Die Mennoniten
16.08.2004 um 14:44Ich habe hier ein interessantes Interview gefunden:
aspekte
Wie Pappeln im Wind
Einem Roman über die Mennoniten auf der Spur
Zum neuen Buch von Rudy Wiebe "Wie Pappeln im Wind" reiste Frank Vorpahl zu den Mennoniten nach Paraguay. Judith Funke befragte ihn für aspekte.online
10.05.04
Wie Pappeln im Wind
aspekte: Wer sind eigentlich die Mennoniten, und was fasziniert Sie an ihnen?
Frank Vorpahl: Ich hatte zunächst nur eine vage Vorstellung von den Mennoniten. Einen Zugang zu dem Thema bekam ich erst über den Schriftsteller Rudy Wiebe. Er stammt aus einer Mennoniten-Familie. In seinem Roman "Wie Pappeln im Wind" erzählt der Deutschkanadier ihre Geschichte.
Es ist die Geschichte einer freikirchlichen Glaubensgemeinschaft, die jede Hierarchie ablehnt. Die Mennoniten lehnen sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche ab, da sie nicht wollen, dass zwischen Gott und den Menschen ein hierarchischer Vermittler steht. Die Mennoniten brauchen keinen Priester, sie brauchen keinen Papst. Sie denken, dass jeder von ihnen in der Lage ist, aus der Bibel vorzulesen. Außerdem sind sie radikal pazifistisch und basisdemokratisch. Das sind drei Dinge, die mein Interesse weckte.
aspekte: Die Mennoniten kommen aus Norddeutschland und sprechen Plattdeutsch. Warum leben viele von ihnen heute in Paraguay?
Frank Vorpahl: Die Mennoniten sind nicht nur radikal pazifistisch, sondern auch sehr konsequent. Sie lehnen daher jede Art von Militärdienst ab. Lieber verlassen sie ihr Land, als mit Waffen zu kämpfen und töten zu müssen. Rudy Wiebe sagte im aspekte-Interview: "Als Mennonit kämpfst du nicht gegen andere - so wie auch Jesus nicht gekämpft hätte. Du packst dein Bündel und gehst an einen neuen Ort an dem du frei leben kannst. Das ist die Überlebensstrategie meiner Vorfahren seit 500 Jahren."
Als Preußen sie zum Wehrdienst zwingen will, flüchten die Mennoniten aus Norddeutschland ins Zarenreich Katharinas der Großen - nach Russland. In wenigen Jahrzehnten verwandeln die fleißigen Deutschen karge Steppen in die reichste Kornkammer Russlands. Zwei Jahrzehnte später verfolgt Stalin die zu Wohlstand gekommenen Mennoniten. Auch er will sie zum Wehrdienst zwingen. Und wieder packen sie ihre Koffer. In dramatischer Weise flüchten sie aus Russland über die russisch-chinesische Grenze, ziehen dann von China nach Kanada und von dort nach Paraguay. 1930 lassen sich die Norddeutschen im heißen Gran Chaco, der "grünen Hölle Südamerikas", nieder.
aspekte: Wie muss man sich so ein Mennoniten-Dorf vorstellen?
Frank Vorpahl: Am Gran Chaco liegen mehrere Dörfer in einer Kolonie, die insgesamt etwa so groß ist wie Hessen. Sie sehen alle aus wie ein deutsches Dorf in den 50er Jahren: kleine Häuschen, ungeteerte Straßen, sehr einfach und dörflich. Bei den orthodoxen Mennoniten, die sehr viel strenger leben, müssen alle Häuser im Ostfriesenstil gebaut werden. Im Gasthaus gibt es karierte Tischdeckchen mit Fransen, auf den Tischen stehen kleine weiße Vasen mit Blumensträußchen. Auf dem Speiseplan steht Eisbahn mit Sauerkraut.
Die Menschen dort führen eine Art Insiderleben, das zutiefst deutsch ist. Wer sehen möchte, wie Deutsche sind, der fahre nach Filadelfia, dem Hauptort der Mennoniten. Dort gibt es sogar ein kleines Hotel, wo Touristen sehr gastfreundlich aufgenommen werden.
Der Mittelpunkt jedes Ortes ist die Kirche. Sonntags beim Gottesdienst ist sie brechend voll, es wird aus der Bibel vorgelesen und diskutiert. Es ist beeindruckend, wie viele Jugendliche daran teilnehmen. Sie alle müssen irgendwann die Entscheidung treffen, ob sie in Paraguay bleiben oder zum Beispiel zum Studieren nach Kanada gehen wollen.
