MysteriousFire
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Geschichtsexperiment (2) - Ein vererbtes Rätsel
25.12.2013 um 21:21Der zweite Teil zum Geschichtsexperiment, diesmal wie verlangt mit etwas ausführlicherer Architekturbeschreibung, wenn auch dabei sehr karg gehalten - ändert sich im Verlauf der Geschichte aber sicher noch.
Ein vererbtes Rätsel
Unschlüssig drückte Eleanor ihren Rücken gegen den Türrahmen. Sie war verängstigt. Zwar war das Verhältnis zu ihrem Vater nie gut – es existierte eigentlich einfach kein Verhältnis – die Aussicht, dass ihr Vater tot sein sollte jagte ihr dennoch einen abartigen Schauer durch jedes ihrer Glieder. Loree sah sie besorgt an: „Ele…?“ Ihre Freundin war sichtlich verunsichert, was sie tun sollte. Schließlich kam sie zu Eleanor und nahm sie unbeholfen in den Arm. Das Mädchen nahm diesen Trost dankbar entgegen und nun war alles zu spät; Sie heulte sich an ihre Freundin klammernd unter lautem Schluchzen aus.
Ihr war selbst nicht klar, was sie so traurig stimmte; Ihr Vater war im Gegensatz zu ihrer Mutter nach ihrer Geburt nicht nach Zealnor gegangen, sondern behielt seinen Posten in der Stadt der Meisterschaft. Es kam niemals zum Kontakt zwischen ihnen. Stattdessen sah sich ihr Onkel, der den vierten Sitz in der Stadt besetzte als verantwortlich, als eine Vaterfigur einzuspringen. Sie war sich in all den Jahren nie sicher gewesen, ob ein solcher Ersatzvater besser als Einer, der sich einfach nicht interessierte war – aber eine Wahl blieb ihr ohnehin nicht. Jetzt war er aber nicht einfach nur außerhalb ihres Lebens, sondern endgültig fort.
Allmählich beruhigte sie sich und mit noch leicht zittriger Hand, wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht. Loree schaute sie noch immer besorgt an, aber Eleanor sagte: „Was bin ich doch ein einfältiges Ding. Ich kannte ihn doch gar nicht.“ Sie zog ihre Nase hoch und schaute mit verquollenen Augen zum Päckchen: „Was immer mir da geschickt wurde, es wird sowieso nichts Persönliches sein. Also gut, schauen wir uns das näher an.“ Sie ging gefolgt von Loree auf den Schreibtisch zu und besah sich des Zettels genauer. Flüsternd las sie ihn erneuet: „Absender ist die dunkle Faust. Ich habe das schon einmal gehört, ich weiß nur nicht mehr, in welchem Zusammenhang zu meinem Vater. Es könnte einer seiner vielen eigenen Spitznamen sein oder aber auch eine Organisation in der er tätig war.“ Sie hielt kurz inne. Es war ein seltsames Gefühl in der Vergangenheit über ihn zu sprechen. Trotz des nie vorhandenen Kontaktes – er hatte durch seine Taten in der Ferne dennoch einen Eindruck in ihrem Leben hinterlassen. Es schmerzte ihr im Herzen, dass dies jetzt Geschichte war. Gleichzeitig stieg in ihr ein neuerlicher Groll gegen ihn auf, jetzt nach seinem Tod, ausgerechnet jetzt und auf diese Weiseverstrickte er sie mit in seine Angelegenheiten. Eleanor hätte den Zettel und das Buch am liebsten einfach trotz wieder eingepackt und an den Absender zurück geschickt – sollten sich doch seine wahren Vertrauten um das hier kümmern!
Doch etwas unbestimmbar Dringliches in ihrer Seele drängte ihr auf, das zu reißen drohende Schicksalsband zwischen ihm und ihr – so unscheinbar es war – zu ergreifen. Mit einem Schnauben zog sie das Buch zu sich heran. Es war in Leder eingebunden, die Seiten selbst waren aus sehr unbeugsamem Material gefertigt. Das Buch lag etwas schief, wodurch ein paar Seiten am Rand hervor lugten. Sie waren gelblich, man sah dem Buch sein Alter an. Der Einband gab leider gar keine Rückschlüsse auf den Inhalt, es war bloß auf der Vorderseite ein Rubin mit einem eingravierten Symbol zu sehen, welches Eleanor nicht einzuordnen vermochte. Sie schlug es auf.
