke. Das Fenster war weit geöffnet und ein warmer Wind wehte herein. „Wir machen uns jetzt einen schönen Abend. Wenn Du willst, lege ich Dir die Karten.“ Aufeinmal mußte ich an Sira denken. Hatte die Hexe ihn nicht verflucht? War das alles nur Hokuspokus gewesen? So richtig hatte ich eh nicht daran geglaubt, wie sollte sowas auch funktionieren? „Sag mal Karin, hast Du Sira mal wieder gesehen? Ihr Fluch scheint nicht angekommen zu sein.“ Karin legte den Korkenzieher auf den Tisch und sah mich an. Erst jetzt bemerkte ich die Beule auf ihrer Stirn. „Du hast Recht, ich werde mal mit Sira reden, aber ob das was bringt?“ Sie sah mich zweifelnd an und schenkte den Wein ein. „Jan will sich nachher bei mir melden, sobald er mit seinem Vater gesprochen hat, ich warte erst mal, was er zu sagen hat.“ Wir stießen auf gute Freundschaft an und bald tat der Wein seine Wirkung. Die Sorgen waren vorerst verflogen.
Ich stand unter der Dusche. Das heiße Wasser prasselte angenehm auf meinen Körper und ich wollte den Hahn garnicht wieder zudrehen. Doch die Türklingel riss mich aus meiner Versenkung. Ich schlüpfte in meinen weichen Bademantel und ging vorsichtig aus dem Bad. Mein erster Gedanke war: Jans Vater. Dem würde ich auf keinen Fall öffnen, nicht mal, wenn ich angezogen wäre. Meine Uhr zeigte Sieben. „Wer ist da“, rief ich laut. „Bitte, Frau Herz, lassen Sie mich rein, es ist ein Notfall,“ Na, die Stimme kannte ich doch. Was will die Meyer hier so früh, hat sie wieder was zu meckern? Ich schlang mir das Handtuch um den Kopf und öffnete. Ehe ich etwas sagen konnte, war die gute Frau Meyer schon an mir vorbei und stiefelte in die Küche. „Frau Herz, Sie müssen mir unbedingt helfen, mein Enkelsohn heiratet und ich habe gestern Abend mein Brokatkleid anprobiert, es passt nicht mehr.“ Sie sah mich hilfesuchend an. „Die Hochzeit ist doch schon morgen.“ Jetzt konnte ich ihr endlich mal eins auswischen, der dummen Kuh. „Tut mir leid, Frau Meyer, ich bin total ausgebucht, da kann ich Ihnen wirklich nicht helfen.“ Sah ich da etwa Tränen? Ja! Dicke Tränen perlten über ihre geschminkten verrunzelten Wangen und tropften auf meinen Tisch. Jetzt tat sie mir leid und ich bereute, dass ich so schlecht über sie gedacht hatte. „Frau Meyer“, sagte ich mitfühlend, „ich habe doch so viele Aufträge, hätten Sie doch früher etwas gesagt.“ „Können Sie nicht mal eine Ausnahme machen, ich hab doch nichts anzuziehen, ich bin so dick geworden“, schluchzte sie. „Sie brauchen doch nur die Taille weiter machen, den Stoff können Sie aus dem Saum nehmen.“ Flehend und händeringend sah sie mich an. Ich rechnete kurz nach: Saum auftrennen, abschneiden, Saum schließen, reichlich eine Stunde. Seitenteile auftrennen, Abnäher zuschneiden, einnähen, umsäumen, noch eine reichliche Stunde. Dann bügeln.Wie sollte ich das schaffen? Drei Stunden zusätzlich, hieß, bis nach Mitternacht arbeiten. Ach, was solls! Schließlich hatte ich schon öfter bis spät in die Nacht genäht.
Pünktlich 15 Uhr klingelte es und meine liebe Frau Meyer, aufgetakelt wie immer, stand an der Tür und verlangte ihre fertigen Gardinen. Mit einem süß - saurem Lächeln drückte sie mir das Geld in die Hand und ging ohne sich zu bedanken davon. Die war ich erst mal los. Aber da ich dringend auf die paar Mark angewiesen war, durfte ich nicht unfreundlich sein.
Jetzt einen Kaffee trinken, das wäre nicht schlecht. Kaffe mit viel Milch und Honig, dafür würde ich sterben.
Doch schon wieder klingelte es. Ein gutgekleideter Mann um die Fünfzig, grauer Anzug, frisch geputzte Schuhe, stand lässig angelehnt, den Mantel über der Schulter vor mir. Er lächelte mich freundlich an und fragte, ob ich ihm wohl seinen Mantel reparieren würde, die Innentasche sei zerrissen. Ich bat ihn in die Küche, bot ihm einen Kaffee an und sagte ihm, daß er morgen wiederkommen könnte.
Sofort machte ich mich an die Arbeit und der Schaden war bald behoben. Doch ausruhen konnte ich mich noch nicht. Schnell ging ich das Nötigste einkaufen, machte dann meinen Haushalt, und endlich konnte ich meinen Kaffee genießen.
Ich setzte mich an mein kleines Bodenfenster und schaute in den aufkommenden Abendhimmel. Langsam wurde es Frühling und der Schnee von letzter Woche war restlos getaut. Ich freute mich schon auf die warmen Tage. Mit meiner Freundin würde ich dann wieder endlose Spaziergänge durch die kleine Stadt und das Wäldchen unternehmen. Es gab ja so viel zu sehen und wir entdeckten immer etwas Neues. Manchmal nahmen wir uns Marschverpflegung mit, aber manchmal, wenn es der Geldbeutel zuließ, kehrten wir ein. Es gab einige gemütliche Gaststätten mit gutem preiswerten Essen. Man kannte uns schon und begrüßte uns immer freundlich. Besonders meine Freundin Karin war begehrt. Und das hatte seinen Grund. Überall wo sie hinging, schleppte sie ihre Tarotkarten mit. Die Leute waren ganz wild darauf, sich die Zukunft voraussagen zu lassen. Dafür bekamen wir oftmals eine warme Mahlzeit umsonst, was natürlich nicht schlecht war.
Ich selbst hatte mir die Karten noch nie legen lassen, sie machten mir Angst. Es kam ja doch alles, wie es kommen mußte, wozu sollte ich das vorher erfahren? Nein, ich wollte einfach nichts davon wissen.
Meine Tasse war leer und ich erhob mich aus dem gemütlichen alten Sessel. Draußen war es bereits dunkel und ein paar Sterne glitzerten in der Nacht. Plötzlich fegte ein dunkler Schatten am Fenster vorbei. Erschrocken wich ich zurück, doch dann mußte ich lachen. Es war sicher ein Vogel, der sich verspätet hatte und nun schnell in sein Nest wollte. Aber dann müßte es ein riesiger Vogel gewesen sein, überlegte ich weiter. Ich öffnete das Fenster. Laue Frühlingsluft schlug mir entgegen. Da draußen war nichts. Und wenn es wirklich ein Vogel war, dann war er längst weg. Eine Weile blieb ich noch stehen und schaute in die Nacht. Vom Weiten hörte ich den Lärm der Straße, irgendwie beruhigte mich das. Es gab mir das Gefühl, nicht allein zu sein. Und dann merkte ich, das ich immer noch Angst vor dem Schatten hatte.
Das Beste war jetzt Karin anzurufen, sie würde mich mit ihrem Geplauder ablenken.
Doch das Gegenteil geschah. Karin wurde ganz still als ich ihr meine kurze Begebenheit erzählte. „Was ist los Karin, warum sagst du nichts?“ Karin stotterte erst etwas herum und dann rückte sie mit der Sprache heraus.
„Du wirst es nicht glauben Baba, aber ich habe eben für dich die Karten gelegt. Ich weiß, daß du das nicht willst, aber irgend etwas trieb mich dazu. Eine innere Stimme sagte es mir und du weißt ja, daß ich darauf sehr viel gebe. Bitte sei mir nicht böse, ich wollte dich nämlich gerade anrufen um dich zu warnen.“ „Wieso warnen, was ist los? Nein, sag nichts, wenn du deine Weisheit aus den Karten hast, ich will es nicht wissen. Du weißt genau was ich davon halte. Und wenn deine Karten wirklich recht haben und etwas Schlimmes auf mich zukommt, will ich es erst recht nicht wissen. Du machst mir Angst.“ „Bitte laß es mich dir sagen, es ist wirklich wichtig, du bist in Gefahr!“ „Lieber nicht, dann kann ich nicht schlafen, aber wenn du willst, können wir ja am Sonntag spazieren gehen. Vielleicht will ich es dann wissen.“ Karin antwortete besorgt: „Dann schließe Tag und Nacht die Türen und Fenster und laß niemanden herein.“ „Wie stellst du dir das vor Karin, du weißt doch, daß ich meine Kundschaft herein lassen muß, sonst kann ich die Näherei aufgeben.“ „OK, sei einfach wachsam, schlaf gut, bis morgen.“ Damit legte sie auf.
Am nächsten Tag erschien der ältere Herr um seinen Mantel abzuholen. Er hatte wieder eine Kleinigkeit zur Reparatur mitgebracht. Bevor er ging, drückte er mir fünf Mark in die Hand und ließ sie nicht los. Ganz nah kam er an mich heran und sagte: „Ich habe eine gute Bekannte, die ist Nachrichtensprecherin beim Fernsehen,“ und er nannte einen ganz bekannten Namen. „Sie hat deine Figur und ich könnte dir ihre abgelegten Kleider geben.“ Verlegen zog ich meine Hand zurück. Wie sollte ich mich jetzt verhalten, was bildete der sich ein und wieso duzte er mich? Ehe ich reagieren konnte, hatte er mich gepackt und drückte seine wiederlichen Lippen auf meinen Mund. Da ich mich wehrte, ließ er von mir ab. Ich gab ihm seine Jacke, welche ich eigentlich reparieren sollte und schob ihn zur Tür hinaus.
