MysteriousFire
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Geschichtsexperiment (3) - Nicht von dieser Welt
26.12.2013 um 22:06Dritter Teil der Geschichte.
Nicht von dieser Welt
Eleanor verließ den Magierkreis weit unzufriedener, als sie erhoffte. Ihr Onkel besaß zwar die bessere Chance etwas über das Buch herauszufinden, aber sie wurde das Gefühl nicht los, dass sie einen Fehler begangen hatte. Sie wusste gleichermaßen auch, dass sie alleine nicht weitergekommen wäre – wie hätte sie ein Buch auch erforschen sollen, welches für sie als leer erschien?
Leider gab ihr weiterer Tagesplan keine Freiheiten für zusätzliche Überlegungen. Sie war auf dem Weg zur Stätte der Ruhe, dort war ihr wöchentlicher Termin mit ihrem Meditationslehrer. Ihr Onkel war der Drahtzieher dahinter. Er war der Überzeugung auf diesem Weg würde sie früher oder später über ihre Bestimmung stolpern. Seitdem ging sie zum Engel Castao und unternahm zusammen mit ihm Reisen in ihr Unterbewusstsein. Castao wartete wie immer bei Halle zwei auf sie. Er war einen Kopf größer als sie, hatte eine normale Statur, weiße Flügel und sah zumindest wie ein Mann mittleren Alters aus. Doch Eleanor wusste, sein Aussehen täuschte; Engel alterten wesentlich langsamer als die meisten anderen Wesen. Castao war vermutlich so alt, dass er theoretisch ihre ersten Vorfahren gekannt haben konnte. Immerhin war er ein anerkannter Meister, der speziell für die Weitergabe seiner Lehren direkt am Startpunkt der Bewohner Achenias nach Zealor kam. Seine Kleidung war locker leicht gehalten, ein weicher Mantel in tiefem Blau. Die Hallen der Stätte der Ruhe waren mit verfestigten Wolken ausgestattet, die Sitz- und Liegemöglichkeiten boten und dabei ziemlich bequem waren. Eleanor hatte anfangs richtig Probleme bei der Meditation auf den Wolken sitzend nicht einzuschlafen.
„Ich begrüße dich, Kind Eleanor. Fühlst du dich bereit, in die Tiefe deiner Selbst einzutauchen?“, begann Castao die übliche Frageformel. Er musste das fragen, damit die Freiwilligkeit seines Zugriffes ersichtlich war. Eleanor antwortete mit einem kurzen: „Ja“ und lief an ihm vorbei zu ihrem Sitzplatz. Er gesellte sich zu ihr, wenige Zentimeter von ihr entfernt und platzierte sich genau ihr gegenüber. Mit sanfter Stimme sprach er zu ihr: „Sag, Kind, geht es dir gut? Ein Blick in deine Augen und ich sehe einen Wirbel der Unruhe deine Gedanken malträtieren. Das ist neu, sehr frisch.“ Eleanor war sich nicht im Klaren, ob sie darüber reden wollte. Castao war eine ihrer vertrautesten Personen. Schließlich kannte er ihren Geist – und sie dadurch auch seinen. Er war rein in seinem Sein. Doch mit ihm über den Tod ihres ihr ohnehin fast unbekannten Vaters zu reden, war ein Akt Zeretath Platz in ihrem Leben einzuräumen. Um einen völlig fremden Mann zu trauern. Sie antwortete: „Nein, alles okay. Ich war nur in Gedanken.“ Ernst schaute er sie an. Sie wusste, jetzt durfte sie nicht mehr ausweichen. Er spürte ihre Unsicherheit. Behutsam sagte er: „Eleanor, wir kennen uns jetzt lange genug, dass du weißt wie ich mit Problemen umgehe. Ich erkenne und löse sie. Sei es deine Prüfungsangst oder dein verliebt pochendes Herz. Was unsere Seelen miteinander austauschen, das gehört uns. So sage mir, was hast du heute erlebt?“