Nichts. Die Seiten waren leer. Verwirrt guckte sie Loree an, die neben ihr stand. „Was soll der Mist? Wollte mir mein Vater zu guter Letzt noch einmal seine absolute Missgunst mitteilen?“, empörte sie sich sauer. Loree bekam dagegen große Augen und zu Eleanors Verwunderung blätterte ihre Freundin um und starrte fasziniert auf die leeren Seiten. Eleanor harkte unsicher nach: „Ähm, Loree? Was ist an leeren, vergilbten Seiten so interessant?“ Ungläubig blickte ihre Freundin sie an: „Was meinst du damit? Wieso leer? Diese Seiten dürften doch wohl der ultimative Liebesbeweis deines Vaters an dich sein.“
Entgeistert sah Eleanor sie an: „WAS?!“ Mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht eröffnete Loree: „Dieses Buch enthält offensichtlich eine Anleitung auf unverschämt schnellem Weg über ein einzelnes, naturgebundenes Ritual zum zweiten Hauptsitz in der Stadt der Meisterschaft zu werden!“ Eleanor klappte die Kinnlade herunter, mit ungläubig offenem Mund sah sie ihre Freundin an. Loree wechselte zwischen Eleanor und dem Buch Blicke und sagte nochmals wie zur eigenen Absicherung: „Das ist doch ganz klar ersichtlich. Hier zum Beispiel steht, wie du an Drachentränen kommst. Die brauchst du scheinbar, um die nötige Mixtur anzureichern.“ Ihr Finger wanderte auf eine Stelle ungefähr mittig auf einer der Seiten. Eleanor beugte sich über. Sie konzentrierte sich auf die vom Finger aufgezeigte Stelle – es blieb dabei, da stand für sie nichts. Kopfschüttelnd warf sie ihre Haare zurück in den Nacken. Loree spekulierte: „Vielleicht ist das nur für Magier zu sehen, die bereit dazu sind.“ Stirnrunzelnd besah Eleanor ihre Freundin. Diese konterte die wortlose Kritik: „Hey, ich bin immerhin schon höher eingestuft als du, was spricht dagegen, dass ich dadurch eher geeignet bin?“
Seufzend wandte Eleanor sich ab und strich sich genervt durchs Haar: „Wie auch immer, ich kann damit nichts anfangen. Für mich ist es ein leeres, altes, modriges Buch.“ Loree frohlockte schon: „Dann darf ich es haben?“ Nachdenklich zögerte Eleanor. Sie entschied: „Ich werde es besser einmal meinem Onkel zeigen, vielleicht weiß er damit was anzufangen.“ Als sie jedoch das erloschene Lächeln ihrer Freundin bemerkte, ergänzte sie: „Sollte er daran kein Interesse finden, kannst du es dann gerne haben.“ Schon strahlte Loree wieder. „Du bist die Beste!“, rief sie und umarmte Eleanor stürmisch. „Und wenn ich dann die Frau an der Spitze bin, hol ich dich als dritten Sitz nach“, zwinkerte sie ihr zu, als sie sich voneinander lösten. Eleanor lehnte geschmeichelt ab: „Nein, so eine Stellung ist nichts für mich. Ich kenne meine Bestimmung zwar noch nicht, aber ich bin mir sicher, es ist kein Sitz - egal in welchem Kreis.“ Mitfühlend sah Loree sie an: „Okay, du findest deinen Platz noch – wo immer das sein mag, als Viertensprößling.“ Eleanor verzog eine Miene. Dann mussten beide Mädchen laut auflachen.