Puh, was war das für eine Nummer? Meine Hände zitterten vor Aufregung. So ein Mistkerl, der bildet sich ein jede zu kriegen mit seiner schrägen Art. Es dauerte eine Weile bis ich mich wieder beruhigt hatte. Dann konnte ich mich endlich wieder meiner Arbeit widmen. An Karin mußte ich auch denken. Da hatte sie sich solche Sorgen um mich gemacht, aber damit wurde ich allein fertig. Wenns weiter nichts ist, als einen zudringlichen Kerl abzuwehren, na da brauch ich keine Voraussage der Tarotkarten.
Abends saß ich wieder auf meinem Lieblingsplatz am Fenster und schaute auf die fernen Berge. Gerade als ich aufstehen wollte, um ins Bett zu gehen, flog wieder ein Schatten vorbei. Ich glaubte so etwas wie ein Gesicht zu erkennen, mit glühenden Augen und furchterregend. Bis an die Wand wich ich zurück und versuchte meine Gedanken zu ordnen. Dann ließ ich schnell die Rollos in meiner kleinen Wohnung herunter und sprang ins Bett. Bis an die Ohren deckte ich mich zu und es dauerte lange bis ich einschlief.
Am nächsten Morgen versuchte ich das Erlebnis zu verdrängen. Ich redete mir ein, daß ich schon Gespenster sehe. Vielleicht brauchte ich Ablenkung. Immer nur Haushalt und nähen, da grübelt man zu viel.
Zum Glück war ich heute abgelenkt. Frau Meyer, die ich sonst garnicht gern sah, wollte eine Hose genäht haben. Dafür brachte sie grünen Samt mit. Grüner Samt - und das bei ihrem dicken Hintern... Nachdem ich Maß genommen hatte, erzählte sie mir endlose Geschichten von ihrer dummen Verwandtschaft. Wenn ich ab und zu nickte, erzählte sie fleißig weiter. Heute störte es mich mal nicht, auch nicht ihre grell-roten Lippen und ihr verschmierter Lidschatten.
Als sie weg war, fing ich an die Hose zuzuschneiden. Dabei merkte ich nicht, daß mir ein grober Fehler unterlief. Den mußte ich dann später ausbaden.
Obwohl ich es nicht wollte, schweiften meine Gedanken oftmals zu dem großen schrecklichen Gesicht. Hatte ich das nun wirklich gesehen? Ich mußte unbedingt noch einmal mit Karin darüber reden. Und sogleich stieg Freude in mir auf, denn morgen war Sonntag.
Als es langsam anfing zu dämmern, hatte ich schon längst meine Rollos hinunter gezogen. Nocheinmal wollte ich mir diesen Anblick nicht antun. Ich setzte mich vor den Fernseher, in eine warme Decke eingehüllt, und der Abend war gerettet.
Nach einer ausgiebigen Dusche begab ich mich gegen elf Uhr zu Bett. So einfach ist das also, dachte ich gerade, als ich ein gruseliges Geräusch vernahm.Es klang wie Stimmen aus dem Jenseits, anders kann ich es nicht beschreiben. Obwohl, ich hatte noch nie Stimmen aus dem Jenseits gehört, wie kam ich nur darauf? Mein Herz schlug schneller und ich wagte nicht die Hand auszustrecken, um die Nachttischlampe anzuknipsen. Dieses schreckliche Etwas könnte vielleicht hier im Zimmer sein. So verkroch ich mich abermals zum Schutz unter meiner Bettdecke.
Der Sonntag war wie für mich geschaffen. Ein strahlend blauer Himmel und Sonnenschein empfing mich, als ich die Rollos hochzog, natürlich mit einem mulmigen Gefühl. Mein Frühstück nahm ich Sonntags immer an meinem kleinen Bodenfenster ein. Hier war es am gemütlichsten. Heute jedoch setzte ich mich an den Küchentisch. Nur nicht an gestern denken. Karin würde mir helfen, davon war ich überzeugt. Als ich mein Brötchen aufgegessen hatte griff ich zur Zigarettenschachtel und danach zum Telefonhörer. Ich wollte Karin bitten, mich abzuholen. Sie sollte sich hier mal umsehen. Karin war einverstanden und wollte schon in einer halben Stunde da sein. Nun mußte ich mich beeilen. Noch ein kurzer Blick in meinen „Schlank-mach-Spiegel“ und die Haare kämmen. Da klingelte es schon.
Nachdem wir uns umarmt hatten sprudelte Karin gleich los. Sie stand mir in nichts nach, wenn es ums Erzählen ging. „Umsonst soll ich mich hier sicher nicht umsehen, irgendwas ist doch geschehen? Du siehst auch recht blass aus Baba.“ Nachdem ich ihr alles berichtet hatte, schaute sie mich traurig an. „Das tut mir leid mein Schatz, aber wir werden schon eine Lösung finden.“ Sie stellte sich an das Fenster und sah hinaus. „Hör zu Barbara, ich muß dir unbedingt sagen, was ich in den Karten gelesen habe.“ Wenn sie mich Barbara nannte, war es sicher wichtig. Inzwischen war ich selbst neugierig geworden. Ich hatte den Verdacht, daß es mit meinen seltsamen Erlebnissen zusammenhing.
„Ich habe gesehen, daß dich etwas bedroht, etwas Böses. Der Tod und ein Dämon stehen in deiner Nähe und ein Mann. Bei dem Mann bin ich mir nicht ganz sicher, was er für eine Rolle spielt.
Ich bekam einen Panikanfall und meine Beine versagten mir den Dienst. Ich glaubte Karin jedes Wort. „Wie können deine Karten das wissen?“ Karin sah noch immer zum Fenster hinaus als sie langsam antwortete. „Alles haben mir die Karten nicht gesagt, erst hier in deinem Zimmer an diesem Fenster habe ich es erfahren. Hier sieh nur, in das Holz ist ein umgedrehtes Kreuz eingeritzt. Von dir kann es wohl nicht sein, es sieht schon sehr alt aus.“ Endlich drehte sie sich zu mir und sah mir in die Augen. „Baba, es tut mir weh dir diese Voraussage zu machen, aber besser du erfährst es jetzt. Vielleicht, aber nur vielleicht, können wir das Schlimmste abwenden. Dazu brauche ich deine Hilfe.“
„Du brauchst meine Hilfe? Ich brauche deine Hilfe, ohne dich geht garnichts. Bitte nimm deine Voraussage zurück und erzähl mir, daß alles nur ein Scherz war.“ Ich wußte genau, daß Karin nicht scherzte , aber ich wollte das alles nicht wahr haben. „Erzähl mir über Geister und Dämonen, ich wüßte gern, was mir bevorsteht.“
Aus unserem Spaziergang ist an diesem Tage nichts mehr geworden. Wir saßen noch als es dunkel wurde. „Karin?“ „Ja Baba, ich weiß was du mich fragen willst. Die Antwort lautet: Ja! Ja, ich bleibe heut Nacht bei dir.“
Es war Montag Morgen und ich saß mit Karin in der Küche. Unser Gespräch drehte sich natürlich wieder um Geister.
Karin hatte gestern Abend noch einen ihrer Zaubersprüche am Fenster gemurmelt und eine schwarze Kerze hingestellt, welche die ganze Nacht brannte. Und es half! Kein Geist, kein Dämon und keine seltsamen Geräusche. Ich hatte geschlafen wie ein Bär.
Karin hatte zum Glück Spätdienst. Sie arbeitete als Verkäuferin in einem Supermarkt in Schichten.
Nach dem Frühstück zündeten wir uns eine Zigarette an. Es war unser gemeinsames Laster, welches wir nicht in den Griff bekamen. Unzählige Male hatten wir schon versucht aufzuhören. Seit langem war davon keine Rede mehr. Außerdem hatte ich im Moment andere Sorgen. Aber so schlimm waren sie garnicht mehr. Karin hatte sicher noch andere Zaubersprüche und alles würde gut werden.
Als es an der Tür klingelte, wurde ich aus meinen Gedanken gerissen. „O Gott Karin, ich bin noch nicht angezogen, das ist sicher Kundschaft.“ „Wieso, du siehst doch gut aus, geh ruhig im Bademantel zur Tür, was soll schon passieren.“ Also öffnete ich einen Spalt breit und lugte vorsichtig hinaus. Ein junger Mann wünschte mir einen `Guten Morgen`, überreichte mir einen Strauß weißen Flieder und einen Briefumschlag.
„Wer war das, was hast du da?“ Karin schaute mich neugierig an. Ich ließ mich auf den Stuhl fallen und antwortete: „Stell dir vor, `Superman`hat das gebracht. Er sieht toll aus, aber wir wollen erst mal nachsehen was in dem Brief steht.
Sehr gehrte Frau Herz!
Bitte entschuldigen Sie, den für mich, sehr peinlichen Vorfall. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.
Ich bitte hiermit in aller Form um Entschuldigung und hoffe sehr, Sie nehmen es an.
Ich stehe in Ihrer Schuld. Sollten sie jemals in Not sein, bitte wenden Sie sich an mich. Mein Sohn und ich werden tun, was möglich ist.
Mit freundlichen Grüßen!
Gerald Bernauer
„Na toll, erst knutscht er mich ab und dann entschuldigt er sich, der spinnt doch!“ Karin war da anderer Meinung. „Lies doch noch mal durch, ich glaube, er meint es ehrlich und helfen will er dir auch. Sicher hat er sich gründlich daneben benommen, aber wenn er ehrlich bereut, solltest du ihm verzeihen.“ `Der kann mich mal`, wollte ich gerade sagen, als mein Blick auf die Blumen fiel. Weißer Flieder, wie schön er aussah und wie er duftete... Damit hatte er mich gekriegt, denn Flieder war meine Lieblingsblume und noch dazu Weißer.
„OK, verziehen, aber jetzt erst mal ab ins Bad, sonst wird es heute nichts mehr mit nähen. Du bleibst doch noch zum Essen?“
Karin blieb. Das Gespräch führte hauptsächlich ich. Ich kam garnicht wieder heraus aus dem Schwärmen für den Blumenboten. Karin unterbrach mich. „Und wenn das nun der Sohn war von deinem `Knutschfreund`? „Boh Karin, wenn das der Sohn war, kann der mich auch mal..., ist doch eine Sippe.“ Karin widersprach zwar, doch für mich war hier das Thema erledigt.