Ein Moment der Stille trat ein, in der sie auf ihrer Lippe herum kaute. Castao war geduldig, ihm waren ihre nachdenklichen Pausen bekannt. Mit einem Augenschlag war sie wieder bewusst da und fing langsam an zu erzählen: „Mein Vater ist wie es aussieht gestorben und hat mir irgend so ein komisches Buch hinterlassen. Nichts Besonderes.“ Castao warf ein: „Besonders genug, dass es dir im Herzen Schmerzen bereitet – schlimmer als der junge Beneth vor einigen Monaten.“ Sie fühlte sich bei der Erwähnung ihres ehemaligen Schwarmes ertappt und wurde rot. Nicht aus Verliebtheit, sondern aus Scham nachdem Castao mit ihr ergründet hatte, welche Hintergründe ihre Gefühle hatten und es sich ergab, dass sie eigentlich gar keine Gefühle für ihn hegte – sondern dem Gruppenzwang folgte, weil alle anderen Mädchen ihn toll fanden. „Also“, setzte Castao nach. Jetzt war sie an der Reihe, er erwartete nun die Klarstellung ihrer Gefühlslage. Wehleidig meinte sie: „Ich kenne ihn nicht und werde es auch nie. Trotzdem habe ich sein Erbe erhalten und werde von ihm mit diesem Buch konfrontiert, ohne ein einziges Wort der Erklärung.“ Castao fragte nach: „Was ist das für ein Buch? Es löst in dir Fragen, aber auch Faszination aus.“ Es war immer wieder unheimlich für sie, wie er sie so einfach durchschaute. Andererseits war das auch entlastend, weil er ohnehin jede Regung sah und sie keinerlei Zwang besaß etwas zurück zu halten. „Das Buch lässt sich gar nicht so einfach erklären. Es besitzt keinerlei Hinweise auf seinen eigentlichen Nutzen. Von drei Leuten, die darin hinein sahen, sahen drei Leute etwas Anderes“, meinte sie. Akribisch fragte der Engel weiter: „Besaßen die unterschiedlichen Inhalte an einem Anhaltspunkt Gemeinsamkeiten?“ Eleanor musste nachdenken. Sie selbst sah darin nichts, ihr Onkel und Loree dagegen sahen Möglichkeiten um in den Rängen aufzusteigen. Castao nahm ihre Hände und legte sie in seine. Sie blickte auf.
Castao sprach: „Lass uns einen Blick auf deine Eindrücke zu dem Buch werfen. Die gesuchte Antwort mag in einem Detail liegen und wie deine Seele beschaffen ist, hast du sicherlich mehr enträtselt, als dir bis hierhin bewusst ist.“ Etwas überrumpelt schloss sie die Augen. Sie spürte bereits, wie sich das Licht des Engels anbahnte. Zusammen mit Klängen so herrlich, dass sie jedes Mal enttäuscht war, wenn er sich wieder zurück zog. Seine Präsenz weckte, wie er sagte, durch seine heilsame Energie wohltuende Wahrnehmungen. Manche Leute hörten Glockenklänge, rochen den Duft von frischen Blumen oder glaubten eine geliebte Person in ihrer Nähe zu haben. Bei Eleanor waren es Klänge, man konnte sie als Musik bezeichnen, aber das traf es nicht ganz. Castao selbst war begeistert gewesen, da er meinte sie wäre sehr nahe dran seine natürliche Gestalt zu erkennen, was etwa auf eine entfernte Abstammung eines mächtigen Engels oder einem großen Talent unverzerrte Einblicke zu erhalten, hindeutete.
