"Für eine offene Lesart des Korans
Der Reformdenker und Philosoph Abdolkarim Sorusch zählt zu den Nachwuchstheologen, die offen für Menschenrechte und Säkularismus in Iran eintreten. Katajun Amirpur mit einem Porträt des unbequemen iranischen Intellektuellen
Den Meisten gilt sie als fundamentalistischer Gottesstaat: die Islamische Republik Iran, in der eine radikale Deutung des Islam gepflegt wird.
Entgegen dieser Deutung hat sich jedoch unter iranischen Theologen eine Gegenströmung etabliert: Eine Strömung, die die gesellschaftlichen Reformkräfte in Iran trägt und - weit über Iran hinaus - für die islamische Welt von Bedeutung ist.
Religiöse Erkenntnis im Wandel
Einer der Protagonisten dieser Bewegung ist Abdolkarim Sorusch. Seine wissenschaftliche Haupttheorie hat die Wandelbarkeit der religiösen Erkenntnis zum Inhalt.
Weil die Erkenntnis des Menschen wandelbar sei, verändere sich auch die Erkenntnis des Menschen von seiner Religion, denn Erkenntnis sei generell von der Zeit und dem Stand der Wissenschaften abhängig. Mit der Zeit ergeben sich, so Sorusch, immer neue Deutungen des Glaubens. Diese seien angepasst an die Umstände, in denen die Interpreten lebten.
Sorusch versucht, ein politisches System zu begründen, das sowohl islamisch als auch demokratisch ist. Sein Ausgangspunkt: der bloße Annäherungscharakter von Erkenntnis. Der Mensch kann also nie wirklich wissen, was Gott von ihm erwartet. Er wird nie erfahren, was das Gesetz Gottes wirklich ist oder was es bezweckt. Gottes Absichten sind unergründlich.
Offen für Interpretationen - der Koran
Der Mensch kann nur das Ziel Gottes erkennen und verstehen. Mehr nicht. Und dieses Ziel der Religion könne auf keinen Fall zu humanen Konzepten im Widerspruch stehen. Der Korantext ist wie jeder andere Text auch ein offener Text, der zu Interpretationen einlädt.
Sorusch sagt, dass die starre Deutung des Glaubens ein Phänomen der Moderne sei. Früher sei man immer von einem Wandel der religiösen Erkenntnis ausgegangen. Diese Wandelbarkeit öffne den Raum für Neuinterpretationen. Und aus diesem Grund sind auch Demokratie, Islam und Menschenrechte vereinbar.
Diese Haltung muss in Iran "anecken", wo der Diskurs immer noch maßgeblich von der Meinung des iranischen Staatsgründers Ayatollah Chomeini bestimmt wird. Nach seinem Menschen- und Gottesbild hat nur einer Rechte, nämlich Gott. Der Mensch hat keine Rechte. Vor allem hat er sie nicht allein aufgrund der Tatsache, dass er ein Mensch ist, wie im westlichen Kontext angenommen.
Allerdings hat der Mensch Pflichten gegenüber Gott. Eventuell räumt Gott oder sein Stellvertreter auf Erden dem Menschen Rechte ein, aber er kann sie ihm genauso gut wieder entziehen, denn Rechte sind nicht natur-, sondern gottgegeben.
Laut Chomeini muss sich zudem jeder Mensch dem Wohl der Allgemeinheit, d.h. der islamischen Gemeinde unterordnen. Diese anti-liberale Weltsicht erlaubt auch die Verletzung individueller Rechte zum Wohle der Gemeinschaft, denn diese hat immer Priorität. Wenn es das Wohl der umma, der islamischen Gemeinschaft, gebietet, sind deshalb auch Zensur, Zwang und Verstöße gegen die Menschenrechte gerechtfertigt.
Menschenrechte und Religion im Einklang
Sorusch widerspricht: für ihn sind die Menschenrechte ein Gebot der menschlichen Vernunft. Damit könnten sie auch der Religion nicht widersprechen, denn prinzipiell könne nichts Unvernünftiges Gottes Wille sein.
