Moment: Den Präsidenten des Iran besuchen – darf man das überhaupt? Nein – man muss es sogar. Denn in Zeiten der Kriegshetze und Propaganda kommt es gerade darauf an, künstlich geschaffene Kluften zu überwinden, um Spannungen abzubauen. Wer das Bild des Iran und seines Präsidenten den etablierten Medien überlässt, steht einem bevorstehenden Massenmord gleichgültig gegenüber. Denn erst kommt die Bild-Zeitung, dann kommt die NATO. Das war schon bei Gaddafi so, wo eine NATO-Allianz Hunderttausende von Menschen tötete und ein entwickeltes Land dem Wüstenboden gleich machte. Erst, wenn ein Mensch oder ein Land außerhalb der globalen Gesellschaft gestellt wurde, können die militärischen Kommandos anrücken. Denn der Rufmord geht dem Mord voraus.
Rede statt Stichflamme
Nachdem er sich gesetzt hat, öffnet Ahmadinedschad den Mund. Heraus kommt allerdings keine Stichflamme, sondern eine Rede. Der Präsident des 72-Millionen-Volks spricht frei und ohne Manuskript. Da er Muslim und der Iran ein Gottesstaat ist, handelt es sich gleichzeitig um eine philosophische, theologische und politische Rede. Aus Sicht des Iran lässt sich das nicht voneinander trennen. Der Stil der Ansprache ist ebenfalls einfach und klar. In einer knappen Stunde breitet Ahmadinedschad sein Weltbild aus. Wer schuld sei an der gegenwärtigen Finanzkrise, fragt er. Der kleine Mann? Der kleine Arbeiter? Oder vielleicht der kleine Bauer? Natürlich nicht. Sondern Schuld haben aus seiner Sicht das Finanzsystem und die globalen Kapitalisten. Die Unterdrücker seien die führenden Figuren des internationalen Finanzsystems, die sich an der Spaltung und gegenseitigen Aufhetzung von Nationen bereichern. Die gegenwärtige globale Finanzkrise hätten sie selbst verursacht und wollten das von ihnen verprasste Geld nun den kleinen Leuten aus der Tasche ziehen. Deshalb gebe es Überschuldung, Sparmaßnahmen sowie Armut und Hass zwischen den Menschen.
Künstliche Barrieren im Dienste des Kapitals
»Stellen Sie sich eine Welt vor, in der alle eine Sprache beherrschen und in der es keine Hautfarbe und andere Unterschiede gibt«, sagt er. Wenn man alle Unterschiede abziehe, »was bleibt dann übrig?« Antwort: Der reine oder wahre Mensch. Denn alle diese Merkmale übertünchten nur den reinen Menschen. Viele dieser Barrieren und Aversionen wurden in seinen Augen von den globalen Finanzkapitalisten geschaffen. Mit Hilfe eines grausamen Systems hätten beispielsweise die USA ihr Defizit auf Kosten anderer Nationen aufgeblasen. Seit 1973 hätten sie der Weltwirtschaft jährlich Milliarden Dollar an Schulden aufgebürdet, und aufgrund dieser Situation lebten heute drei Milliarden Menschen auf der Erde in Armut. Würden Jesus, Mohammed und all die anderen Propheten das gut heißen? Natürlich nicht. Sondern sie seien erwählt worden, um den wirklichen Weg zu wahrer Menschlichkeit aufzuzeigen. Doch persönliche Begierden, das Streben nach mehr und immer mehr sowie der Glaube an die eigene Überlegenheit gegenüber anderen seien die Ursachen für die Probleme von heute. Wenn es dagegen nichts mehr gebe, was die Menschen noch voneinander trennen und zu einem Krieg motivieren könnte, spiegele sich Gott in den Menschen. Ahmadinedschad sieht nur einen Weg zu diesem Ziel, nämlich Liebe und Gerechtigkeit.
Weltfremde Worte?
Aus der Sicht des Westlers erscheinen diese Worte als naiv und »nicht von dieser Welt«. So ähnlich wie das Wort zum Sonntag oder die üblichen Papstreden zu Weihnachten und Ostern, die wie ein heuchlerisches Grundrauschen über dem ganzen Chaos liegen, das der Erdball darstellt. Was aus der Sicht des Westlers weltfremd und utopisch klingt – ohne jeden Bezug zur Realität –, meint ein Muslim wie Ahmadinedschad jedoch ganz praktisch und ernst. Er glaubt wirklich daran, dass die Welt nur besser werden kann, wenn die Menschen zu ihrem inneren Kern zurückkommen, der übrig bleibt, wenn man alles Trennende abzieht.