Der Engel war nun da, in Form einer großen Lichtkugel mit ausgebreiteten Flügeln. Seine echten Flügel hatten sich sanft um ihren Körper geschmiegt. Abgeschottet von allen äußerlichen Abdrücken, aber völlig zwanglos, geborgen. Er sprach mit für sie hypnotisierender Wirkung: „Gewähre mir die Erinnerung an das Buch Zeretaths.“ Sie dachte zurück und holte die Bilder vor Augen in denen sie das Buch zusammen mit Loree durchblätterte. Schweigend besahen sich die Meditierenden die Szene. Nach wie vor sah Eleanor nur leere Seiten in nichtssagendem Einband. Sie hörte den Engel sagen: „Eleanor, schau dir nochmal an, wie du das Buch öffnest und achte darauf, was du tust.“ Sie verstand nicht ganz, was er damit meinte – aber wiederholte die Szene. Erst sah sie den Einband mit dem Rubin, dann klappte sie es auf – leere Seiten. „Nochmal“, forderte Castao. Schon etwas irritiert besah sie sich dem Geschehen, diesmal aber verlangsamt, mit direktem Blick aufs Buch und mit Konzentration auf ihr eigenes Empfinden. Plötzlich war es ziemlich schwer, die Erinnerung fortfahren zu lassen während sie das Buch aufklappte. Ihr kam diese Situation bekannt vor. Castao bestätigte sie fragend: „Erkennst du es?“
Ja, sie begriff es nun. Wie zuvor als sie Scheinliebe für Beneth empfand, hatte sie unbemerkt von sich selbst eine Blockade in ihrer Seele errichtet. Sie hatte sich von den echten Eindrücken abgekoppelt und sich eine neue Wahrnehmung geschaffen. Schon dort war die Lösung gewesen, dies zu erkennen und die Blockade, die ihr wahres Befinden filterte, aufzulösen. Triumphierend fragte sie Castao: „Soll ich sie entfernen?“ Dieser antwortete typisch passiv: „Wenn du dich bereit dafür fühlst. Du weißt am besten, ob deine Seele dafür jetzt offener ist, als zum Zeitpunkt als du dir den Filter gesetzt hast.“ Sie überlegte kurz. Vermutlich hatte sie sich blockiert, weil die plötzliche Nachricht ihres toten Vaters damit in Verbindung stand. Ein Schock, der durch den Inhalt des Buches vielleicht noch vertieft worden wäre. Doch jetzt, jetzt war sie sich dem schon bewusster. Sie trug zwar noch Trauer in sich, aber die Neugier über den wahren Inhalt des Buches – oder zumindest der Version, die sie sah – obsiegte und da sie ihren Gefühlen statt ihrem Verstand zuhören sollte…
„Ich machs!“, erklang ihre Stimme schrill in ihrem Kopf, etwas enthusiastischer, als beabsichtigt. „Gut, du weißt, im Notfall greife ich ein“, versicherte ihr Castao. Ermutigt begann sie sich auf das Buch in seiner Form und Ausstrahlung zu konzentrieren. Ein großes Abbild des Buches entstand in ihren Gedanken. Der Schleier um das Buch, welche ihre Blockade darstellte – wurde sichtbar. Ihre Energien sammelten sich und sie setzte sie mit dem Gedanken frei, bereit und gefestigt zu sein. Der wabernde Schleier klarte sich zum einfachen Nebel auf. Als Nächstes betrachtete sie das Buch eingehend und legte ihre Aufmerksamkeit voll auf den Rubin darauf. Er war schön, aber sie spürte, dass er etwas vor ihr verbarg. „Zeige dich!“, flüsterte sie ihm energisch zu. Erst tat sich nichts, doch dann wurde ein Flackern innerhalb des Rubins deutlich. Castaos Stimme erklang zaghaft in ihren Ohren: „Sei wachsam, da nähert sich etwas Machtvolles im Verborgenen.“ Sie ignorierte diese Anmerkung, denn das Flackern wurde mit jeder Wiederholung ihres Befehls stärker und füllte den Stein immer weiter aus. Sie fühlte ein ihr eigentlich fremdes Gefühl. Schwierig zu umfassen, noch schwerer es zu umschreiben. Nein, es war einfach: Heimat.