Der Tag verlief ruhig und ich konnte meine Arbeiten erledigen. Überhaupt verlief der Rest der Woche ohne Zwischenfälle und das hatte ich wohl Karin zu verdanken. Insgeheim nannte ich sie meine kleine Hexe.
Am Sonntag saßen wir dann endlich wieder in unserer Lieblingskneipe. Das Essen war vorbei und wir hatten jeder einen Glimmstengel in der Hand. Irgendwie, aus keinem besonderem Grund, mieden wir das Thema Geister. Karin erzählte von ihrer Arbeit und dem Ärger mit einem Kunden. Ich steuerte meinen Senf dazu, mit Frau Meyer. Wir zogen über sie her was das Zeug hielt.
„Ist hier noch frei?“ Wir unterbrachen unser Geplapper und sahen einen jungen Mann. Karin bot ihm einen Platz an, bevor ich etwas sagen konnte. Ich war mit einem Schlag puterrot im Gesicht. Der junge Mann war mein `Supermann`.
Er bestellte sich einen Kaffee und griff dann auch zur Zigarette. Ich hatte mich inzwischen beruhigt, aber Karin sah mich fragend an. Superman entkrampfte die Situation, indem er sagte: „Entschuldigung, daß ich mich hier dazwischen dränge. Ich sah sie von draußen, und da dachte ich, es wäre doch gut mit ihnen zu reden.“ Karins Stirn legte sich in dicke Falten. Sie begriff garnichts mehr. Doch er redete schon weiter. „Darf ich mich vorstellen, mein Name ist Jan Bernauer.“
„Ach, der Supermanblumenbote, der vom Papa vorgeschickt wurde“, antwortete Karin schnell. Biss sich jedoch sofort auf die Zunge. Aber gesagt war gesagt. Wir sahen uns verlegen an und nippten an unseren Tassen.
„Entschuldigen sie bitte, ich bin neu hier. Meine Kollegin sagte mir, daß sie Karten legen.“ Vor uns stand eine kleine dicke Kellnerin mit freundlichen Augen und roten Wangen. Karin griff sogleich nach ihren Karten und bat sie an den Nebentisch. Ich glaube, sie war froh hier fort zu kommen.
Aber wie kam ich aus der Sache raus? Fort wollte ich zwar nicht, denn er gefiel mir ausnehmend gut, aber was sollte ich mit ihm reden?
Vom Nebentisch kam ein Freudenschrei der kleinen Kellnerin. Und gleich darauf hörten wir sie sagen: „Und ich dachte schon, ich bekomme nie einen Freund.“
Superman lächelte mich an. „Stimmt denn das, was ihre Freundin da sagt?“ „Naja, bis jetzt ist alles eingetroffen, soviel ich weiß. Sie hat ein besonderes Talent.“ Kurze Zeit später war Karin wieder am Tisch und fragte: „Wollen wir noch ein Glas Wein trinken und dann unseren Spaziergang machen?“ „Der Wein geht auf meine Rechnung, ich trinke auch ein Glas mit, wenns recht ist.“ Herr Bernauer sah uns fragend an. Es war uns recht. Also saßen wir noch ein Stündchen und es wurde sehr gemütlich. Wir tranken sogar Brüderschaft und luden Jan zu unserem Spaziergang ein.
Der Weg führte uns in Richtung Rabeninsel. Zuerst wurden, wie immer, die nimmersatten Enten gefüttert. Dann schlugen wir den Weg zum Wehr ein. Hin und wieder mußten wir einer Pfütze ausweichen und einigen rücksichtslosen Fahradfahrern. Ansonsten war es ein schöner Spaziergang. Die Sonne wärmte schon ein bißchen und die Sträucher am Wegesrand zeigten das erste Grün.
An einem Seitenpfad blieb Jan stehen. „Habt ihr Mädels Lust die alte Ruine zu besichtigen?“
„Warum nicht, wir waren schon seit Jahren nicht mehr dort“ sagte ich und wir folgten dem schmalen Pfad. Superman immer vornweg. Bald war es kein Pfad mehr, nur noch Wildnis. Die Zweige schlugen uns ins Gesicht und wir versanken teilweise knöcheltief im Matsch. Das nahm Karin zum Anlass mit Jan zu scherzen. „Na toll, will der Herr nachher unsere Schuhe putzen? Weißt du überhaupt noch, wo es lang geht?“ Jan lachte etwas verlegen. „Ich war auch seit Jahren nicht mehr hier, denke schon, daß wir bald da sind. Und eure Schuhe putze ich gern, aber nur, wenn ich dafür einen Kaffe bekomme.“ „Den Kaffee spendiere ich gern, wenn wir nur heil hier heraus kommen,“ meinte Karin, doch plötzlich schrie sie auf. Ein Brombeerzweig hatte sich in ihren langen Haaren verfangen und sie konnte sich nicht allein befreien. Sofort war Jan zur Stelle und löste die Ranke vorsichtig, ja beinah zärtlich, aus ihrem Haar. Ich sah es mit Vergnügen. Wenn sich da nicht etwas anbahnte... Mir sollte es recht sein. Karin hatte bisher wenig Glück mit Männern gehabt und sie wünschte sich doch so sehr einen lieben Partner an ihrer Seite. Im Gegensatz zu mir, ich war als Single sehr zufrieden.
Nach einer ganzen Weile standen wir vor dem alten Gemäuer. Endlich Licht und Luft und kein lästiges Gesträuch mehr. Aber wieso eigentlich. Beim näheren Hinsehen bemerkte ich, daß hier Menschenhand am Werk war. Inzwischen waren Jan und Karin schon weiter gegangen. Als ich sie einholte, hörte ich aus ihrem Gespräch, daß es in der Ruine spuken sollte. Jan erzählte ihr, daß die letzte Besitzerin dieser ehemaligen Ausflugsgaststätte hier nachts umgeht und fürchterliche Greueltaten begeht. Das sagte er jedoch mit einem verschmitztem Lächeln. Er wollte uns ein bißchen Angst einjagen. Wir taten ihm den Gefallen und jammerten, daß wir schnell hier weg wollten, damit sie uns nicht auffrisst. Ich lachte zwar darüber, aber komisch war mir schon. Von Geistern hatte ich genug gehört. Am liebsten hätte ich sofort den Rückweg angetreten. Doch erst einmal liefen wir um das Haus. Jan erzählte, daß seine Großeltern hier früher oft und gern eingekehrt waren und sie ihn auch manches Mal mitgenommen hatten. Aber daran konnte er sich nicht mehr erinnern.
Zurück ging es wieder über Stock und Stein. Länger hätten wir uns dort nicht aufhalten können, denn bald brach die Dämmerung herein.
Jan ging wieder vorn und ich als Letzte. Aber das mit Bedacht, denn ich wollte mich mal kurz in die Büsche schlagen. Ich blieb etwas zurück und rief ihnen zu, sie sollten doch auf mich warten. Das „kleine Geschäft“ war schnell erledigt und ich stand da und zog meinen Reißverschluß hoch. Da fiel mein Blick auf etwas seltsames. War das eine Hand? Waren das Äste oder altes Laub?
Vorsichtig ging ich näher heran. Ich hatte wohl laut geschrien, denn Jan und Karin standen neben mir. „Beruhige dich Baba, ich rufe die Polizei, bitte geht etwas zurück, wir dürfen hier nichts verändern.“ Jan zog sein Handy aus der Lederjacke und wählte den Notruf.
Dann schlug er vor, bis auf den Hauptweg zu gehen um dort auf die Polizei zu warten. Wir sollten hier bleiben. Da wir uns keine Blöße geben wollten, blieben wir. Was sollte er von uns denken wenn wir uns zickig hatten und unsere Angst eingestanden. Nee, nicht mit uns!
Erst standen wir wie festgewachsen und rauchten nervös Eine nach der Anderen. Doch dann setzten wir uns auf einen umgekippten Baumstamm und harrten der Dinge, die da kommen sollten. Um uns war Dunkelheit und nur die schmale Sichel des Mondes spendete diffuses Licht. Inzwischen hatten wir aufgehört zu reden. Karin knipste ab und zu ihr Feuerzeug an, doch jedes Mal ging unser Blick in Richtung Leiche. Also ließ sie es bald.
Nach endloser Zeit hörten wir Stimmen und das Knacken der Äste. „Hier sind wir“ riefen wir wie aus einem Munde und gleich darauf mußten wir lachen. Es war ein Lachen der Erleichterung, denn jetzt merkten wir erst, daß wir ziehmlich verkrampft und ängstlich waren.
Die Kegel der Taschenlampen durchschnitten die Dunkelheit. Die Krähen, die sich in ihrer Nachtruhe gestört fühlten, flogen mit lautem Geflatter davon.
Endlich waren wir nicht mehr allein. Jan hatte wohl schon unterwegs erzählt, was er wußte. Auch wir konnten nichts Neues beisteuern und so durften wir dann bald nach Hause.
Karin schlug vor, daß wir alle zu ihr gehen. Wir waren einverstanden, denn keiner von uns wollte diese Nacht einsam verbringen.
In ihrer Wohnung war es gemütlich und warm. Ich kochte uns einen Kräutertee und Karin wärmte Suppe auf. So saßen wir noch lange zusammen und sprachen über das Erlebte. Irgendwie wußten wir, daß wir Drei tiefe Freundschaft geschlossen hatten. Deshalb bot auch Karin Jan einen Schlafplatz auf ihrer Couch an. Ich durfte mit in ihrem großen Bett schlafen. Somit waren wir alle beisammen und fühlten uns geborgen.