„Gut, also du bringst das Buch erst einmal zu deinem Onkel. Das erledigst du am besten sofort, ich will nicht allzu lange darauf warten meinen Sitz zu bekommen“, scherzelte Loree. Sie hatte allerdings Recht, Eleanor meinte auch, das besser heute als morgen zu erledigen. Sollte sich das Buch doch noch als wertlos entpuppen, war die Enttäuschung für Loree wenigstens nicht so groß. Loree klappte das Buch zu und übergab es wie einen Schatz mit festem Griff in beiden Händen an Eleanor. Eleanor umfasste das Buch. Da geschah es:
Eine so vorher noch nicht verspürte Energie raste durch ihren Geist und rasend schnelle Bilder sausten an ihrem geistigen Auge vorbei; Eine Stadt, deren Türme weit in den Himmel ragten, breite Gebäude mit runden Kuppeln. Überdachte Gänge mit massiven Säulen oben und unten mit goldverziert, ein großer Fluss von Leuten in beide Richtungen dadurch. Dann ein neues Bild, Greife so groß wie Panther mit Reißzähnen statt Schnäbeln und aggressiv mit den Krallen nach ihr ausholend. Im nächsten Moment wieder ein harmonischer Anblick von einer großen Bibliothek und alten und neuen Werken, lernende Magier in meditativer Haltung. Ein Ortswechsel, ein gigantischer Palast erhebte sich im Zentrum einer monopolitischen Städtelandschaft mit abertausenden kleinen Gebäuden. Der Palast lag auf dem Fuße eines Berges, der von unten so ausgehöhlt wirkte, als hebe er den Palast in den Himmel. Schließlich sah sie ein Tor. Ganz ähnlich riesig wie zuvor der Palast. Auf dem Tor waren sieben Symbole eingelassen, doch nur noch zwei davon waren tatsächlich aktiv. Die beiden obersten Symbole als große Kugel in das Tor eingefasst waren hervorgehoben, die anderen fünf Symbolkugeln wirkten wie ins Tor eingedrückt und im Gegensatz zu den hervorgehobenen Kugeln ergraut. Die oberste Kugel leuchtet rot, die untere grün. Eleanor verspürte beträchtliche Ehrfurcht bei diesem Anblick. Dann ein letztes Bild – sie sah sich selbst! Viele Jahre älter, in einer aus goldener Seide gewebter Magiertracht. Um sie herum hüpften Wesenheiten, die sehr den niederen Dämonen ähnelten. Einer hüpfte auf sie zu – und wurde von einem Feuerball, den sie auf ihrer Handfläche bildete und mehr Magie beinhaltete, als Eleanor überhaupt im Körper trug, niedergestreckt.
Schwer atmend zog sie ihre Hand von dem Buch weg, dass beiden Mädchen entglitt und zu Boden fiel. „WAS VERDAMMT, WAR DAS?!“, stöhnte Eleanor, schwer mit sich am kämpfen. Loree sah sie perplex an: „Was war was?“ Geschwächt und durcheinander setzte sich Eleanor auf ihr Bett. Nachdem sie ihre Atmung wieder unter Kontrolle bekam, fragte sie nach: „Du hast nichts von dem gerade bemerkt?“ Loree schüttelte nichts verstehend den Kopf. Eleanor massierte sich ihren Nacken und betrachtete das am Boden liegende Buch: „Ich werde dieses Ding besser sofort los.“
Loree ignorierend, die aus Eleanors Verhalten ebenso wenig die Welt verstand, wie sie selbst aus dem Gesehenen, nahm sie das Buch und hetzte die Treppe hinab und aus dem Haus raus in Richtung Magierkreis. Ihre Freundin kam rufend hinter ihr her: „Was hast du denn jetzt vor?“ Eleanor antwortete genervt über ihre Schulter zurückrufend: „Da was ich gesagt habe, ich gebe meinem Onkel das Buch!“ So stakste sie im Eilschritt durch die Stadt und geradewegs auf das runde Gebäude mit dem schmalgehaltenem Eingang zu. Der Magierkreis war wie jedes andere Gebäude nicht gerade mit Farben oder kreativ Schaffen gezeichnet worden. Es war einfach bloß ein rundes Etwas in grau – ausgenommen von einer streifenartigen Vertiefung um das Haus und einer kleinen magischen Kugel auf der Spitze. Die Vertiefung war bloß Verzierung, die Kugel dagegen eine Art telepathischer Verstärker um den anderen Städtesitzen eine Kommunikationshilfe zu bieten. Das war wohl gerade bei sehr komplexen Diskussionen wichtig. Jedenfalls marschierte Eleanor strammen Schrittes durch den Eingang, die Barriere dahinter durchdrang sie und mit einem kurzen Kribbeln war sie im Magierkreis drin. Die Sitzung war ähnlich nutzenorientiert, wie das Äußere es vermuten ließ. Ein schmaler Gang führte links und rechts in unterschiedliche Nebenräume und insgesamt vier weitere Durchgänge – jeweils einer in einer Himmelsrichtung – ermöglichte einen Blick beziehungsweise den Zutritt zu einem runden Tisch um den insgesamt sechs karge Stühle verteilt standen in der Mitte der Kuppel. Eleanor wandte sich nach rechts. Die Nebenräume dienten als Arbeitszimmer des jeweiligen Sitzes und waren im Uhrzeigersinn verteilt, sie fand ihren Onkel also im zweiten Raum von rechts.