Sie verstand das eigentlich nicht. Schon ihr ganzes Leben verbrachte sie in Zealor, aber dieses Gefühl von echter Heimat war ihr neu. Nochmals meldete sich Castao: „Das ist beunruhigend, dieses Gefühl… Nicht von dieser Welt. Ich kenne es, aber wie kommt es hierhin?“ Das erste Mal überhaupt seit Eleanor den Engel kannte, empfand sie seine Bemerkung einfach nur nervtötend. Sie wollte den Rubin in seiner Gänze strahlend sehen, fühlen, in ihre Seele aufnahmen. Der Rubin tat ihr den Gefallen, das Flackern ging über in ein kräftiges Rotlicht. „Eleanor!“, Castao schrie, wie sie ihn nie gehört hatte. Das Buch schlug sich selbst offen und für einen Bruchteil eines Moments schoss ihr glühendes, pures, energetisches Licht entgegen. Ehe der erste Strahl sie erreichen konnte, warf sich Castao dazwischen. Kraftvoll, ja Eleanors Seele erschütternd schlug er seine Flügel mitsamt seinen Händen nach vorne zusammen und das Buch klappte zu. Ein grausamer Schrei kam vom Engel, das Buch wurde wieder von Schleiern umgeben – schlimmer, es versank in absoluter Dunkelheit. Castao setzte eine von ihm als Meister persönliche Blockade. So mächtig, dass das blockierte Element aus Eleanors Gedächtnis gelöscht wurde. Sie wusste nicht mehr, was sie gerade gesehen hatte. Überhaupt wurden in diesem Moment alle Erinnerungen an das Buch verschüttet.
Castao riss sich aus ihrem Verstand und auch sie keuchte hustend auf. Desorientiert schnappte sie nach Luft. Ihr war nicht mehr klar, was genau passiert war – nur, dass Castao einen massiven Eingriff auf sie durchgeführt hatte. Sie hörte Castao vor ihr unter Schmerzen aufstehen. Eleanor zwang sich aufzusehen; Castaos Körper wurde von Zuckungen geschüttelt, seine Flügel fingen von innenheraus Feuer! Mit zusammengebissenen Zähnen und hellleuchtenden Augen zischte er: „Pure Kraft aus der Geisterwelt. Es enthält die Macht der anderen Welt!“ Er versuchte näher an sie zu treten, nur mit großer Mühe bekam er einen Fuß vor den anderen. Vor ihren Füßen brach er auf die Knie herunter. Eleanor war unter Angst erstarrt. Sie wusste nicht, was hier passierte. Mehrfach versuchte sich Castao zusammen zu reißen, ihr mehr zu sagen. Narben durchzogen seinen Körper, sein Gesicht. Er wurde von innen zerrissen, zerfressen, zerschnitten, zerstört. Das passte alles nicht in Eleanors Verstand, er war ein MEISTER, wie konnte ihm etwas in ihrer Seele so etwas antun? Was hatten sie gesehen?
Er ergriff ihre Hand: „Du musst die Energie zurücknehmen! Deine Seele kennt das Muster! Sie gehört dir, du hältst sie länger aus. Nimm sie ZURÜCK!“ Sie begriff nicht, doch das war auch nicht nötig. Seine andere Hand drückte er mit Zeige- und Mittelfinger auf ihre Stirn.
Ehe sie auch nur ansatzweise die Situation begriff, verlagerte der sterbende Engel die aufgenommene Kraft zurück in sie. Er war nicht fähig, es direkt zurück in die verborgene Quelle zu schicken, sie musste in Eleanors Seele selbst fließen. Ihm war bewusst, das arme Mädchen damit zu überfordern und gegebenenfalls ihren Tod zu verschulden. Seine Hoffnung aber, war auch sein Trost; Sie war stark, sie war fähig das auszuhalten und klug genug zu überleben. Im Gegensatz zu ihm, seine Seelenstruktur war von den wenigen Sekunden vollständig zerschossen. Er hielt seinen Körper nur noch gerade eben zusammen. Die Transferierung war vollendet. Ein letztes Mal sprach er zu ihr: „Schlaf“ und beförderte ihren Geist und ihren Körper damit in einen langen Traum, in dem ihre Seele Zeit hatte, ihr Energielevel an die zugeführte Macht anzupassen. Sie würde nahezu als Göttin wieder aufwachen.
Er dagegen atmete schwer und tief, taumelte ein paar Schritte von dem selig auf den Wolken schlafenden Mädchen zurück – und sein Körper zerstäubte zu weniger als Asche, einzig sein angekokelter Mantel fiel zu Boden. Als letztes Zeugnis, eines vergangenen Meisters.