Die folgende Woche bekamen wir eine Vorladung zur Polizei. Da wir weiter nichts wußten, war das schnell erledigt. Ich machte mir so meine Gedanken. Karin hatte doch gesagt, der Tod steht in meiner Nähe. Bestimmt war damit die Leiche gemeint, welche ich entdeckt hatte. Ich hoffte es jedenfalls. Den Polizeibeamten hatte ich ein bißchen verärgert mit meinen vielen Fragen. Er sagte mir jedes Mal, er dürfe keine Auskunft geben. Na, ich war dann auch sauer, er sollte sich mal nicht so haben.
Jan machte wieder seine Späße und behauptete, die unheimliche Wirtin wäre die Mörderin. Dafür erntete er natürlich Spott von uns. Als er uns jedoch am kommenden Sonntag wiederum zur Ruine einlud, hatten wir keine Lust. Das sagten wir, aber wir hatten einfach Angst. Doch dann änderte Karin ihre Meinung. „Baba, ich geh da nochmal hin. Irgend etwas passiert dort, ich muß es wissen. Vielleicht kann ich erfahren, ob es dort wirklich spukt. Ich hatte so ein seltsames Gefühl.“ Jan glaubte zwar nicht an solche Dinge, aber er nutzte die Gelegenheit, um mit Karin zusammen zu sein.
Also war ich am Sonntag allein. Erst dachte ich, es macht mir nichts aus. Doch je länger ich darüber nachdachte, um so wütender wurde ich. Erst mal war ich wütend auf mich, weil ich so ein Angsthase war und deshalb nun hier allein saß. Dann ärgerte ich mich über Karin und Jan, daß sie nicht versucht hatten mich zu überreden. Ich steigerte mich da so hinein, daß mir zum Schluß die Tränen liefen. Als ich mich später etwas beruhigt hatte, nahm ich meine Jacke und verließ das Haus. Ich hatte einen Entschluß gefasst.
Ich saß im Bus und fuhr Richtung Neustadt. Von dort aus gab es einen anderen Weg zur Ruine. Die Beiden würden schön dumm aus der Wäsche gucken, wenn ich sie überraschte. Doch dann fiel mir noch etwas anderes ein und ich mußte insgeheim lachen. Ich wollte ihnen ein bißchen Angst machen, mich ins Gebüsch stellen und wie ein Wolf heulen. Tierstimmen konnte ich gut nachahmen.
Vorsichtig schlich ich mich an die Ruine, aber von Karin und Jan keine Spur. Na toll, ich hatte mir alles so schön vorgestellt und nun war keiner hier. Doch dann hörte ich Stimmen und ging näher an das Gebäude heran. Ob sie einen Zugang gefunden hatten? Saß Karin da drinn und murmelte ihre Zaubersprüche? Wohl drei Mal lief ich an alle Fenster und Türen. Nichts, ich konnte nicht hinein. Alles war zugemauert. Nun rief ich ganz laut: „Karin, Jan, wo seid ihr?“ Wieder nichts, nur unheimliche Stille. „Karin, ich bin hier“, rief ich abermals. Nun stand ich da, ganz allein. Was hatte ich mir nur dabei gedacht hier her zu kommen. Und wieder drangen Stimmen an mein Ohr. Aber es war wie ein Flüstern. Starr und steif und zu keiner Bewegung fähig wurde mein Körper. Alle Angst, die ich hatte, kam auf mich zu. Ich dachte an den Schatten und das gruslige Gesicht an meinem Fenster und an die mordende Wirtin. Fort, nur fort von hier, aber die Beine versagten mir den Dienst. In der aufkommenden Dunkelheit sah ich seltsame Gestalten, durchscheinende Wesen, die mit lautem Geheul auf mich zu kamen. Sie bildeten einen Kreis um mich und aus ihren gräßlichen Mäulern tropfte Blut. Immer näher kamen sie heran und ich war halb ohnmächtig vor Angst. Dann berührten sie mich mit ihren schleimigen, knochigen Händen und ich schrie.
Schreiend und schweißgebadet wachte ich auf. Ich lag zu Hause auf meiner Couch zwischen zerwühlten Kissen. Nur langsam begriff ich, daß dies ein Traum gewesen war. Allerdings ein Albtraum. Bevor ich noch weiter darüber nachdenken konnte, klingelte es an der Haustür. Ich rappelte mich auf und fragte: „Wer ist da?“ „Mach schnell auf Baba, wir sinds.“ Was war ich froh Karins Stimme zu hören. Sie stürmte herein, Jan im Schlepptau, und fing sofort an zu erzählen. „Du glaubst nicht, was wir erlebt haben. Stell dir vor, wir haben an der Ruine eine Frau getroffen, eine richtige Hexe. Das behauptete sie jedenfalls. Sie macht dort regelmäßig Geisterbeschwörungen und... Mein Gott Baba, wie siehst du denn aus?“ An Karins Gesicht konnte ich ablesen, daß sie echt erschrocken war. Ich schaute in den Spiegel und erschrak auch. Meine Kleidung war voller Blut und in den Haaren klebte grüner Schleim. Aber das war ich ja garnicht im Spiegel. Ich sah eines dieser Geisterwesen von der Ruine. Mir wurde schlecht und ich rannte ins Bad. Nachdem ich mich übergeben hatte, schaute ich nochmals in den Spiegel. Alles war wieder normal, nur das ich Karins Gesicht hinter mir sah. „Was ist los mit dir, bist du krank?“ Sie legte ihre Hand auf meine Stirn und befahl mir, mich hinzulegen. „Ich glaube du hast Fieber, du bist auch ganz nass geschwitzt. Ich mache dir einen Tee.“ Vorsichtig schaute ich nochmals in den Spiegel, bevor ich mich wieder zur Couch begab. Kein Blut und kein Schleim an mir, nur ein bissel blass und die Haare verschwitzt.
Nachdem Karin in der Küche fertig war, saßen wir zu dritt auf dem Sofa. Jeder eine große Tasse mit dampfenden Tee in der Hand. Ein süßer Fenchelduft zog durch das Zimmer.
„Schade, daß du nicht dabei warst. Ich fand es unheimlich interessant,was Sira uns alles erzählt hat. Weißt du, sie heißt Sira und wohnt ganz in meiner Nähe. Wir wollen uns mal treffen und ich lege ihr die Karten. Ich bin so froh, daß ich jemanden gefunden habe, der auf meiner Wellenlänge ist.“ Sie schaute zu mir. „Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?“
„Entschuldige Karin, ich hatte einen Albtraum bevor ihr kamt. Ich habe von der Ruine geträumt.“ Nun mußte ich alles berichten. Danach sahen mich Karin und Jan fassungslos an. „Langsam wird mir das unheimlich mit euch Mädels“, sagte Jan. „Bisher hatte ich gedacht, das sind nur Spinnereien, aber nun glaube ich alles was passiert. Stell dir vor Baba, Sira hat eine Hexenbeschwörung gemacht und Karin und ich durften dabei sein. Das Seltsame an der Sache ist aber, daß wir auch diese Geisterwesen gesehen haben.“ Wir saßen lange da und schwiegen.
Die nächsten zwei Wochen war ich krank. Nicht körperlich krank, nein, meine Seele litt. Ich hatte furchtbare Angstzustände und blieb in meiner Wohnung. Zum Glück kam Karin jeden zweiten Tag und redete mir gut zu. Langsam wurde es besser. An einem sonnigen Morgen raffte ich mich auf und ging hinaus. Oh, was hatte ich alles vepasst. Der Frühling war in vollem Gange und in der Luft lag der Duft von Jasmin. Eigentlich wollte ich etwas einkaufen, aber ich lief und lief und genoss den frischen Tag. Auf einer Parkbank ließ ich mich nieder und zog meine Jacke aus. Dann kramte ich in meiner Handtasche nach den Zigaretten. Nach drei Zügen fühlte ich mich so wohl wie lange nicht. Ich lehnte den Kopf zurück, schloß die Augen und die Sonne wärmte meine Haut.
Als ich die Augen wieder öffnete, schwebte ich über den Wipfeln der Bäume. Unter mir sah ich die Ruine. Die Krähen auf den Ästen schrieen unerträglich und flogen auf mich zu. Aber ich konnte mich vor ihnen retten und versteckte mich hinter der Ruine. Vorsichtig lugte ich um das Gebäude herum. Auf der Wiese saß Sira, die Hexe und die Krähen hatten einen Kreis um sie gebildet. In der Mitte brannte ein Feuer und daraus stiegen seltsame Gestalten auf, die sich dann in Nebel auflösten. Die Nebelschwaden hüllten mich ein und trugen mich ins Innere der Ruine. Ich befand mich in einem großen Raum, der wohl mal ein Tanzsaal war. Rings an den Wänden standen Tische und Stühle. Aber ich hatte keine Zeit mich weiter umzusehen, denn eine Frau stand plötzlich vor mir und nahm mich bei den Händen. „Komm mein Mädchen, tanz mit mir, ich habe lange auf dich gewartet. Heute tanzt du den letzten Tanz deines Lebens.“ Sie wirbelte mich herum und tanzte und stampfte und machte keine Pause. Ich versuchte mich zu befreien, aber sie hielt mich eisern fest. Meine Haare und meine Kleider flogen und der Atem ging mir aus, doch ich mußte tanzen. Alles drehte sich um mich und ich sah nur noch das lachende Gesicht meiner Tanzpartnerin. Aufeinmal wußte ich wer sie war. Die Wirtin! Es war die verstorbene Wirtin. Die grausame Wirtin, die jeden umbrachte. Sie zerrte mich durch den großen Saal und drehte mich im Kreis. Es gab kein Entkommen. Die Wirtin krallte sich an mir fest und schrie und sang und lachte wie irre. Ihr Gesicht hatte sich zur Fratze verändert und nun sah es aus, wie das gräßliche Gesicht an meinem Fenster.
„Geh weg du Satan, verschwinde!“ wollte ich rufen, doch kein Laut kam aus meinem Mund.
Unser Tanz wurde immer schneller, ich spürte den Boden nicht mehr. Unheimlich und grausam sah mein Gegenüber aus. Und sie brüllte und bedrohte mich. Mein Kopf wollte zerspringen, die Sinne schwanden mir und endlich konnte ich schreien. Es war wie eine Befreiung und ich schrie allen Schmerz und alle Angst aus mir heraus.
