Quasi von Anfang an wurde zum Hobbit von Flores nicht nur ein krankhafter Sapiens oder ein Erectus-Typ diskutiert, sondern auch eine Abspaltung von einer noch früheren Homininen-Art, von Habilis oder sogar von einer Australopithecus-Spezies. Das ist nicht neu. Schon damals wurde auf besonders urtümliche Merkmale im postkranialen Skelett (alles unterhalb des Kraniums, des Schädels) hingewiesen, besonders der Extremitäten. Die jüngste Studie bezieht sich hauptsächlich auf die Auswertung dieser Knochen.
Die Einschätzung, daß "99 Prozent" gegen Erectus sprechen (Koautor Mike Lee), teile ich jedoch nicht; schließlich umfaßt der Schädel deutlich mehr als 1% des Skeletts, und ausgerechnet hier spricht doch viel für einen Erectus und gegen einen Habilis.
Daß den afrikanischen Kontinent nicht nur der Sapiens verlassen hat, ist nun wahrlich nichts Neues. Schließlich ist der europäische Neandertaler die am frühesten erkannte Vormenschenform. Und Eugene Dubois ging Ende des 19.Jh. ganz gezielt nach Java, um dort den "Pithecanthropus", den mutmaßlichen Affenmenschen zu finden. Klar, zum Neandertaler dachte man allerdings auch noch, der Mensch könne sich in Europa aus demTierreich erhoben haben, und Dubois hielt Java für ein Überbleibsel von Lemuria, dem damals favorisierten Entstehungsort des Menschen. ABer als Europa und Lemuria als Hominisationsort wegfielen, war klar, daß Neandertaler und Erectus Migranten aus Afrika waren. AUch der Homo antecessor war ein Afrika-Auswanderer, der Heidelbergensis war einer, und schließlich entdeckte man im georgischen Dmanisi sogar fast zwei Millionen Jahre alte Knochen vom Homo georgicus, einer Früh- oder Vorform des Erectus-Typs. Der Heidelbergensis übrigens lebte sowohl in Afrika als auch in Europa, und wie es ausschaut, haben diese Teilpopulationen mehrere Jahrhunderttausende lang ihre Gene miteinander vermengt, bis dies vor 500.000 Jahren etwa aufhörte und allmählich in Afrika daraus der Sapiens und in Europa daraus der Neandertalensis wurden. Der zentralasiatische Dmanisi-Mensch wiederum ist mit dem Neandertaler enger verwandt als mit dem Sapiens, er hat wohl vor allem Erbgut gemein mit dem spanischen Vorfahren des Neandertalers von Atapuerca. Seit zwei Millionen Jahren also ist der Mensch bzw. seine Forfahrenlinie "kosmopolitisch" veranlagt. Das ist also nichts Neues.
Neu ist es allerdings, wenn schon frühere Homininen so agil gewesen wären. Also der Homo habilis oder gar ein Australopithecine. Naja, ganz so neu auch wieder nicht. In den Jahrzehnten des 20.Jh., in denen man schon den Australopithecus kannte, aber noch nicht Ardipithecus, Kenyanthropus platyops und Orrorin tugeniensis, machte man sich große Sorgen um die riesige Lücke, die zwischen Australopithecus und den Menschenaffen klaffte im Fossilbefund. Man reaktivierte sogar eine noch ältere Auffassung von sogenannten Wasseraffen und modifizierte sie so, daß die Australopithecus-Vorfahren am Meer bzw. im Wasser lebte. Fossilien gebe es halt nicht, aber das erkläre das Längenwachstum, den aufrechten Gang, die menschliche Hautfettschicht, unsere "Schwimmflossen" (die kleinen Hautfältchen, die beim Spreizen der Finger dazwischen entstehen)... Vor allem paßte dazu ein Fund in Pakistan, der Ramapithecus. Der wurde als früher Menschenvorfahr gehandelt, und via Wasseraffen sei der dann nach Afrika gelangt. Klar, bald wußte man, daß Ramapithecus in die Vorfahrenlinie von Orang Utan gehört, aber immerhin hielt man kontinentüberschreitende Menschenvorfahren für möglich, und für ne Weile quasi für belegt.
Nochmal zum Dmanisimenschen, dem Homo georgicus. Ich weiß zwar nicht, wie grad der Stand der Dinge ist, aber anfangs hielt man ihn für einen schlichten, wenn auch frühen, urtümlichen Homo erectus. Freilich war er früher und urtümlicher als sämtliche sonstigen Erectus-Funde, die wir haben. Sowohl asiatische Erectusse als auch afrikanische, die sich von den asiatischen ein wenig unterscheiden und deswegen von manchen als eigenständige Art Homo ergaster geführt werden. Deswegen kam schon früh der Verdacht auf, eine frühe Menschenform habe Afrika verlassen, der Homo georgicus oder sein Vorfahr, und sei von hier aus nach Asien sowie zurück nach Afrika gewandert, wo dann jeweils der Homo erectus und der Homo ergaster draus geworden seien. So ist der Name des Homo georgicus mittlerweile "Homo erectus ergaster georgicus".