Nicht von dieser Welt
Eleanor verließ den Magierkreis weit unzufriedener, als sie erhoffte. Ihr Onkel besaß zwar die bessere Chance etwas über das Buch herauszufinden, aber sie wurde das Gefühl nicht los, dass sie einen Fehler begangen hatte. Sie wusste gleichermaßen auch, dass sie alleine nicht weitergekommen wäre – wie hätte sie ein Buch auch erforschen sollen, welches für sie als leer erschien?
Leider gab ihr weiterer Tagesplan keine Freiheiten für zusätzliche Überlegungen. Sie war auf dem Weg zur Stätte der Ruhe, dort war ihr wöchentlicher Termin mit ihrem Meditationslehrer. Ihr Onkel war der Drahtzieher dahinter. Er war der Überzeugung auf diesem Weg würde sie früher oder später über ihre Bestimmung stolpern. Seitdem ging sie zum Engel Castao und unternahm zusammen mit ihm Reisen in ihr Unterbewusstsein. Castao wartete wie immer bei Halle zwei auf sie. Er war einen Kopf größer als sie, hatte eine normale Statur, weiße Flügel und sah zumindest wie ein Mann mittleren Alters aus. Doch Eleanor wusste, sein Aussehen täuschte; Engel alterten wesentlich langsamer als die meisten anderen Wesen. Castao war vermutlich so alt, dass er theoretisch ihre ersten Vorfahren gekannt haben konnte. Immerhin war er ein anerkannter Meister, der speziell für die Weitergabe seiner Lehren direkt am Startpunkt der Bewohner Achenias nach Zealor kam. Seine Kleidung war locker leicht gehalten, ein weicher Mantel in tiefem Blau. Die Hallen der Stätte der Ruhe waren mit verfestigten Wolken ausgestattet, die Sitz- und Liegemöglichkeiten boten und dabei ziemlich bequem waren. Eleanor hatte anfangs richtig Probleme bei der Meditation auf den Wolken sitzend nicht einzuschlafen.
„Ich begrüße dich, Kind Eleanor. Fühlst du dich bereit, in die Tiefe deiner Selbst einzutauchen?“, begann Castao die übliche Frageformel. Er musste das fragen, damit die Freiwilligkeit seines Zugriffes ersichtlich war. Eleanor antwortete mit einem kurzen: „Ja“ und lief an ihm vorbei zu ihrem Sitzplatz. Er gesellte sich zu ihr, wenige Zentimeter von ihr entfernt und platzierte sich genau ihr gegenüber. Mit sanfter Stimme sprach er zu ihr: „Sag, Kind, geht es dir gut? Ein Blick in deine Augen und ich sehe einen Wirbel der Unruhe deine Gedanken malträtieren. Das ist neu, sehr frisch.“ Eleanor war sich nicht im Klaren, ob sie darüber reden wollte. Castao war eine ihrer vertrautesten Personen. Schließlich kannte er ihren Geist – und sie dadurch auch seinen. Er war rein in seinem Sein. Doch mit ihm über den Tod ihres ihr ohnehin fast unbekannten Vaters zu reden, war ein Akt Zeretath Platz in ihrem Leben einzuräumen. Um einen völlig fremden Mann zu trauern. Sie antwortete: „Nein, alles okay. Ich war nur in Gedanken.“ Ernst schaute er sie an. Sie wusste, jetzt durfte sie nicht mehr ausweichen. Er spürte ihre Unsicherheit. Behutsam sagte er: „Eleanor, wir kennen uns jetzt lange genug, dass du weißt wie ich mit Problemen umgehe. Ich erkenne und löse sie. Sei es deine Prüfungsangst oder dein verliebt pochendes Herz. Was unsere Seelen miteinander austauschen, das gehört uns. So sage mir, was hast du heute erlebt?“