„Gott sei Dank, du bist endlich wach.“ Mühsam schlug ich die Augen auf. Ich starrte in Karins besorgtes Gesicht. Um mich herum weiße Wände und vergitterte Fenster. Auch um mein Bett ein Gitter. Bett? Wieso lag ich im Bett? „Karin, was ist los, wo bin ich hier?“ „Ach Baba, ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht. Man hat dich schreiend im Park gefunden und irgendwer hat dich in die Psychatrie eingewiesen. Du warst drei Tage verschwunden und erst von der Polizei habe ich erfahren, das du hier bist.“ Sie schwieg und sah mich an. Auch ich schwieg und versuchte mich zu erinnern. Ruine... Hexe... Wirtin... Tanzsaal...
Plötzlich wußte ich wieder alles. „Karin, ich war in der Geisterruine und die Wirtin war dort.“
Nachdem ich Karin alles erzählt hatte, nahm sie mich in die Arme und drückte mich ganz fest. Es tat mir so gut und ich war froh, so eine Freundin zu haben. „Bringst du mich von hier fort? Ich will nach Hause, mir fehlt nichts.“ „Sicher Baba, ich versuche gleich den Arzt zu erreichen. Ich komme dann nochmal zu dir rein.“ Damit war sie verschwunden und ich lag allein und hilflos in einem vergitterten Raum. Wieso hilflos, dachte ich und stand auf. Schnell zog ich meine Sachen an und ging zur Tür. Ich wollte öffnen, fasste den Knauf und prallte mit Karin zusammen. „He Mädchen, willst du abhauen? Meinst du, das ist gut für dich? Den Arzt konnte ich nicht finden, er hat schon Feierabend.“
„Komm, schnell weg hier Karin, ich bleibe doch nicht in der Klapse.“ Langsam und vorsichtig schlichen wir über den Flur. Eine Schwester war nicht zu sehen und so kamen wir unbehelligt raus. Draußen stand der Mond am Himmel und die Straßenlaternen brannten. Warme Frühlingsluft schlug uns entgegen. Zur Bushaltestelle war es nicht weit und bald saßen wir bei Karin auf der Couch.
Hier fühlte ich mich geborgen und wir plauderten von belanglosen Dingen. Nach einer Weile fragte ich: „Sag mal, was läuft eigentlich zwischen dir und Jan?“ „Da läuft garnix, wir sind gute Freunde nach wie vor.“ Ich schaute Karin an. „Komm, gib es schon zu, du bist in ihn verknallt.“ Wurde Karin jetzt etwa rot? „Verknallt? Ich weiß nicht Baba, aber verliebt könnte man sagen. Ich mag ihn so sehr und ich bin traurig, daß er nicht da ist. Er ist zu einem Kongress nach Paris gefahren.“
„Zu einem Kongress?“ fragte ich neugierig. „Was macht er denn beruflich?“ „Er ist Arzt, Kinderarzt, hier im städischen Krankenhaus. Er hat mir erzählt, das er eigentlich immer Maler werden wollte, er hat schon viele Bilder gemalt, aber sein Vater, der selbst Arzt ist, wollte das nicht. Naja, und deshalb brauch ich mir auch keine Hoffnung machen. Er Arzt und ich eine poplige Verkäuferin, ich passe nicht in seine Welt.“ Nun war es an mir meine Freundin in den Arm zu nehmen. „Warte ab, Karin, wenn er dich auch liebt, wird das kein Hindernis sein. Ich wünsche dir so sehr, daß du glücklich bist.“
Als ich später auf der Besuchercouch lag, dachte ich über die letzte Zeit nach. Wurde ich langsam verrückt? Ich mußte mich zusammen reißen, nocheinmal wollte ich nicht in der Psychatrie landen, denn so schnell kam man da nicht wieder heraus. Nachdem ich beschlossen hatte, morgen wieder in meine Wohnung zu gehen, brav weiter zu nähen und den Rest zu ignorieren, schlief ich endlich ein.
Am nächsten Tag klingelte es laufend an meiner Tür. Die Einen brachten etwas zum Nähen und die Anderen wollten ihre Sachen abholen, die natürlich noch nicht fertig waren. Ich mußte mich entschuldigen ohne Ende. Zum Glück hatten alle Verständnis - bis auf Frau Ypsilon-Meyer. Oh Gott, was hat die mich rund gemacht. Sie brachte ihre berühmte Samthose zurück. Ich hatte mich vertan und durfte nun den Stoff ersetzen und mich tausend Mal entschuldigen. Hoffentlich war ich sie nun los.
Ich nähte wie eine Wilde und hatte dabei das Radio auf voller Lautstärke, damit ich nicht zum Nachdenken kam. Es funktionierte. Na bitte, geht doch, dachte ich, als ich durch den Lärm die Klingel abermals vernahm. Vor der Tür, lässig die Jacke über der Schulter, ein blödes Grinsen im Gesicht, stand Jans Vater, Herr Gerald Bernauer. Bums war die Tür wieder zu. Ich stand mit klopfendem Herzen dahinter. Boh, der hatte mir noch gefehlt in meiner Sammlung. Ich riss die Tür wieder auf und fragte recht unfreundlich, was er denn noch wolle. „Ich muß dringend mit ihnen reden Frau Herz. Wenn es ihnen recht ist, treffen wir uns heute Abend gegen Sieben im Eckcafe. Wir haben einiges zu besprechen.“ Ich wartete, ob er noch etwas sagen würde, aber er hatte sich schon umgedreht und ging. Was für ein unhöflicher Mensch, dachte ich wütend, und mit ihm treffen wollte ich mich schon garnicht. Es gab nichts zu besprechen. Punkt!
Neunzehn Uhr saß ich im Cafe und nippte an meinem Wein. Ich war immer noch wütend, doch dieses Mal auf mich. Wie konnte ich nur so dumm sein und hierher kommen. Diese verdammte Neugierde! Schnell stand ich auf um zu gehen, doch da stand der feine Herr schon vor mir. Wieder im grauen Anzug und wieder die Jacke über der Schulter. „So ein arroganter Kerl“ dachte ich bei mir. „Spielt hier einen auf jung und locker, na der wird mich kennen lernen.“
„Einen Martini Bianco, mit zwei Oliven!“ Er drückte der Kellnerin seine Jacke in die Hand und setzte sich zu mir. Damit hatte er schon wieder einen Minuspunkt gesammelt. Er dachte bestimmt, er sei ein toller Hecht.
„Frau Herz, ich möchte gleich zur Sache kommen. Es geht um ihre Freundin. Sie ist zu oft mit meinem Sohn zusammen, es wird ihm langsam lästig. Im Krankenhaus reden sie schon, daß er sich mit einer Verkäuferin abgibt. Es schadet seinem Image. Sprechen sie mit ihrer Freundin. Sie soll ihn in Ruhe lassen, schließlich will er sich verloben.“ Damit stand er auf, legte einen Schein auf den Tisch und war verschwunden.
Was war das denn? Ich saß wie betäubt und mein Kopf war leer. „Möchten sie den Martini trinken?“ Vor mir stand die nette Kellnerin, das Glas in der Hand, und sah mich abwartend an. „Äh...nein Danke, ich muß auch gehen.“
So genau wußte ich nicht mehr, wie ich nach Hause gekommen bin. Ich stand wie verloren in meiner Küche und versuchte meine Gedanken zu ordnen. Wütend war ich nicht mehr, ich war eigentlich garnichts. „Na, der wird mich kennen lernen,“ hatte ich im Cafe voller Wut gedacht. Nichts, garnichts hatte ich gesagt. Wie auch, wenn er immer so schnell weg war. Das schien seine Masche zu sein. Etwas sagen, oder anordnen und dann nichts wie weg. Sehr bequem von ihm, da braucht er nicht diskutieren. Oder er ist es gewöhnt, daß man tut was er sagt. Wieso bin ich eigentlich dahin gegangen? „Selber schuld Baba,“ sagte ich laut. Aber das Schlimmste stand mir noch bevor. Ich mußte mit Karin reden. Aber nicht am Telefon.
Kurz danach saß ich auf ihren Treppenstufen und rauchte. Karin war noch nicht da, aber sie mußte gleich von der Spätschicht nach Hause kommen. Nach einiger Zeit fing es an zu regnen. Ich ging auf die andere Straßenseite, um mich an der Bushaltestelle unter zu stellen. Von hier aus beobachtete ich Karins Haus. Die Laterne spendete genügend Licht, so daß ich sehen konnte, daß an der Ecke ein Mann stand. Er ähnelte dem Vater von Jan. „Du siehst schon wieder Gespenster Mädchen!“ Der Mann war der Letzte, den ich heute sehen wollte. Ich schaute noch einmal hin. Ja, er war es und ich sprang auf, um ihm endlich mal meine Meinung zu sagen. Doch im gleichen Augenblick kamen Jan und Karin, Arm in Arm, und gingen hinein. Jetzt wurde es spannend. War er wirklich so dumm und ging hinterher? Ich wartete, daß Herr Bernauer nach Hause ging. Doch er stellte sich jetzt genau vor die Haustür. Der Regen schien ihm nichts auszumachen. „Wenn er sich jetzt umdreht, sieht er mich.“ Langsam rückte ich auf meiner Bank aus dem Lichtkegel in die äußerste Ecke. Ich war unschlüssig, was ich tun sollte. Hingehen, warten? Nach Hause konnte ich nicht. Wenn ich aufstand, würde er mich sehen. Ich hatte heute keine Lust mehr mit ihm zu reden. Also blieb ich erst mal sitzen. Mir war kalt und ich wollte in mein Bett. Eine Zigarette konnte ich mir auch nicht leisten, er würde das Feuer beim Anzünden sehen. Ich kam mir vor wie ein Spion.