Die Tür stand offen und sie sah ihren Onkel über Dokumente gebeugt an seinem Tisch sitzen. Sie räusperte sich. Mir gedankenversunkenem Gesicht wischte er sich seine weißen, langen Haare aus dem Sichtfeld und wurde sich seines Besuches bewusst. „Was willst du denn?“, fragte er hart und direkt wie fast immer. Sie kam direkt auf den Punkt, wie er es stets verlangte: „Mein Vater ist tot und hat mir dieses komische Buch hinterlassen. Ich werde daraus nicht schlüssig. Für mich wirkt es leer und wertlos, aber Loree hat – “ Er unterbrach sie: „Zeig her!“ und entriss ihr das Buch. Seine Augen wanderten über die Seiten, die für Eleanor nach wie vor leer aussahen. Auch er bekam wie zuvor Loree große Augen: „Was sagtest du, was dein Vater damit bezweckte?“ Sie erwiderte: „Ich, ich weiß nicht. Das Buch ergibt für mich keinen Sinn und bis auf eine Notiz, dass es von der „dunklen Faust“ kam, war nichts dabei.“ Ihr Onkel holte seine Nickelbrille hervor und warf ihr nebensächlich einen seiner akribischen Blicke zu. Sowas tat er zu gerne, manchmal fragte sie sich, ob er sie noch für ein Kind hielt, dass ihm täglich nur Märchen erzählte – zum Glück sah sie ihn gar nicht täglich. Wieder widmete er sich begierig den leeren Buchseiten.
Nach fünfmaligem durchblättern, legte er nachdenklich einen Finger auf seine Unterlippen und tippelte damit auf ihr herum. „Dieses Dokument ist höchst suspekt. Ich verstehe nicht, warum dein Vater in seiner Position die Lösungen für das Aufstreben zum Meister protokolliert und aus dem Palast geschmuggelt haben sollte“, grübelte er. Eleanor runzelte die Stirn, auch ihr Onkel sah in diesem Buch eine andere Thematik, aber gleichermaßen brisant wie zuvor Loree. Sie resignierte: „Meine Freundin Loree las in dem Buch eine Ritualbeschreibung um zum zweiten Hauptsitz zu werden, ist davon darin irgendetwas erwähnt?“ Ihr Onkel schnalzte mit der Zunge und bemühte sich gar nicht erst, nachzusehen: „Ach, Loree. Dieses Mädchen ist wohl nicht ganz gescheit. So ein Ritual gibt es überhaupt nicht, sonst würden sich ja ständig irgendwelche Frauen um den Sitz streiten. Mal davon abgesehen, dass die Sitze im Magierkreis grundsätzlich gewählten werden. Etwa von den Magiern innerhalb des bereits bestehenden Kreises oder durch ein Schicksalszeichen von beweisführender Aussagekraft. Sich selbst durch ein Ritual auszuwählen – völliger Blödsinn.“
Er nahm seinen Finger von der Lippe und tippte nun auf dem aufgeschlagenen Buch weiter. An sie gerichtet sagte er: „Ich werde das Buch hier behalten und es genauer untersuchen. Wenn dieses Buch ernsthaft den Prüfungsweg zum Meister offenbart muss das der Magierkreis in der Stadt der Meisterschaft erfahren. Es könnte durchaus sein, dass dir dein Vater hiermit sein Lebenswerk vermacht hat. Er war immerhin selbst als Meister immer der Rebell an vorderster Front gewesen und dem Magierkreis mit einem sozusagen erschmuggelten Aufstieg zum Meister in die Quere zu kommen wäre, genau seinem Vermächtniswunsch entsprechend. Sein Wille, weiterlebend in einem Buch an seine Tochter vererbt. Lass besser die Finger von diesem Erbe, es kann dir nur Unheil bringen.“
Zwar ärgerte es sie, dass er die Tatsache mit dem unterschiedlichen Inhalt des Buches je nach Leser einfach beiseiteschob – aber er wusste vermutlich besser als sie, was zu tun war. Immerhin war er selbst fast Meister geworden, wäre er nicht als junger Mann bei einer unzulässigen Energiebeschwörungszeremonie gefasst worden. Er hatte das Glück zu dieser Zeit schon als Schüler des dritten Sitzes in der Stadt des Fortschrittes zu gelten. Damit entkam er schlimmeren Konsequenzen, aber sein Weg zum Meister war damit beendet und so kehrte er als gebrochener Mann nach Zealor zurück und wurde dort als vierter Sitz aufgenommen.