Der Leitspruch der Mennoniten lautet "Arbeite und hoffe", und dem machen sie alle Ehre. Inzwischen zählen Rinderzucht und Milchwirtschaft der Mennoniten zu den wichtigsten Wirtschaftsfaktoren Paraguays. Durch Informationsfluss und Gelder von verwandten Mennoniten in Kanada sind sie auf dem Stand der modernsten Technik. So wurden aus einfachen Dörfern einflussreiche blühende Genossenschaften.
aspekte: Die Geschichte der Mennoniten erinnert an die der Juden. Gibt es Parallelen?
Frank Vorpahl: Tatsächlich erinnert der Leidensweg der Mennoniten und das Umherziehen an die Geschichte der Juden. Auch die genossenschaftliche Organisation der Dörfer gleicht stark dem Leben der Juden im Kibbuz.
Der entscheidende Unterschied ist aber, dass die Mennoniten mit den ursprünglich im Gran Chaco angesiedelten Indianern friedlich zusammen leben. Zum Teil sprechen die Indianer inzwischen Plattdeutsch und die Mennoniten verschiedene indianische Sprachen. Der Radiosender der Mennoniten im Gran Chaco gibt landwirtschaftliche Tipps in der Sprache der Indianer.
aspekte: Warum ist Wiebes Roman empfehlenswert?
Frank Vorpahl: Ich kann den Roman empfehlen, weil er zum ersten Mal über ein vergessenes Kapitel deutscher Geschichte erzählt. Die gesamte deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts wird überschattet vom Holocaust - und das zu Recht. Die pazifistischen Mennoniten wären nicht zu einem einzigen Mord fähig. Insofern ist es wichtig, ihre Geschichte zu erzählen und an ihr pazifistisches Erbe zu erinnern.
Außerdem ist Wiebe einer der besten kanadischen Schriftsteller. Er ist kein allwissender Erzähler, keiner der schlichtweg chronologisch den Leidensweg der Mennoniten beschreibt. In seinem Roman lässt Wiebe Menschen zu Wort kommen, die ihre eigene Sicht der Dinge schildern, so etwa ein Sprecher aus der stalinistischen Sowjetunion oder eine Frau aus Paraguay. Erst aus dem Zusammenspiel der Stimmen ergibt sich die ganze Geschichte - umfassend und beeindruckend.
www.wordfest.com
Rudy Wiebe
Wie Pappeln im Wind
von Rudy Wiebe
Eichborn Verlag
März 2004
ISBN 3821809310
aspekte
Wie Pappeln im Wind
Einem Roman über die Mennoniten auf der Spur
Zum neuen Buch von Rudy Wiebe "Wie Pappeln im Wind" reiste Frank Vorpahl zu den Mennoniten nach Paraguay. Judith Funke befragte ihn für aspekte.online
10.05.04
Wie Pappeln im Wind
aspekte: Wer sind eigentlich die Mennoniten, und was fasziniert Sie an ihnen?
Frank Vorpahl: Ich hatte zunächst nur eine vage Vorstellung von den Mennoniten. Einen Zugang zu dem Thema bekam ich erst über den Schriftsteller Rudy Wiebe. Er stammt aus einer Mennoniten-Familie. In seinem Roman "Wie Pappeln im Wind" erzählt der Deutschkanadier ihre Geschichte.
Es ist die Geschichte einer freikirchlichen Glaubensgemeinschaft, die jede Hierarchie ablehnt. Die Mennoniten lehnen sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche ab, da sie nicht wollen, dass zwischen Gott und den Menschen ein hierarchischer Vermittler steht. Die Mennoniten brauchen keinen Priester, sie brauchen keinen Papst. Sie denken, dass jeder von ihnen in der Lage ist, aus der Bibel vorzulesen. Außerdem sind sie radikal pazifistisch und basisdemokratisch. Das sind drei Dinge, die mein Interesse weckte.
aspekte: Die Mennoniten kommen aus Norddeutschland und sprechen Plattdeutsch. Warum leben viele von ihnen heute in Paraguay?
Frank Vorpahl: Die Mennoniten sind nicht nur radikal pazifistisch, sondern auch sehr konsequent. Sie lehnen daher jede Art von Militärdienst ab. Lieber verlassen sie ihr Land, als mit Waffen zu kämpfen und töten zu müssen. Rudy Wiebe sagte im aspekte-Interview: "Als Mennonit kämpfst du nicht gegen andere - so wie auch Jesus nicht gekämpft hätte. Du packst dein Bündel und gehst an einen neuen Ort an dem du frei leben kannst. Das ist die Überlebensstrategie meiner Vorfahren seit 500 Jahren."