Dass die Menschenrechte in einem außerreligiösen Rahmen entstanden sind, hindert ihn nicht daran, ihre Verwirklichung auch in einem islamischen Staatssystem für möglich und sogar für notwendig zu erachten. Zwar seien die Menschenrechte von Menschen erdacht worden, da sie aber nicht der Religion widersprächen, bliebe das Recht Gottes gewahrt.
Logische Konsequenz dieser Argumentation: Eine ganze Reihe von Gesetzen, die das islamische Recht kennt, könnten nicht mehr angewendet werden - beispielsweise das Abhacken der Hand nach erfolgtem Diebstahl. Laut Sorusch ist es aber auch nicht unbedingt notwendig, alle islamischen Gesetze im Detail zu befolgen.
Um dies zu begründen, unterscheidet er zwischen Werten ersten und zweiten Grades. Die Werte zweiten Grades bezögen sich ausschließlich auf Detailvorschriften des Glaubens und unterschieden sich somit von Religion zu Religion. Die Werte ersten Grades - beispielsweise die Gerechtigkeit - seien hingegen die wirklich wichtigen.
Essenz anstatt Dogmen gesucht
Weniger bedeutend sind also die Details wie das islamische Strafrecht oder die Kleidungsvorschriften. Sie sind nur die "Haut", die die Religion nach außen hin zusammenhält. Mit der eigentlichen Essenz der Religion hätten sie nichts zu tun.
Sorusch argumentiert, dass jeder, der an die fünf unumstößlichen Dogmen der Schia - die Einheit Gottes, das Prophetentum, die zwölf Imame, die Auferstehung und die Gerechtigkeit Gottes - glaube, ein Schiit sei. Die strenge Befolgung der Glaubensregeln hingegen sei nicht essentiell. Deshalb könne man auch in einem islamischen System die Menschenrechte achten.
Grundsätzlich nimmt Sorusch damit hinsichtlich der Menschenrechte eine Haltung ein, die gemeinhin nur von Säkularisten vertreten wird, denn er geht wie sie davon aus, dass der Mensch grundsätzlich auch außerreligiöse Rechte hat – und zwar nur, weil er ein Mensch ist.
Ein solches Konzept hält sich nicht mehr mit der Deutung des Korans auf, sondern orientiert sich am letztendlichen Willen des Schöpfers. Es unterscheidet sich ganz prinzipiell von einer anderen Art des liberalen islamischen Diskurses.
In einer apologetischen Argumentation versuchen liberale islamische Denker zu zeigen, wie tolerant sich die Muslime in der Geschichte anderen Religionen gegenüber verhalten haben. Übergriffe gegen die vom Glauben Abgefallenen werden schöngeredet, ihre Seltenheit und politische - eigentlich nicht religiöse Motivation - wird hervorgehoben.
Sorusch hingegen widmet sich der Frage, ob sich der Islam in der Geschichte tolerant gezeigt hat, überhaupt nicht. Das beliebte Argument, dass es den Juden in Spanien unter den muslimischen Herrschern besser ging, als unter den christlichen Eroberern, kommt bei ihm nicht vor.
Ebenso verzichtet er darauf, die höheren Steuern und das geringere Blutgeld der Nicht-Muslime zu beschönigen. Für seine Argumentation sind diese Deutungen irrelevant, denn er versucht, sein Religionsverständnis dem modernen Konzept von Menschenrechten anzupassen.
Weil dies eine Notwendigkeit in der modernen Welt sei. Dazu, sagt Sorusch, gebe es keine Alternative. Denn dass das islamistische Experiment in Iran gescheitert ist, bedürfe keiner weiteren Beweise.
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http://de.qantara.de/inhalt/abdolkarim-sorusch-fur-eine-offene-lesart-des-korans (Archiv-Version vom 13.09.2015)