Sie sagte noch: „Sollte sich noch etwas mit dem Buch ergeben, möchte ich das wissen. Loree will das von ihr gelesene ausprobieren.“ Ein verächtlicher Grunzer musste ihr als Antwort reichen. Dann beschloss sie zu gehen.
Ein vererbtes Rätsel
Unschlüssig drückte Eleanor ihren Rücken gegen den Türrahmen. Sie war verängstigt. Zwar war das Verhältnis zu ihrem Vater nie gut – es existierte eigentlich einfach kein Verhältnis – die Aussicht, dass ihr Vater tot sein sollte jagte ihr dennoch einen abartigen Schauer durch jedes ihrer Glieder. Loree sah sie besorgt an: „Ele…?“ Ihre Freundin war sichtlich verunsichert, was sie tun sollte. Schließlich kam sie zu Eleanor und nahm sie unbeholfen in den Arm. Das Mädchen nahm diesen Trost dankbar entgegen und nun war alles zu spät; Sie heulte sich an ihre Freundin klammernd unter lautem Schluchzen aus.
Ihr war selbst nicht klar, was sie so traurig stimmte; Ihr Vater war im Gegensatz zu ihrer Mutter nach ihrer Geburt nicht nach Zealnor gegangen, sondern behielt seinen Posten in der Stadt der Meisterschaft. Es kam niemals zum Kontakt zwischen ihnen. Stattdessen sah sich ihr Onkel, der den vierten Sitz in der Stadt besetzte als verantwortlich, als eine Vaterfigur einzuspringen. Sie war sich in all den Jahren nie sicher gewesen, ob ein solcher Ersatzvater besser als Einer, der sich einfach nicht interessierte war – aber eine Wahl blieb ihr ohnehin nicht. Jetzt war er aber nicht einfach nur außerhalb ihres Lebens, sondern endgültig fort.
Allmählich beruhigte sie sich und mit noch leicht zittriger Hand, wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht. Loree schaute sie noch immer besorgt an, aber Eleanor sagte: „Was bin ich doch ein einfältiges Ding. Ich kannte ihn doch gar nicht.“ Sie zog ihre Nase hoch und schaute mit verquollenen Augen zum Päckchen: „Was immer mir da geschickt wurde, es wird sowieso nichts Persönliches sein. Also gut, schauen wir uns das näher an.“ Sie ging gefolgt von Loree auf den Schreibtisch zu und besah sich des Zettels genauer. Flüsternd las sie ihn erneuet: „Absender ist die dunkle Faust. Ich habe das schon einmal gehört, ich weiß nur nicht mehr, in welchem Zusammenhang zu meinem Vater. Es könnte einer seiner vielen eigenen Spitznamen sein oder aber auch eine Organisation in der er tätig war.“ Sie hielt kurz inne. Es war ein seltsames Gefühl in der Vergangenheit über ihn zu sprechen. Trotz des nie vorhandenen Kontaktes – er hatte durch seine Taten in der Ferne dennoch einen Eindruck in ihrem Leben hinterlassen. Es schmerzte ihr im Herzen, dass dies jetzt Geschichte war. Gleichzeitig stieg in ihr ein neuerlicher Groll gegen ihn auf, jetzt nach seinem Tod, ausgerechnet jetzt und auf diese Weiseverstrickte er sie mit in seine Angelegenheiten. Eleanor hätte den Zettel und das Buch am liebsten einfach trotz wieder eingepackt und an den Absender zurück geschickt – sollten sich doch seine wahren Vertrauten um das hier kümmern!
Doch etwas unbestimmbar Dringliches in ihrer Seele drängte ihr auf, das zu reißen drohende Schicksalsband zwischen ihm und ihr – so unscheinbar es war – zu ergreifen. Mit einem Schnauben zog sie das Buch zu sich heran. Es war in Leder eingebunden, die Seiten selbst waren aus sehr unbeugsamem Material gefertigt. Das Buch lag etwas schief, wodurch ein paar Seiten am Rand hervor lugten. Sie waren gelblich, man sah dem Buch sein Alter an. Der Einband gab leider gar keine Rückschlüsse auf den Inhalt, es war bloß auf der Vorderseite ein Rubin mit einem eingravierten Symbol zu sehen, welches Eleanor nicht einzuordnen vermochte. Sie schlug es auf.
