Dieser Text war neulich in der "Express-Online" zu Lesen verfasst von einem Stadtbahnfahrer der Kölner Verkehrsbetriebe. Er beschreibt einen Unfall mit einem Kind, der Mitte diesen Jahres geschah, aus der Sicht des Fahrers. Lesenswert weil sehr "Intensiv" geschrieben.

Begriffserklärung:
Rasselglocke= Das klassische Straßenbahnläuten.
Sollwertgeber= Der Steuerhebel. Nach vorn=Fahren, Nach hinten= Bremsen

Der Zug – er ist 60 Meter lang, 2,65 Meter breit, 100 Tonnen schwer. Etwa dreihundert Menschen hinter dir haben dir ihr Leben anvertraut, und das weißt du auch. 100 Tonnen auf zwölf Achsen – du kennst alle Daten dieses Gefährts und auch um die Gefahr, die von ihm ausgehen kann.
Arnulfstraße: Theoretisch darfst du hier auf 60 km/h beschleunigen, auf dieser malerischen Luxemburger Straße, aber das tust du nie, weil du dann einfach zu stark verzögern musst, um vernünftig in die Haltestellen zu kommen, und außerdem: Hier stehen zu viele Bäume direkt neben den Gleisen, und wer oder was sich dahinter verbirgt, das siehst du nicht. Die Sonne kommt kaum durch die sommerlichen Blätter der Bäume. Du machst reichlich von deiner Rasselglocke gebrauch.
Du bist noch vielleicht 30 km/h schnell, und es sind vielleicht noch 30 Meter bis an die Bahnsteigkante. Dein Signal zeigt „Fahrt“, die Fußgänger haben „ROT“ , als sich von rechts ein Vorderrad zwischen Bäumen, Laternen und Drängelgitter durchschiebt. Nein, es schiebt nicht, es fährt.
ER fährt, ein schmales Kerlchen, vielleicht so alt wie dein Sohn. Er schaut zur anderen Seite, er will wohl mit der anderen 18 in die Stadt, oder einfach nur mal schnell rüber... Jetzt denkst du nicht mehr.
Du funktionierst. Du reißt den Sollwertgeber nach hinten in den roten Bereich; Gefahrenbremsung. Es ruckt zum ersten Mal gewaltig durch die 100 Tonnen: Zwölf brutale Scheibenbremsen packen zu, die Motoren mit ihren 1300 PS arbeiten jetzt als Generatoren und bremsen mit, Sand fällt vor die Räder, um den lächerlichen Reibwert zwischen Stahlrädern und Schienen ein bisschen zu erhöhen, zwölf starke Magnete knallen mit jeweils neun Tonnen Druck auf die Schienen, um wenigstens zu versuchen, sich gegen die unbarmherzige Physik zu stemmen; mit aller Gewalt.

Die enorme Masse deines Zuges schiebt unaufhaltsam vorwärts und gibt dir die brutale Gewissheit, dass es diesmal nicht passen wird.
Weil jetzt deine Rasselglocke automatisch und alarmierend unnachlässig läutet, bemerkt dich der Junge, zu dem du vielleicht noch acht Meter Abstand hast. Er dreht sich erschrocken um, du schaust in entsetzte Kinderaugen, nur Bruchteile einer Sekunde...
Ein dumpfer Schlag, und wie ausgeblendet verschwindet er im nächsten Wimpernschlag am unteren Rand deiner Frontscheibe, das Fahrrad knirscht über den Überweg, dann noch ein Schlag, ein Hopsen des ersten Drehgestells, du hörst grauenvolles Knacken, der dem Schrei des Kindes folgt. Mit einem letzten, Ruck kommt der Zug zum Stehen. Es stinkt nach Bremse, der feine Bremssand hüllt die Szenerie in wüstengleichen Staub. Stille.
Du schaust in die entsetzten Gesichter am Bahnsteig. Hinter dir beginnt Gemurmel; vielleicht ist auch in deinem Zug jemand gestürzt. Du drückst die rote Taste an deinem Bordrechner. Das ist dein Notruf. In der Leitstelle werden Tassen abgestellt und Brote zur Seite gelegt. Hier hat jetzt jeder eine Hand am Telefon. Einer von ihnen spricht dich an: „18/11, sie senden Unfallruf.“ Du antwortest mechanisch: „Tünnes (Funkrufname der Leitstelle, Anm. d. Red.), stehe Arnulfstraße Richtung Bonn. Ich habe ein Kind überfahren...“
Die Leitstelle entlockt dir noch ein paar Angaben, die auch die Feuerwehr und Polizei für eine vernünftige Einsatzeröffnung brauchen. Schon nach einer Minute wird der erste Löschzug zu dir unterwegs sein; eventuell hörst du schon nach wenigen Augenblicken den ersten Streifenwagen zügig durch den rasch entstandenen Stau pflügen. Mittlerweile haben sich einige Passanten ein Herz gefasst und krabbeln unter deinen Zug, um dem Kind zu helfen.
Meist schaut bei so etwas nur noch ein Fuß heraus zwischen tonnenweise Stahl. Alles kommt dir ewig lang vor, obwohl sich später zeigen wird, dass die Feuerwehr schon drei, vier Minuten nach deinem Notruf ankam. Du sackst zusammen.
30 Meter. Es hat nicht gepasst…



p.s. Der Junge hat überlebt.