Ein Moment der Stille trat ein, in der sie auf ihrer Lippe herum kaute. Castao war geduldig, ihm waren ihre nachdenklichen Pausen bekannt. Mit einem Augenschlag war sie wieder bewusst da und fing langsam an zu erzählen: „Mein Vater ist wie es aussieht gestorben und hat mir irgend so ein komisches Buch hinterlassen. Nichts Besonderes.“ Castao warf ein: „Besonders genug, dass es dir im Herzen Schmerzen bereitet – schlimmer als der junge Beneth vor einigen Monaten.“ Sie fühlte sich bei der Erwähnung ihres ehemaligen Schwarmes ertappt und wurde rot. Nicht aus Verliebtheit, sondern aus Scham nachdem Castao mit ihr ergründet hatte, welche Hintergründe ihre Gefühle hatten und es sich ergab, dass sie eigentlich gar keine Gefühle für ihn hegte – sondern dem Gruppenzwang folgte, weil alle anderen Mädchen ihn toll fanden. „Also“, setzte Castao nach. Jetzt war sie an der Reihe, er erwartete nun die Klarstellung ihrer Gefühlslage. Wehleidig meinte sie: „Ich kenne ihn nicht und werde es auch nie. Trotzdem habe ich sein Erbe erhalten und werde von ihm mit diesem Buch konfrontiert, ohne ein einziges Wort der Erklärung.“ Castao fragte nach: „Was ist das für ein Buch? Es löst in dir Fragen, aber auch Faszination aus.“ Es war immer wieder unheimlich für sie, wie er sie so einfach durchschaute. Andererseits war das auch entlastend, weil er ohnehin jede Regung sah und sie keinerlei Zwang besaß etwas zurück zu halten. „Das Buch lässt sich gar nicht so einfach erklären. Es besitzt keinerlei Hinweise auf seinen eigentlichen Nutzen. Von drei Leuten, die darin hinein sahen, sahen drei Leute etwas Anderes“, meinte sie. Akribisch fragte der Engel weiter: „Besaßen die unterschiedlichen Inhalte an einem Anhaltspunkt Gemeinsamkeiten?“ Eleanor musste nachdenken. Sie selbst sah darin nichts, ihr Onkel und Loree dagegen sahen Möglichkeiten um in den Rängen aufzusteigen. Castao nahm ihre Hände und legte sie in seine. Sie blickte auf.
Castao sprach: „Lass uns einen Blick auf deine Eindrücke zu dem Buch werfen. Die gesuchte Antwort mag in einem Detail liegen und wie deine Seele beschaffen ist, hast du sicherlich mehr enträtselt, als dir bis hierhin bewusst ist.“ Etwas überrumpelt schloss sie die Augen. Sie spürte bereits, wie sich das Licht des Engels anbahnte. Zusammen mit Klängen so herrlich, dass sie jedes Mal enttäuscht war, wenn er sich wieder zurück zog. Seine Präsenz weckte, wie er sagte, durch seine heilsame Energie wohltuende Wahrnehmungen. Manche Leute hörten Glockenklänge, rochen den Duft von frischen Blumen oder glaubten eine geliebte Person in ihrer Nähe zu haben. Bei Eleanor waren es Klänge, man konnte sie als Musik bezeichnen, aber das traf es nicht ganz. Castao selbst war begeistert gewesen, da er meinte sie wäre sehr nahe dran seine natürliche Gestalt zu erkennen, was etwa auf eine entfernte Abstammung eines mächtigen Engels oder einem großen Talent unverzerrte Einblicke zu erhalten, hindeutete.