Nichts. Die Seiten waren leer. Verwirrt guckte sie Loree an, die neben ihr stand. „Was soll der Mist? Wollte mir mein Vater zu guter Letzt noch einmal seine absolute Missgunst mitteilen?“, empörte sie sich sauer. Loree bekam dagegen große Augen und zu Eleanors Verwunderung blätterte ihre Freundin um und starrte fasziniert auf die leeren Seiten. Eleanor harkte unsicher nach: „Ähm, Loree? Was ist an leeren, vergilbten Seiten so interessant?“ Ungläubig blickte ihre Freundin sie an: „Was meinst du damit? Wieso leer? Diese Seiten dürften doch wohl der ultimative Liebesbeweis deines Vaters an dich sein.“
Entgeistert sah Eleanor sie an: „WAS?!“ Mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht eröffnete Loree: „Dieses Buch enthält offensichtlich eine Anleitung auf unverschämt schnellem Weg über ein einzelnes, naturgebundenes Ritual zum zweiten Hauptsitz in der Stadt der Meisterschaft zu werden!“ Eleanor klappte die Kinnlade herunter, mit ungläubig offenem Mund sah sie ihre Freundin an. Loree wechselte zwischen Eleanor und dem Buch Blicke und sagte nochmals wie zur eigenen Absicherung: „Das ist doch ganz klar ersichtlich. Hier zum Beispiel steht, wie du an Drachentränen kommst. Die brauchst du scheinbar, um die nötige Mixtur anzureichern.“ Ihr Finger wanderte auf eine Stelle ungefähr mittig auf einer der Seiten. Eleanor beugte sich über. Sie konzentrierte sich auf die vom Finger aufgezeigte Stelle – es blieb dabei, da stand für sie nichts. Kopfschüttelnd warf sie ihre Haare zurück in den Nacken. Loree spekulierte: „Vielleicht ist das nur für Magier zu sehen, die bereit dazu sind.“ Stirnrunzelnd besah Eleanor ihre Freundin. Diese konterte die wortlose Kritik: „Hey, ich bin immerhin schon höher eingestuft als du, was spricht dagegen, dass ich dadurch eher geeignet bin?“
Seufzend wandte Eleanor sich ab und strich sich genervt durchs Haar: „Wie auch immer, ich kann damit nichts anfangen. Für mich ist es ein leeres, altes, modriges Buch.“ Loree frohlockte schon: „Dann darf ich es haben?“ Nachdenklich zögerte Eleanor. Sie entschied: „Ich werde es besser einmal meinem Onkel zeigen, vielleicht weiß er damit was anzufangen.“ Als sie jedoch das erloschene Lächeln ihrer Freundin bemerkte, ergänzte sie: „Sollte er daran kein Interesse finden, kannst du es dann gerne haben.“ Schon strahlte Loree wieder. „Du bist die Beste!“, rief sie und umarmte Eleanor stürmisch. „Und wenn ich dann die Frau an der Spitze bin, hol ich dich als dritten Sitz nach“, zwinkerte sie ihr zu, als sie sich voneinander lösten. Eleanor lehnte geschmeichelt ab: „Nein, so eine Stellung ist nichts für mich. Ich kenne meine Bestimmung zwar noch nicht, aber ich bin mir sicher, es ist kein Sitz - egal in welchem Kreis.“ Mitfühlend sah Loree sie an: „Okay, du findest deinen Platz noch – wo immer das sein mag, als Viertensprößling.“ Eleanor verzog eine Miene. Dann mussten beide Mädchen laut auflachen.