Auf meiner Uhr war es schon elf und ich beschloß, in den nächsten Bus einzusteigen, der kam. Eine halbe Stunde verging, kein Bus in Sicht. Den Fahrplan konnte ich aus meiner Ecke nicht erkennen. Dann kam mir eine andere Idee. Wenn der Bus kam, würde ich so tun, als ob ich ausgestiegen bin und dann gesenkten Kopfes nach Hause gehen. Das tat ich dann auch und machte mich flugs auf den Heimweg. Es war schon Mitternacht und ich war todmüde.
Was sind das für Schritte hinter mir? Ängstlich drehte ich mich um und stand wie angewurzelt. Der überaus nette Herr Bernauer verfolgte mich. Plötzlich kam alle Wut wieder hoch.
Und wieder wachte ich im Krankenhaus auf. Doch dieses Mal saß nicht Karin an meinem Bett sondern ein Arzt im weißen Kittel stand vor mir. Es war Herr Dr. Bernauer. Der Schreck fuhr mir in alle Glieder. War er etwa Neurologe? Ich brauchte nicht länger nachdenken, denn er fing an zu sprechen: „Das sie hier sind Frau Herz, haben sie sich selbst zuzuschreiben. Denken sie nicht, sie kommen so bald nach Hause. Die Schwestern haben ihre Anweisungen.“ Sprachs, drehte sich um und die Tür schloß sich hinter ihm.
Was war passiert? Irgendwie war alles verschwommen. Aber dann erinnerte ich mich.
Ich hatte Herrn Bernauer kräftig die Meinung gesagt und ihn übel beschimpft. Er stand nur da, als ob es ihn nichts angeht und fing an, zu telefonieren. Hätte ich mal hingehört, mit wem und was er sprach, mir wäre der Rest erspart geblieben, denn ich hätte schnell das Weite gesucht. Aber ich mußte ihn ja weiter beschimpfen. Man, was war ich dumm. Ein Auto hielt und zwei Männer schleppten mich weg. Im Krankenwagen bekam ich eine Spritze und dann mußte ich eingeschlafen sein. Irgendwie bekam ich noch mit, daß jemand sagte: „Die haut so schnell nicht wieder ab.“
Abhauen, das war das Zauberwort. Torkelnd schleppte ich mich zur Tür. „Was haben die mir nur für Pillen gegeben, ich kann ja nicht mal geradeaus gehen.“ Die Tür hatte nur einen Knauf, keine Klinke. Ich kam nicht raus. Ahja, das Fenster, ich muß zum Fenster raus... Aber auch da Fehlanzeige. Die Fenster ließen sich nicht öffnen und waren außerdem vergittert und ich mußte wohl im dritten Stock sein. Meine letzte Hoffnung war Karin, sie würde mich suchen und befreien.
Und genauso kam es. Karin stand am nächsten Tag im Zimmer. Sie war ganz blass und hatte rote Augen. „Komm mit Baba, ich bring dich nach Hause.“
Zu Hause erfuhr ich dann die schreckliche Wahrheit. Jans Vater hatte mit Karin gesprochen. Sie sollte die Finger von Jan lassen, sonst würde ich ewig in der Klinik bleiben. Und das er die Macht dazu hatte, hatte sie verstanden. „Er hat mir gesagt, Jan will sich verloben“ schluchzte Karin. „Ich kann das einfach nicht glauben. Er hat mich doch gleich nach seiner Reise von der Arbeit abgeholt, und wir waren die ganze Nacht zusammen. Er liebt mich Baba. Seinem Vater habe ich erst mal alles versprochen was der wollte, sonst hätte ich dich nicht aus dem Krankenhaus gekriegt.“
„Glaubst du, daß ich verrückt bin Karin?“ „Nie im Leben meine Baba, wenn einer verrückt ist, dann Jans bescheuerter Vater.“ „Was willst du jetzt tun Karin?“ „Ich werde mit Jan reden, er kommt heute Abend zu mir. Wenn er zu mir steht und zu dem was er gesagt hat, brauch ich mir keine Sorgen machen. Aber um dich mach ich mir Sorgen. Nicht das du wieder in der Klinik landest.“
Karin hatte aufgehört mit erzählen. Jan saß geschockt da und sagte erst mal garnichts. Er hatte den Kopf auf seine Hände gestützt und stöhnte. Karin legte ihren Arm um seine Schulter und beugte sich zu ihm.
Wir saßen wieder mal zu dritt auf Karins Couch. Sie hatte darauf bestanden, daß ich bei dem Gespräch dabei bin. Nun warteten wir auf Jans Reaktion.
„Nein, wie kann er nur... aber so kenne ich ihn... nur was er will geschieht.“ Stockend suchte Jan nach Worten. Doch dann sah er Karin an und nahm ihre Hand. „Ich liebe dich Karin, ich liebe dich über alles, und was mein Vater auch sagt oder tut, er wird uns nicht auseinander bringen.“ Sie gaben sich einen langen Kuß und ich war sehr gerührt. Ein Glück, daß mit den Beiden alles in Ordnung war. „Jetzt verstehe ich auch, warum meine Kollegin, die neue Kinderärztin, neulich bei uns zu Besuch war. Mein Vater hatte sie eingeladen, weil er deren Vater von früher kannte. Ich hatte schon die leise Vermutung, daß er mich verkuppeln will. Womöglich hatte er sogar seine Finger im Spiel, damit sie bei uns arbeitet. Ich traue ihm alles zu.“ „Was machen wir nun mit Baba? Er kann sie doch jederzeit wieder einsperren, weil sie aus der „Geschlossenen“ abgehauen ist“ fragte Karin. „Ja, da weiß ich im Moment auch keinen Rat, du könntest bei mir wohnen Baba und ich ziehe zu Karin.“ „Nein, lass mal Jan, das wäre für mich keine Lösung, muß doch meine Brötchen zu Hause verdienen. Und immer weglaufen kann ich auch nicht.“
„Dann sagen wir eben Sira Bescheid, sie soll deinen Vater verhexen“ lachte Karin. „Du, wenn das der letzte Ausweg ist, dann nehmen wir den“ sagte Jan voller Ernst. Wir schauten uns an.
Sira, die Hexe und Karin, mein kleines Hexlein würden es tun, davon war ich überzeugt. Und auch Jan nickte bestätigend. Karin stand auf. „Ich mach uns jetzt erst mal einen Tee und ein paar Schnittchen. Und Morgen spreche ich mit Sira.“
Jan, Karin, Sira und ich saßen neben der alten Ruine. Es war fast Mitternacht und wir unterhielten uns nur flüsternd. Sira hatte ein Feuer angezündet und rückte noch einige Utensilien zurecht. Im Schein des Feuers zuckten seltsame Schatten über unsere Gesichter. Auf Wunsch von Sira knieten wir uns um den Steinkreis und fassten uns bei den Händen. In der Ferne hörten wir die Kirchturmglocken läuten. Sofort fing Sira an ihre Zaubersprüche zu murmeln. Verstehen konnte ich sie nicht, aber sie hatte uns vorher erklärt, daß sie Jans Vater mit einem Fluch belegen wollte, und auch das wir nicht reden sollten während der Zeremonie.
Ich hielt Siras Hand und spürte eine seltsame aber angenehme Kraft von ihr ausgehen. Angst hatte ich nicht, aber gespenstisch war es schon. Gern hätte ich gewußt, welches Übel sie für den feinen Herrn Doktor bereithielt. Aber ansich war das egal, hauptsache er ließ uns in Zukunft in Ruhe.
Siras Stimme wurde leiser und leiser. Dann nahm sie eine kleine runde Flasche und goß den Inhalt ins Feuer welches hochauf loderte. Die Flammen fielen in sich zusammen und wir standen auf. Es war vollbracht.
Noch immer hielt Sira meine Hand und sprach: „Erschreckt jetzt bitte nicht, gleich kommen die ruhelosen Seelen und treiben Schabernack mit uns. Wenn ihr ganz ruhig stehen bleibt, wird euch nichts geschehen. Ihr dürft auch gerne beten dabei.“ Sie hatte kaum ausgesprochen, da ging der Spuk los. Da waren sie wieder die gräßlichen Gestalten mit ihrem schleimigen durchscheinenden Körper. Blut tropfte aus ihren Mäulern aus denen ein schreckliches Geheul kam. Sie sausten auf uns zu und - durch uns durch. Ich mußte an meine Oma denken, die mir immer Gruselgeschichten erzählt hatte. Aber sie hatte mir auch das Beten beigebracht und gleich fing ich an, das Vaterunser zu beten. Nach einer Weile hörte der wilde Tanz auf und die Gespenster verschwanden. Wir lösten unsere Hände voneinander und knipsten die Taschenlampen an. Jan fand als erster die Sprache wieder. „Kommt Mädels, ab nach Hause, trödelt nicht.“ Er marschierte los und wir hinterher. Er stimmte ein altes Volkslied an und wir fielen ein. Wenn uns jemand gesehen hätte, der hätte gedacht, wir sind nicht ganz bei Trost. Im Gänsemarsch, laut singend nach Mitternacht durch den Wald marschieren, das war schon nicht normal. Aber was war noch normal in unserem Leben...
Meine Nähmaschine ratterte ihr monotones Lied. Mir fielen fast die Augen dabei zu. Ich hatte dringend eine Pause nötig. Doch die konnte ich mir nicht leisten. Heute kamen noch fünf Kunden und wollten ihre fertige Kleidung. Warum hatte ich bloß so viele Aufträge angenommen? Ich arbeitete bis spät in die Nacht und morgens ging es fleißig weiter. Endlich hatte ich mehr Geld zur Verfügung, doch das trieb auch meine Steuern in die Höhe. Egal, ich war froh, das der Laden lief. Aber komisch war es schon. Noch vor vier Wochen hatte sich nur meine Stammkundschaft blicken lassen. Und nun so viele Neue. Ob es etwas mit dem Fluch zu tun hatte? „Baba, nun spinn mal nicht rum“ sagte ich zu mir selbst. Der Fluch... ich war schon neugierig, wie es Jans Vater ging. War er krank geworden? Hatte er seine Arbeit verloren? Was hatte Sira ihm nur angehängt?