Spannend am Dmanisimenschen ist auch seine phänotypische VIelfalt. Von den fünf Schädeln mit für einen Erectus/Ergaster noch untypisch kleinen Schädelvolumen sieht kein Schädel aus wie ein anderer. Erinnert der eine Schädel an einen Erectus, sieht der nächste wie ein Habilis aus oder ein bißchen wie ein Australopithecus. Hier schlugen dann schnell die "Lumper" zu und werteten das als einen Sieg gegen die "Splitter". Während die Splitter eine neue Homininenspezies nach der anderen konstruieren, halten sich die Lumper mit der Artenzahl arg zurück und sprechen lieber von individuellen, zuweilen regionalen Merkmalsausbildungen. Eben wie beim Homo georgicus.
Persönlich denke ich, der Georgicus ist eine Art "Übergangsform" wie etwa der Heidelbergensis. Seine Anatomie vermittelt zwischen einer früheren Menschenspezies und einer bzw. zwei späteren Spezies, welche über längere Zeit anatomisch recht sabil blieben - nur eben diese Übergangsform nicht. Aus den afrikanischen Heidelbergensis-Schädeln kann man geradezu ein "Daumenkino" basteln und "zusehen", wie aus dem afrikanischen Erectus (Ergaster) der Homo sapiens wird. Und vergleichbar sieht man an den Dmanisischädeln quasi alle Übergänge von einem Habilis zum asiatischen Erectus bzw. zum afrikanischen Pendant.
Was dann freilich wirklich bedeutet: den afrikanischen Kontinent hat nicht der Erectus/Ergaster als erstes verlassen, sondern eine frühere Menschenform. Der Homo habilis oder der Homo rudolfensis (weitere Menschenformen zwischen Australopithecus und dem Erectus-Typen sind jedenfalls (noch) keine bekannt; zwei sehr alte Funde aus Äthiopien sind außer zu "Homo" noch nicht eindeutig zuordenbar). In Afrika jedenfalls wurde sehr schnell aus dem Georgicus der typische Ergaster. Der asiatische Zweig hingegen könnte noch längere Zeit seinen Merkmalsmix beibehalten haben und erst in Ostasien dann die typische Erectus-Anatomie ausgebildet haben.
Und ein Seitenzweig könnte die urtümlicheren Merkmale beibehalten und schließlich zum Homo floresiensis geführt haben.
Anatomisch ähnelten die beiden frühen Menschenarten jedenfalls noch mehr ihren Australopithecus-Vorfahren (weswegen einige Forscher auch lieber von Australopithecus habilis und Australopithecus rudolfensis sprachen). Sie waren so klein wie jene (der älteste Ergaster, der Turkana-Boy, hatte mit 9...11 Jahren 1,45m Körperlänge und wäre ausgewachsen ein "Massai" geworden von 1,8xm), die Extremitäten waren wie die von Australopithecinen, und selbst der Schädel ähnelte denen mehr als dem Erectus: kurzer Schädel, gerundetes Hinterhaupt, geringere Überaugenwülste, länglicheres Gesicht (samt Kiefer).
Leider weiß ich von nichts Postkranialem für den Dmanisi-Menschen. Aber dennoch halte ich ihn statt des Homo habilis für den besseren Kandidaten, sowohl die Verwandtschaft mit dem asiatischen Erectus (und die unübersehbaren anatomischen Gemeinsamkeiten im Schädel) als auch die urtümlicheren Ähnlichkeiten mit einer Erectus-Vorform erklären zu können. Zusätzlich war der Dmanisi-Mensch nun tatsächlich aus Afrika ausgewandert und weist wenigstens kranial urtümlichere Merkmale auf ls der spätere Erectus.
Das Schädelvolumen des Floresmenschen jedenfalls ist nicht nur deutlich kleiner als das des zeitgleichen und sogar frühen Erectus, es ist auch kleiner als das des Dmaisimenschen. Spricht das dagegen? Nun, das Volumen ist auch kleiner als das von Habilis und Rudolfensis. Von welcher Menschenform auch immer der Hobbit von Flores hergeleitet wird, sein Schädelvolumen muß in jedem Fall als sekundäre Verkleinerung interpretiert werden, sodaß dies kein Ausschlußkriterium für irgendeinen Vorfahren-Kandidaten darstellt.
Ich habe den Hobbit immer für einen Erectus-Typen gehalten. Und ich ändere dies jetzt auch nicht. Der asiatische Erectus und der afrikanische Erectus/Ergaster dürften beide vom Dmanisimenschen herzuleiten sein, sodaß dieser als letzter gemeinsamer Vorfahre und Nicht-mehr-Habilis ebenfalls als Erectus, zumindest als Erectus-Typ angesprochen werden muß. Der Hobbit als dritte Nachfahrenlinie des Georgicus wäre dann ebenfalls ein Erectus-Typ, aber seine urtümlicheren Merkmale wären erklärlich. Und seine Erectus-Ähnlichkeit kein Wunder. Die Werkzeugfunde von Flores jedenfalls passen zum mittelpaläolithischen Fortschritt-Stand des Homo erectus, was bei einer Habilis-Reliktpopulation nicht zu erwarten gewesen wäre.
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