Der Engel war nun da, in Form einer großen Lichtkugel mit ausgebreiteten Flügeln. Seine echten Flügel hatten sich sanft um ihren Körper geschmiegt. Abgeschottet von allen äußerlichen Abdrücken, aber völlig zwanglos, geborgen. Er sprach mit für sie hypnotisierender Wirkung: „Gewähre mir die Erinnerung an das Buch Zeretaths.“ Sie dachte zurück und holte die Bilder vor Augen in denen sie das Buch zusammen mit Loree durchblätterte. Schweigend besahen sich die Meditierenden die Szene. Nach wie vor sah Eleanor nur leere Seiten in nichtssagendem Einband. Sie hörte den Engel sagen: „Eleanor, schau dir nochmal an, wie du das Buch öffnest und achte darauf, was du tust.“ Sie verstand nicht ganz, was er damit meinte – aber wiederholte die Szene. Erst sah sie den Einband mit dem Rubin, dann klappte sie es auf – leere Seiten. „Nochmal“, forderte Castao. Schon etwas irritiert besah sie sich dem Geschehen, diesmal aber verlangsamt, mit direktem Blick aufs Buch und mit Konzentration auf ihr eigenes Empfinden. Plötzlich war es ziemlich schwer, die Erinnerung fortfahren zu lassen während sie das Buch aufklappte. Ihr kam diese Situation bekannt vor. Castao bestätigte sie fragend: „Erkennst du es?“
Ja, sie begriff es nun. Wie zuvor als sie Scheinliebe für Beneth empfand, hatte sie unbemerkt von sich selbst eine Blockade in ihrer Seele errichtet. Sie hatte sich von den echten Eindrücken abgekoppelt und sich eine neue Wahrnehmung geschaffen. Schon dort war die Lösung gewesen, dies zu erkennen und die Blockade, die ihr wahres Befinden filterte, aufzulösen. Triumphierend fragte sie Castao: „Soll ich sie entfernen?“ Dieser antwortete typisch passiv: „Wenn du dich bereit dafür fühlst. Du weißt am besten, ob deine Seele dafür jetzt offener ist, als zum Zeitpunkt als du dir den Filter gesetzt hast.“ Sie überlegte kurz. Vermutlich hatte sie sich blockiert, weil die plötzliche Nachricht ihres toten Vaters damit in Verbindung stand. Ein Schock, der durch den Inhalt des Buches vielleicht noch vertieft worden wäre. Doch jetzt, jetzt war sie sich dem schon bewusster. Sie trug zwar noch Trauer in sich, aber die Neugier über den wahren Inhalt des Buches – oder zumindest der Version, die sie sah – obsiegte und da sie ihren Gefühlen statt ihrem Verstand zuhören sollte…
„Ich machs!“, erklang ihre Stimme schrill in ihrem Kopf, etwas enthusiastischer, als beabsichtigt. „Gut, du weißt, im Notfall greife ich ein“, versicherte ihr Castao. Ermutigt begann sie sich auf das Buch in seiner Form und Ausstrahlung zu konzentrieren. Ein großes Abbild des Buches entstand in ihren Gedanken. Der Schleier um das Buch, welche ihre Blockade darstellte – wurde sichtbar. Ihre Energien sammelten sich und sie setzte sie mit dem Gedanken frei, bereit und gefestigt zu sein. Der wabernde Schleier klarte sich zum einfachen Nebel auf. Als Nächstes betrachtete sie das Buch eingehend und legte ihre Aufmerksamkeit voll auf den Rubin darauf. Er war schön, aber sie spürte, dass er etwas vor ihr verbarg. „Zeige dich!“, flüsterte sie ihm energisch zu. Erst tat sich nichts, doch dann wurde ein Flackern innerhalb des Rubins deutlich. Castaos Stimme erklang zaghaft in ihren Ohren: „Sei wachsam, da nähert sich etwas Machtvolles im Verborgenen.“ Sie ignorierte diese Anmerkung, denn das Flackern wurde mit jeder Wiederholung ihres Befehls stärker und füllte den Stein immer weiter aus. Sie fühlte ein ihr eigentlich fremdes Gefühl. Schwierig zu umfassen, noch schwerer es zu umschreiben. Nein, es war einfach: Heimat.