Da ich in letzter Zeit so viel zu tun hatte und auch die Wochenenden zum nähen nutzte, sah ich Karin nur selten. Aber sie hatte ja nun auch nicht mehr so viel Zeit für mich. Jan arbeitete in Schichten und Karin auch. Die wenige Freizeit gehörte ihnen allein.
Die Sonnenstrahlen fielen durchs Fenster und wärmten meine rechte Schulter. Es war Sommer. Einen sehnsüchtigen Blick warf ich kurz hinaus und beugte mich wieder über meine Arbeit. Doch die Gedanken konnte ich nicht abstellen. Wie schön wäre es jetzt, mit Karin und Jan die Stadt unsicher zu machen. Wir hätten sicher sehr viel Spaß. Und wo waren die gemütlichen Kneipenbesuche? Alles hatte sich geändert.
In der Abenddämmerung saß ich mit duschfeuchten Haaren, aber sichtlich erfrischt, in meinem kleinen alten Sessel. Meine Arbeit war getan und ich konnte alles pünktlich abliefern. Seltsamerweise hatte mir heute niemand etwas gebracht. Ich beschloss, nicht mehr so viel zu nähen. Wenigstens die Wochenenden wollte ich frei haben. Dann würde ich eben allein etwas unternehmen. Mein Blick fiel auf das eingeritzte Kreuz im Fensterrahmen. Stimmt, dachte ich, hier am Fenster hatte alles angefangen und mit Siras Beschwörung hatte es aufgehört. Hatte es wirklich aufgehört, oder ging der Spuk irgendwann weiter. Eigentlich schade, dachte ich, damals war das Leben noch spannend. Und jetzt saß ich nur noch stumpfsinnig an meiner Nähmaschine.
„Ach wäre doch alles wie damals“ seufzte ich laut.
Hätte ich mir das nur niemals gewünscht.
Der Sturm tobte ohne Unterlass, Regen peitschte an meine Fenster. Ab und zu erhellte kurz ein Blitz die Dunkelheit in der dann das ohrenbetäubende Donnern zu hören war. Der Strom war seit einer halben Stunde ausgefallen, nur eine kleine Kerze verbreitete ihren warmen Schein.
Ich war allein und ich fühlte mich einsam. Nichts konnte ich tun. Nur warten, daß das Unwetter vorüber zog. Kein Strom hieß: kein Radio, kein Fernsehen! Telefonieren sollte man ja auch nicht bei Gewitter und zu duschen traute ich mich nicht. In meinem kleinen Bad hallte der Donner doppelt so laut, das machte mir Angst. An Schlaf war auch nicht zu denken bei diesem Lärm. Meinen Sessel hatte ich in die Mitte des Zimmers gezogen und da saß ich nun, eingehüllt in eine Decke und verängstigt.
Seit einiger Zeit sagte eine innere Stimme ständig zu mir: Geh zu Karin, geh zu Karin! Die Stimme wurde immer lauter und eindringlicher. Bei diesem Wetter raus? Niemals!
Doch schon griff ich nach meiner Handtasche und dem Regenmantel. Wenn Karin meine Hilfe brauchte, mußte ich hin.
Schon nach den ersten Schritten hatte mir der Sturm die Kapuze vom Kopf gerissen. Meine langen nassen Haare verfingen sich in meinem Gesicht und verdeckten meine Augen. Immer wieder strich ich die nassen Strähnen zurück. Dabei lief mir der Regen in die Ärmel. Ich glaube nach fünf Minuten war an mir kein Faden mehr trocken. Etwa zwanzig Meter vor mir schlug ein Blitz in einen Mast ein. Wie erstarrt blieb ich stehen, meine Füße wollten nicht weiter. Der Mast stand in hellen Flammen und irgendwelche Oberleitungen brannten mit. Als ich die Sirene der Feuerwehr hörte, lief ich auf die andere Straßenseite und war dann auch bald an Karins Haus angelangt.
Keine Laterne erhellte die Straße, hinter keinem Fenster brannte Licht. - Und keine Klingel funktioniert, dachte ich. Aber wie sollte ich zu Karin kommen? Steinchen werfen bei dem Lärm? Rufen? Ich war ziehmlich ratlos. Dann klopfte ich ewig bei ihrer alten Nachbarin unten ans Fenster. Irgendwann kam sie dann rausgeschlurft mit einem alten Kerzenleuchter in der Hand. Beinah hätte ich laut gelacht, als ich sie sah. Es war schon ein wunderlicher Anblick, wie sie da mit ihrem langen weißen Nachthemd und den offenen grauen Haaren, die wüst um ihren Kopf hingen, an der Tür stand. Sie hielt den Leuchter mit zitternden Händen und das Wachs tropfte fleißig auf den Fußboden. „Wasch isch denn losch, Frau Hersch.“ Nun konnte ich nicht mehr an mich halten und lachte lauthals. Nun hatte ich Frau Simon beleidigt. Sie ließ mich zwar ein, aber nuschelte hoheitsvoll: „Ohne Schähne schprischt man so, schie kommen da auch noch hin Frau Hersch.“
Atemlos kam ich in der dritten Etage an und hämmerte gegen Karins Tür. Nichts regte sich dahinter. Ich drückte den Klingelknopf sinnloser Weise immer wieder. Dann rief ich laut Karins Namen. „Karin, Karin, mach auf!“ Nochmals schlug ich mit den Fäusten gegen die Tür. Vielleicht ist sie garnicht zu Hause, schoß es mir plötzlich durch den Kopf. Was ist, wenn sie bei Jan ist? Zum ersten Mal bereute ich, daß ich kein Handy hatte. Was mache ich nur? Soll ich jetzt mitten in der Nacht bei Jan klingeln? Und wie komme ich dahin? Karin hatte zwar mal erwähnt, daß er Bergstraße 23 wohnt, aber in diese Gegend kam ich selten. Sollte ich wieder nach Hause gehen? Nein, schubste ich mich selbst an, was du angefangen hast, mußt du zu Ende führen!
Draußen regnete es noch immer, aber der Sturm und das Gewitter hatten sich verzogen. Ich ging rüber zur Bushaltestelle und studierte den Fahrplan. Endlich mal Glück! In drei Minuten kam ein Bus.
„Wo muß ich aussteigen, ich möchte zur Bergstraße? fragte ich den jungen Busfahrer. „Das ist die Endstation, ich steige da auch aus und mache Pause. Sie müssen die erste Straße rechts rein und dann gleich links, das ist sie dann.“ Der Fahrer wartete geduldig, bis ich mein Geld zusammen gekramt hatte und fuhr dann los. Ich war der einzige Fahrgast. Aus dem Radio dröhnte laute Musik. Im Bus war es warm und gemütlich und durch das Schunkeln wäre ich fast eingeschlafen.
Als der Bus hielt, fiel mir wieder ein, warum ich mitgefahren war. Der freundliche Fahrer rief mir noch hinterher: „In einer Stunde fahre ich wieder los, wenn sie`s bis dahin schaffen, nehme ich sie wieder mit.“ "Ja, ich komme ganz gewiss."
Die Bergstraße lag in einem alten Villenviertel. Hier wohnte die Sahne der Gesellschaft, die konnten sich das leisten. Vielleicht wohnt Karin auch bald hier? Na, da macht sein alter Herr aber einen Kofstand. Ich verdrängte die Gedanken und suchte nach der Nummer 23. Uralte schöne Häuser und uralte große Bäume, nur keine Nr. 23. Ich beschloß alle Namensschilder zu lesen. Die Straßenlaternen spendeten inzwischen wieder Licht. Dr. Bernauer, stand auf einem verschnörkelten Schild und klein daneben eine 23. Ich hatte es gefunden! Aber wieder war ich im Zweifel. Sollte ich nun klingeln oder nicht. Jan und Karin würden mich bestimmt auslachen. Mutig drückte ich die Klingel. Nach einer Weile ging innen das Licht an und die Tür öffnete sich. Im Bademantel und Hausschuhen stand vor mir - Jans Vater.
Mir verschlug es beinahe die Sprache und stotternd brachte ich heraus: „Ich wollte eigentlich zu Jan.“ „Ach schau an, die schöne Näherin aus der „Geschlossenen“ hat wohl Langeweile? Kein Grund mich zu stören, Jan ist nicht hier.“ Wider Erwarten drehte er sich nicht um und schloß die Tür. „Was wollen sie eigentlich? Jan wohnt nicht hier, er hat seine eigene Wohnung.“
Bums! Da lag ich aber falsch. So eine Blamage, ich hatte mal wieder nicht richtig zugehört und die Adresse Jan zugeordnet. Eigentlich war das lustig und ich fing an zu lachen. „Warum lachen sie?“ fragte Jans Vater unwirsch. Er hatte mir schon den Rücken zugedreht und drehte sich nun nochmals zu mir um. „Weil sie sich ihren Bademantel nicht lässig über die Schulter geworfen haben!“ Lachend ging ich den Weg zum Gartentor. Ich war zufrieden mit mir. Plötzlich ein Ruck an meinen Rücken und ein eiserner Griff um meinen Hals. „Über mich macht man sich nicht lustig“, hörte ich seine Stimme an meinem Ohr. „Du kleines Biest bringst alles durcheinander. Mein ganzes Leben machst du mir kaputt.“ Ich wagte mich nicht zu rühren. Wenn er mich doch nur los ließe. Seine Hand grabschte nach meiner Brust und die andere Hand drückte meinen Mund zu. Voller Wut versuchte ich mich zu befreien und schlug um mich. Vergebens, der alte Mann war stärker. Er zerrte mich zurück ins Haus und stieß mich auf die Treppe. Bevor ich mich erheben konnte hatte er die Tür abgeschlossen. Mein Blick irrte umher, wohin konnte ich fliehen? Plötzlich lag er auf mir und keuchte: „Ich kriege dich noch, warts nur ab, ich kriege dich so oft ich will. Du wirst schon noch zahm werden mein Täubchen.“ Er legte seine Hände auf meine Brüste und küßte mich wild und leidenschaftlich. Schreiend und tobend versuchte ich mich zu befreien. Es war sicher nur ein Traum wie immer. Doch da wurde ich gepackt und in einen dunklen Raum geworfen. Hier tobte ich weiter. Ich merkte nicht, daß ich mich an den Möbelstücken übel verletzte. Mit einem Stuhl schlug ich gegen die Tür. Immer und immer wieder, bis mich die Kräfte verließen.