„Gut, also du bringst das Buch erst einmal zu deinem Onkel. Das erledigst du am besten sofort, ich will nicht allzu lange darauf warten meinen Sitz zu bekommen“, scherzelte Loree. Sie hatte allerdings Recht, Eleanor meinte auch, das besser heute als morgen zu erledigen. Sollte sich das Buch doch noch als wertlos entpuppen, war die Enttäuschung für Loree wenigstens nicht so groß. Loree klappte das Buch zu und übergab es wie einen Schatz mit festem Griff in beiden Händen an Eleanor. Eleanor umfasste das Buch. Da geschah es:
Eine so vorher noch nicht verspürte Energie raste durch ihren Geist und rasend schnelle Bilder sausten an ihrem geistigen Auge vorbei; Eine Stadt, deren Türme weit in den Himmel ragten, breite Gebäude mit runden Kuppeln. Überdachte Gänge mit massiven Säulen oben und unten mit goldverziert, ein großer Fluss von Leuten in beide Richtungen dadurch. Dann ein neues Bild, Greife so groß wie Panther mit Reißzähnen statt Schnäbeln und aggressiv mit den Krallen nach ihr ausholend. Im nächsten Moment wieder ein harmonischer Anblick von einer großen Bibliothek und alten und neuen Werken, lernende Magier in meditativer Haltung. Ein Ortswechsel, ein gigantischer Palast erhebte sich im Zentrum einer monopolitischen Städtelandschaft mit abertausenden kleinen Gebäuden. Der Palast lag auf dem Fuße eines Berges, der von unten so ausgehöhlt wirkte, als hebe er den Palast in den Himmel. Schließlich sah sie ein Tor. Ganz ähnlich riesig wie zuvor der Palast. Auf dem Tor waren sieben Symbole eingelassen, doch nur noch zwei davon waren tatsächlich aktiv. Die beiden obersten Symbole als große Kugel in das Tor eingefasst waren hervorgehoben, die anderen fünf Symbolkugeln wirkten wie ins Tor eingedrückt und im Gegensatz zu den hervorgehobenen Kugeln ergraut. Die oberste Kugel leuchtet rot, die untere grün. Eleanor verspürte beträchtliche Ehrfurcht bei diesem Anblick. Dann ein letztes Bild – sie sah sich selbst! Viele Jahre älter, in einer aus goldener Seide gewebter Magiertracht. Um sie herum hüpften Wesenheiten, die sehr den niederen Dämonen ähnelten. Einer hüpfte auf sie zu – und wurde von einem Feuerball, den sie auf ihrer Handfläche bildete und mehr Magie beinhaltete, als Eleanor überhaupt im Körper trug, niedergestreckt.
Schwer atmend zog sie ihre Hand von dem Buch weg, dass beiden Mädchen entglitt und zu Boden fiel. „WAS VERDAMMT, WAR DAS?!“, stöhnte Eleanor, schwer mit sich am kämpfen. Loree sah sie perplex an: „Was war was?“ Geschwächt und durcheinander setzte sich Eleanor auf ihr Bett. Nachdem sie ihre Atmung wieder unter Kontrolle bekam, fragte sie nach: „Du hast nichts von dem gerade bemerkt?“ Loree schüttelte nichts verstehend den Kopf. Eleanor massierte sich ihren Nacken und betrachtete das am Boden liegende Buch: „Ich werde dieses Ding besser sofort los.“
Loree ignorierend, die aus Eleanors Verhalten ebenso wenig die Welt verstand, wie sie selbst aus dem Gesehenen, nahm sie das Buch und hetzte die Treppe hinab und aus dem Haus raus in Richtung Magierkreis. Ihre Freundin kam rufend hinter ihr her: „Was hast du denn jetzt vor?“ Eleanor antwortete genervt über ihre Schulter zurückrufend: „Da was ich gesagt habe, ich gebe meinem Onkel das Buch!“ So stakste sie im Eilschritt durch die Stadt und geradewegs auf das runde Gebäude mit dem schmalgehaltenem Eingang zu. Der Magierkreis war wie jedes andere Gebäude nicht gerade mit Farben oder kreativ Schaffen gezeichnet worden. Es war einfach bloß ein rundes Etwas in grau – ausgenommen von einer streifenartigen Vertiefung um das Haus und einer kleinen magischen Kugel auf der Spitze. Die Vertiefung war bloß Verzierung, die Kugel dagegen eine Art telepathischer Verstärker um den anderen Städtesitzen eine Kommunikationshilfe zu bieten. Das war wohl gerade bei sehr komplexen Diskussionen wichtig. Jedenfalls marschierte Eleanor strammen Schrittes durch den Eingang, die Barriere dahinter durchdrang sie und mit einem kurzen Kribbeln war sie im Magierkreis drin. Die Sitzung war ähnlich nutzenorientiert, wie das Äußere es vermuten ließ. Ein schmaler Gang führte links und rechts in unterschiedliche Nebenräume und insgesamt vier weitere Durchgänge – jeweils einer in einer Himmelsrichtung – ermöglichte einen Blick beziehungsweise den Zutritt zu einem runden Tisch um den insgesamt sechs karge Stühle verteilt standen in der Mitte der Kuppel. Eleanor wandte sich nach rechts. Die Nebenräume dienten als Arbeitszimmer des jeweiligen Sitzes und waren im Uhrzeigersinn verteilt, sie fand ihren Onkel also im zweiten Raum von rechts.