Sie verstand das eigentlich nicht. Schon ihr ganzes Leben verbrachte sie in Zealor, aber dieses Gefühl von echter Heimat war ihr neu. Nochmals meldete sich Castao: „Das ist beunruhigend, dieses Gefühl… Nicht von dieser Welt. Ich kenne es, aber wie kommt es hierhin?“ Das erste Mal überhaupt seit Eleanor den Engel kannte, empfand sie seine Bemerkung einfach nur nervtötend. Sie wollte den Rubin in seiner Gänze strahlend sehen, fühlen, in ihre Seele aufnahmen. Der Rubin tat ihr den Gefallen, das Flackern ging über in ein kräftiges Rotlicht. „Eleanor!“, Castao schrie, wie sie ihn nie gehört hatte. Das Buch schlug sich selbst offen und für einen Bruchteil eines Moments schoss ihr glühendes, pures, energetisches Licht entgegen. Ehe der erste Strahl sie erreichen konnte, warf sich Castao dazwischen. Kraftvoll, ja Eleanors Seele erschütternd schlug er seine Flügel mitsamt seinen Händen nach vorne zusammen und das Buch klappte zu. Ein grausamer Schrei kam vom Engel, das Buch wurde wieder von Schleiern umgeben – schlimmer, es versank in absoluter Dunkelheit. Castao setzte eine von ihm als Meister persönliche Blockade. So mächtig, dass das blockierte Element aus Eleanors Gedächtnis gelöscht wurde. Sie wusste nicht mehr, was sie gerade gesehen hatte. Überhaupt wurden in diesem Moment alle Erinnerungen an das Buch verschüttet.
Castao riss sich aus ihrem Verstand und auch sie keuchte hustend auf. Desorientiert schnappte sie nach Luft. Ihr war nicht mehr klar, was genau passiert war – nur, dass Castao einen massiven Eingriff auf sie durchgeführt hatte. Sie hörte Castao vor ihr unter Schmerzen aufstehen. Eleanor zwang sich aufzusehen; Castaos Körper wurde von Zuckungen geschüttelt, seine Flügel fingen von innenheraus Feuer! Mit zusammengebissenen Zähnen und hellleuchtenden Augen zischte er: „Pure Kraft aus der Geisterwelt. Es enthält die Macht der anderen Welt!“ Er versuchte näher an sie zu treten, nur mit großer Mühe bekam er einen Fuß vor den anderen. Vor ihren Füßen brach er auf die Knie herunter. Eleanor war unter Angst erstarrt. Sie wusste nicht, was hier passierte. Mehrfach versuchte sich Castao zusammen zu reißen, ihr mehr zu sagen. Narben durchzogen seinen Körper, sein Gesicht. Er wurde von innen zerrissen, zerfressen, zerschnitten, zerstört. Das passte alles nicht in Eleanors Verstand, er war ein MEISTER, wie konnte ihm etwas in ihrer Seele so etwas antun? Was hatten sie gesehen?
Er ergriff ihre Hand: „Du musst die Energie zurücknehmen! Deine Seele kennt das Muster! Sie gehört dir, du hältst sie länger aus. Nimm sie ZURÜCK!“ Sie begriff nicht, doch das war auch nicht nötig. Seine andere Hand drückte er mit Zeige- und Mittelfinger auf ihre Stirn.
Ehe sie auch nur ansatzweise die Situation begriff, verlagerte der sterbende Engel die aufgenommene Kraft zurück in sie. Er war nicht fähig, es direkt zurück in die verborgene Quelle zu schicken, sie musste in Eleanors Seele selbst fließen. Ihm war bewusst, das arme Mädchen damit zu überfordern und gegebenenfalls ihren Tod zu verschulden. Seine Hoffnung aber, war auch sein Trost; Sie war stark, sie war fähig das auszuhalten und klug genug zu überleben. Im Gegensatz zu ihm, seine Seelenstruktur war von den wenigen Sekunden vollständig zerschossen. Er hielt seinen Körper nur noch gerade eben zusammen. Die Transferierung war vollendet. Ein letztes Mal sprach er zu ihr: „Schlaf“ und beförderte ihren Geist und ihren Körper damit in einen langen Traum, in dem ihre Seele Zeit hatte, ihr Energielevel an die zugeführte Macht anzupassen. Sie würde nahezu als Göttin wieder aufwachen.
Er dagegen atmete schwer und tief, taumelte ein paar Schritte von dem selig auf den Wolken schlafenden Mädchen zurück – und sein Körper zerstäubte zu weniger als Asche, einzig sein angekokelter Mantel fiel zu Boden. Als letztes Zeugnis, eines vergangenen Meisters.