„Stehen sie auf Frau Herz!“ Jans ekelhafter Vater stand vor mir und sah mich ernst an. „Ich mußte ihnen eine Beruhigungsspritze geben, sie haben meine Möbel zerschlagen und geschrien und getobt. Eigentlich hätte ich sie einweißen müssen. Aber eine letzte Chance gebe ich ihnen noch. Nur weil Jan nicht hier ist, müssen sie nicht so ein Theater machen. Gehen sie nach Hause bevor ich es mir anderst überlege.“ Er warf mir meinen Regenmantel und die Handtasche vor die Füße und verließ das Zimmer. Ich nahm meine Sachen und folgte ihm. Er stand an der Haustür und hielt sie weit auf. Am liebsten hätte ich ihm ins Gesicht geschlagen, doch ich hatte Angst, daß er mich dann wieder ins Haus zerrte. So torkelte ich also die Sraße zurück zur Bushaltestelle. Meine Seele und mein Körper waren beschmutzt und ich weinte. Meine Tränen sah niemand, der Regen wischte sie weg.
An der Haltestelle stand ein Bus mit geöffneten Türen und laufendem Motor. „Ich sah sie kommen und habe gewartet, jetzt muß ich aber los.“ Ich nickte dem Fahrer kurz zu und ließ mich auf einen Sitz fallen. Plötzlich saß der Fahrer neben mir. „Brauchen sie Hilfe, sie bluten, soll ich einen Arzt rufen?“ Jetzt sah ich mir den Fahrer genauer an, es war der nette junge Mann von vorhin. „Nein, lassen sie nur.“ Ich drehte den Kopf weg und meine Tränen flossen weiter. „Nach der Tour hab ich Feierabend, wenn sie wollen, gehe ich mit ihnen ins Krankenhaus.“ Um ihn los zu werden nickte ich. Ich mußte eingeschlafen sein. Eine fremde Hand lag auf meinem Arm und rüttelte mich sanft. Dann nahm mich jemand in den Arm und streichelte mein Haar. Jetzt erst merkte ich, daß ich schrie. „Alles wird gut, ich helfe ihnen. Bitte nicht weinen.“ Dieser Satz öffnete alle Pforten bei mir und ich weinte hemmungslos an der starken Schulter des Busfahrers. Nachdem ich mich etwas beruhigt hatte, war mir die ganze Sache sehr peinlich. Ich entschuldigte mich bei meinem Gegenüber. „Sie müssen sich nicht entschuldigen, kann ich sie nach Hause bringen oder zu einem Arzt?“ Ich sah mich um, der Bus war leer. Ziehmlich verlegen schaute mich der Fahrer an. „Ich habe jetzt Feierabend, kann ich etwas für sie tun?“ „Ich möchte nach Hause. Übrigens, ich heiße Barbara.“ „Und ich bin Bastian, aber alle sagen nur Basti.“ Ich reichte ihm die Hand. „Das gefällt mir Basti, laß uns Du sagen. Mich nennen die meißten Baba.“ Damit war erst mal alles gesagt. Basti sprach noch mit seinem Kollegen, der ihn ablöste. Dann traten wir gemeinsam den Heimweg an. Ich hatte mich soweit beruhigt, daß ich unterwegs erzählen konnte, was mir passiert war. Bastian war entsetzt. „Du mußt unbedingt zum Frauenarzt. Was, wenn er dich vergewaltigt hat? So ein Schwein! Von meinem Bruder die Frau ist Frauenärztin, ich rufe mal an, vielleicht dürfen wir gleich kommen.“ Wir durften. Es war alles in Ordnung. Er hatte mich nicht angerührt. Und meine Wunden hatte sie auch gleich versorgt.
Zu Hause rief ich erst mal bei Karin an und erfuhr, daß sie im dunkeln bei der Stromsperre gestürzt war und das Bewußtsein verloren hatte. Als sie später aufwachte, hatte sie Jan angerufen und sie waren beim Arzt. Dieser konnte aber nichts, als eine Beule am Kopf feststellen. Ich erzählte Karin nichts von meinem Erlebnis, nur fragte ich, wann sie Dienst hat und ob ich morgen zu ihr kommen kann. In der Zwischenzeit hatte mir Basti einen Tee gebrüht. Kurz darauf fielen mir die Augen zu und ich schlief elf lange Stunden. Bastian war weg, aber auf dem Tisch lag ein Zettel mit netten Grüßen und seine Telefonnummer.
Karin lief aufgeregt in ihrem Wohnzimmer auf und ab. Sie war wütend. So wütend hatte ich sie noch nie gesehen und sie gebrauchte die übelsten Schimpfwörter. „Du mußt das Schwein anzeigen, lass dir das nicht gefallen! Das ist Freiheitsberaubung und Nötigung, und sexueller Übergriff und was weiß ich noch alles.“ Ruckartig blieb sie stehen, strich wie abwesend über ihr Haar, kam zu mir auf die Couch und legte ihre Wange an meine. „Zeig ihn an, Jan und ich werden zu Dir stehen“, sagte sie nun mit sanfter Stimme. So saßen wir da und hingen unseren Gedanken nach als die Klingel schrillte. Es war Jan und Karin erzählte ihm schon im Flur, was passiert war. Nun saßen wir wieder mal zu Dritt auf Karins Couch. Jan war empört und er machte aus seinem Herzen keine Mördergrube. „Zeig ihn an, Baba, auch wenn es mein Vater ist.“ „Ich weiß nicht, Jan“, sagte ich, es ist immerhin Dein Vater. Willst Du nicht erst mal mit ihm reden? Anzeigen kann ich ihn immer noch, wenn er kein Einsehen hat.“ „Du hast ein großes Herz, Baba, ich werde gleich mit ihm reden. Vielen Dank.“ Er drückte mich flüchtig und verabschiedete sich von Karin. Sie begleitete ihn noch zur Tür und ging dann in die Küche. „Kommst Du Baba, ich hab noch einen Schluck Wein, der wird uns jetzt gut tun.“ Folgsam trottete ich hinterher und setzte mich in ihre gemütliche Essecke. Das Fenster war weit geöffnet und ein warmer Wind wehte herein. „Wir machen uns jetzt einen schönen Abend. Wenn Du willst, lege ich Dir die Karten.“ Aufeinmal mußte ich an Sira denken. Hatte die Hexe ihn nicht verflucht? War das alles nur Hokuspokus gewesen? So richtig hatte ich eh nicht daran geglaubt, wie sollte sowas auch funktionieren? „Sag mal Karin, hast Du Sira mal wieder gesehen? Ihr Fluch scheint nicht angekommen zu sein.“ Karin legte den Korkenzieher auf den Tisch und sah mich an. Erst jetzt bemerkte ich die Beule auf ihrer Stirn. „Du hast Recht, ich werde mal mit Sira reden, aber ob das was bringt?“ Sie sah mich zweifelnd an und schenkte den Wein ein. „Jan will sich nachher bei mir melden, sobald er mit seinem Vater gesprochen hat, ich warte erst mal, was er zu sagen hat.“ Wir stießen auf gute Freundschaft an und bald tat der Wein seine Wirkung. Die Sorgen waren vorerst verflogen.
Ich stand unter der Dusche. Das heiße Wasser prasselte angenehm auf meinen Körper und ich wollte den Hahn garnicht wieder zudrehen. Doch die Türklingel riss mich aus meiner Versenkung. Ich schlüpfte in meinen weichen Bademantel und ging vorsichtig aus dem Bad. Mein erster Gedanke war: Jans Vater. Dem würde ich auf keinen Fall öffnen, nicht mal, wenn ich angezogen wäre. Meine Uhr zeigte Sieben. „Wer ist da“, rief ich laut. „Bitte, Frau Herz, lassen Sie mich rein, es ist ein Notfall,“ Na, die Stimme kannte ich doch. Was will die Meyer hier so früh, hat sie wieder was zu meckern? Ich schlang mir das Handtuch um den Kopf und öffnete. Ehe ich etwas sagen konnte, war die gute Frau Meyer schon an mir vorbei und stiefelte in die Küche. „Frau Herz, Sie müssen mir unbedingt helfen, mein Enkelsohn heiratet und ich habe gestern Abend mein Brokatkleid anprobiert, es passt nicht mehr.“ Sie sah mich hilfesuchend an. „Die Hochzeit ist doch schon morgen.“ Jetzt konnte ich ihr endlich mal eins auswischen, der dummen Kuh. „Tut mir leid, Frau Meyer, ich bin total ausgebucht, da kann ich Ihnen wirklich nicht helfen.“ Sah ich da etwa Tränen? Ja! Dicke Tränen perlten über ihre geschminkten verrunzelten Wangen und tropften auf meinen Tisch. Jetzt tat sie mir leid und ich bereute, dass ich so schlecht über sie gedacht hatte. „Frau Meyer“, sagte ich mitfühlend, „ich habe doch so viele Aufträge, hätten Sie doch früher etwas gesagt.“ „Können Sie nicht mal eine Ausnahme machen, ich hab doch nichts anzuziehen, ich bin so dick geworden“, schluchzte sie. „Sie brauchen doch nur die Taille weiter machen, den Stoff können Sie aus dem Saum nehmen.“ Flehend und händeringend sah sie mich an. Ich rechnete kurz nach: Saum auftrennen, abschneiden, Saum schließen, reichlich eine Stunde. Seitenteile auftrennen, Abnäher zuschneiden, einnähen, umsäumen, noch eine reichliche Stunde. Dann bügeln.Wie sollte ich das schaffen? Drei Stunden zusätzlich, hieß, bis nach Mitternacht arbeiten. Ach, was solls! Schließlich hatte ich schon öfter bis spät in die Nacht genäht.