Die Tür stand offen und sie sah ihren Onkel über Dokumente gebeugt an seinem Tisch sitzen. Sie räusperte sich. Mir gedankenversunkenem Gesicht wischte er sich seine weißen, langen Haare aus dem Sichtfeld und wurde sich seines Besuches bewusst. „Was willst du denn?“, fragte er hart und direkt wie fast immer. Sie kam direkt auf den Punkt, wie er es stets verlangte: „Mein Vater ist tot und hat mir dieses komische Buch hinterlassen. Ich werde daraus nicht schlüssig. Für mich wirkt es leer und wertlos, aber Loree hat – “ Er unterbrach sie: „Zeig her!“ und entriss ihr das Buch. Seine Augen wanderten über die Seiten, die für Eleanor nach wie vor leer aussahen. Auch er bekam wie zuvor Loree große Augen: „Was sagtest du, was dein Vater damit bezweckte?“ Sie erwiderte: „Ich, ich weiß nicht. Das Buch ergibt für mich keinen Sinn und bis auf eine Notiz, dass es von der „dunklen Faust“ kam, war nichts dabei.“ Ihr Onkel holte seine Nickelbrille hervor und warf ihr nebensächlich einen seiner akribischen Blicke zu. Sowas tat er zu gerne, manchmal fragte sie sich, ob er sie noch für ein Kind hielt, dass ihm täglich nur Märchen erzählte – zum Glück sah sie ihn gar nicht täglich. Wieder widmete er sich begierig den leeren Buchseiten.
Nach fünfmaligem durchblättern, legte er nachdenklich einen Finger auf seine Unterlippen und tippelte damit auf ihr herum. „Dieses Dokument ist höchst suspekt. Ich verstehe nicht, warum dein Vater in seiner Position die Lösungen für das Aufstreben zum Meister protokolliert und aus dem Palast geschmuggelt haben sollte“, grübelte er. Eleanor runzelte die Stirn, auch ihr Onkel sah in diesem Buch eine andere Thematik, aber gleichermaßen brisant wie zuvor Loree. Sie resignierte: „Meine Freundin Loree las in dem Buch eine Ritualbeschreibung um zum zweiten Hauptsitz zu werden, ist davon darin irgendetwas erwähnt?“ Ihr Onkel schnalzte mit der Zunge und bemühte sich gar nicht erst, nachzusehen: „Ach, Loree. Dieses Mädchen ist wohl nicht ganz gescheit. So ein Ritual gibt es überhaupt nicht, sonst würden sich ja ständig irgendwelche Frauen um den Sitz streiten. Mal davon abgesehen, dass die Sitze im Magierkreis grundsätzlich gewählten werden. Etwa von den Magiern innerhalb des bereits bestehenden Kreises oder durch ein Schicksalszeichen von beweisführender Aussagekraft. Sich selbst durch ein Ritual auszuwählen – völliger Blödsinn.“
Er nahm seinen Finger von der Lippe und tippte nun auf dem aufgeschlagenen Buch weiter. An sie gerichtet sagte er: „Ich werde das Buch hier behalten und es genauer untersuchen. Wenn dieses Buch ernsthaft den Prüfungsweg zum Meister offenbart muss das der Magierkreis in der Stadt der Meisterschaft erfahren. Es könnte durchaus sein, dass dir dein Vater hiermit sein Lebenswerk vermacht hat. Er war immerhin selbst als Meister immer der Rebell an vorderster Front gewesen und dem Magierkreis mit einem sozusagen erschmuggelten Aufstieg zum Meister in die Quere zu kommen wäre, genau seinem Vermächtniswunsch entsprechend. Sein Wille, weiterlebend in einem Buch an seine Tochter vererbt. Lass besser die Finger von diesem Erbe, es kann dir nur Unheil bringen.“
Zwar ärgerte es sie, dass er die Tatsache mit dem unterschiedlichen Inhalt des Buches je nach Leser einfach beiseiteschob – aber er wusste vermutlich besser als sie, was zu tun war. Immerhin war er selbst fast Meister geworden, wäre er nicht als junger Mann bei einer unzulässigen Energiebeschwörungszeremonie gefasst worden. Er hatte das Glück zu dieser Zeit schon als Schüler des dritten Sitzes in der Stadt des Fortschrittes zu gelten. Damit entkam er schlimmeren Konsequenzen, aber sein Weg zum Meister war damit beendet und so kehrte er als gebrochener Mann nach Zealor zurück und wurde dort als vierter Sitz aufgenommen.
Sie sagte noch: „Sollte sich noch etwas mit dem Buch ergeben, möchte ich das wissen. Loree will das von ihr gelesene ausprobieren.“ Ein verächtlicher Grunzer musste ihr als Antwort reichen. Dann beschloss sie zu gehen.