Als Preußen sie zum Wehrdienst zwingen will, flüchten die Mennoniten aus Norddeutschland ins Zarenreich Katharinas der Großen - nach Russland. In wenigen Jahrzehnten verwandeln die fleißigen Deutschen karge Steppen in die reichste Kornkammer Russlands. Zwei Jahrzehnte später verfolgt Stalin die zu Wohlstand gekommenen Mennoniten. Auch er will sie zum Wehrdienst zwingen. Und wieder packen sie ihre Koffer. In dramatischer Weise flüchten sie aus Russland über die russisch-chinesische Grenze, ziehen dann von China nach Kanada und von dort nach Paraguay. 1930 lassen sich die Norddeutschen im heißen Gran Chaco, der "grünen Hölle Südamerikas", nieder.
aspekte: Wie muss man sich so ein Mennoniten-Dorf vorstellen?
Frank Vorpahl: Am Gran Chaco liegen mehrere Dörfer in einer Kolonie, die insgesamt etwa so groß ist wie Hessen. Sie sehen alle aus wie ein deutsches Dorf in den 50er Jahren: kleine Häuschen, ungeteerte Straßen, sehr einfach und dörflich. Bei den orthodoxen Mennoniten, die sehr viel strenger leben, müssen alle Häuser im Ostfriesenstil gebaut werden. Im Gasthaus gibt es karierte Tischdeckchen mit Fransen, auf den Tischen stehen kleine weiße Vasen mit Blumensträußchen. Auf dem Speiseplan steht Eisbahn mit Sauerkraut.
Die Menschen dort führen eine Art Insiderleben, das zutiefst deutsch ist. Wer sehen möchte, wie Deutsche sind, der fahre nach Filadelfia, dem Hauptort der Mennoniten. Dort gibt es sogar ein kleines Hotel, wo Touristen sehr gastfreundlich aufgenommen werden.
Der Mittelpunkt jedes Ortes ist die Kirche. Sonntags beim Gottesdienst ist sie brechend voll, es wird aus der Bibel vorgelesen und diskutiert. Es ist beeindruckend, wie viele Jugendliche daran teilnehmen. Sie alle müssen irgendwann die Entscheidung treffen, ob sie in Paraguay bleiben oder zum Beispiel zum Studieren nach Kanada gehen wollen.
Der Leitspruch der Mennoniten lautet "Arbeite und hoffe", und dem machen sie alle Ehre. Inzwischen zählen Rinderzucht und Milchwirtschaft der Mennoniten zu den wichtigsten Wirtschaftsfaktoren Paraguays. Durch Informationsfluss und Gelder von verwandten Mennoniten in Kanada sind sie auf dem Stand der modernsten Technik. So wurden aus einfachen Dörfern einflussreiche blühende Genossenschaften.
aspekte: Die Geschichte der Mennoniten erinnert an die der Juden. Gibt es Parallelen?
Frank Vorpahl: Tatsächlich erinnert der Leidensweg der Mennoniten und das Umherziehen an die Geschichte der Juden. Auch die genossenschaftliche Organisation der Dörfer gleicht stark dem Leben der Juden im Kibbuz.
Der entscheidende Unterschied ist aber, dass die Mennoniten mit den ursprünglich im Gran Chaco angesiedelten Indianern friedlich zusammen leben. Zum Teil sprechen die Indianer inzwischen Plattdeutsch und die Mennoniten verschiedene indianische Sprachen. Der Radiosender der Mennoniten im Gran Chaco gibt landwirtschaftliche Tipps in der Sprache der Indianer.
aspekte: Warum ist Wiebes Roman empfehlenswert?
Frank Vorpahl: Ich kann den Roman empfehlen, weil er zum ersten Mal über ein vergessenes Kapitel deutscher Geschichte erzählt. Die gesamte deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts wird überschattet vom Holocaust - und das zu Recht. Die pazifistischen Mennoniten wären nicht zu einem einzigen Mord fähig. Insofern ist es wichtig, ihre Geschichte zu erzählen und an ihr pazifistisches Erbe zu erinnern.
Außerdem ist Wiebe einer der besten kanadischen Schriftsteller. Er ist kein allwissender Erzähler, keiner der schlichtweg chronologisch den Leidensweg der Mennoniten beschreibt. In seinem Roman lässt Wiebe Menschen zu Wort kommen, die ihre eigene Sicht der Dinge schildern, so etwa ein Sprecher aus der stalinistischen Sowjetunion oder eine Frau aus Paraguay. Erst aus dem Zusammenspiel der Stimmen ergibt sich die ganze Geschichte - umfassend und beeindruckend.
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Rudy Wiebe
Wie Pappeln im Wind
von Rudy Wiebe
Eichborn Verlag
März 2004
ISBN 3821809310