Fundamentalismus in der Türkei weitet sich aus
06.05.2009 um 21:23
„Ey Türkler“ – „O ihr Türken“ begannen viele Reden Mustafa Kemal Atatürks. So sprach er mit euch, und ihr lauschtet seinen Worten, eure Augen leuchteten, und ihr folgtet ihm und tatet gut daran. Er gab euch euren Stolz auf euer Land zurück, er einte euch unter einer Flagge, er zeigte euch, wie wichtig die Geschichte eines Landes ist. Er schaffte euren Glauben nicht ab, sondern trennte ihn von der Staatsführung, weil er den Anschluss an die Moderne suchte. Er war überzeugt, sein Land nur so nach vorne und auf eine Stufe mit den demokratischen Systemen im Westen bringen zu können.
O ihr Türken, sage ich heute zu euch, und ich bin mir sicher, Atatürks Segen, möge er in Frieden ruhen, dafür zu haben.
O ihr Türken, euch wurde gezeigt, wie wichtig es ist, an seiner Geschichte und Kultur festzuhalten, ohne dafür andere leiden zu lassen.
O ihr Türken, ihr habt in der Geschichte eures Landes einen weiten Weg zurückgelegt, um in einer Republik anzukommen, die ihr alle weiterbringen wolltet.
O ihr Türken, habt ihr euer Versprechen an euren Vater vergessen? Wo geht ihr hin? Es ist nicht der Weg, den Atatürk euch zeigte. Zeigte er euch nicht Respekt vor anderen, solltet ihr nicht die anderen achten, um selber geachtet zu werden?
Ihr habt Wertvorstellungen, von denen sich viele im Glauben begründen lassen, sagt ihr. Ihr seid ein Volk, dass immer wieder von seiner Ehre redet, für die ihr sogar zu kämpfen bereit seid. Ihr verlangt von anderen Kulturen und Staaten Respekt gegenüber euch und euren Glauben. Die Verhöhnung des Islam oder Atatürks wird aufs schärfste geahndet. Doch wie weit gelten eure Maßstäbe auch gegenüber anderen Kulturen? Seid ihr genauso bereit, anderen Respekt zu zollen und ihre Ehre zu achten?
O ihr Türken, wenn ihr stolz seid, Türken zu sein, wollt ihr nicht einen Moment innehalten und euer Verhalten überdenken? Wenn ich die Nachrichten aus der Türkei lese, dann muss ich mich so etwas wie Fremdschämen.
O ihr Türken, wo bleibt euer Stolz auf die Zeugnisse der Menschheitsgeschichte, auf deren Steinen euer Land gebaut ist? Es ist sinnlos, ihn erst dann zu zeigen, wenn Ausländer sich um die antiken Zeugnisse eures Landes kümmern, sie sichern und restaurieren und – wie geschehen mit dem Pergamonaltar in Berlin – sie allen Menschen der Welt zugänglich machen. Erst dann fällt euch wieder euer Stolz ein, und ihr verlangt „euren“ Pergamonaltar in „eure“ Erde zurück.
Und hier erfüllt es mich mit Stolz, wenn ich sehe, was die Deutschen und die Österreicher aus den Bruchstücken gemacht haben, mit wie viel Liebe dieses Bauwerk nun seine Geschichte erzählen kann. Und hier solltet ihr beschämt sein, weil euer Volk immer noch nicht den Wert solcher Kostbarkeiten und Hinterlassenschaften respektiert und bewahrt. Und es gibt nicht nur den Pergamonaltar, sondern viele andere nichtislamische Kunstdenkmäler, die ihr schützen solltet. Zerstört ihr sie, zerstört ihr euch! Worauf wollt ihr im Rückblick auf die Geschichte eures Landes blicken?
O ihr Türken, hatte euch Atatürk nicht beigebracht, euren Blick für alles zu öffnen? Wollt ihr nur die islamische Kunst sehen und euch alleine damit identifizieren? Vergesst nicht: Der Islam entstand erst viele Jahrhunderte nach Christus. Natürlich sollt ihr euren Glauben ehren und dessen Hinterlassenschaften respektieren. Wo aber ist die Kunst, und wo sind die Baudenkmäler, die vor der Geburt des Islams existierten? Darf auf eurem Boden nur das stehen, was euch gefällt?
O ihr Türken, euch wurde große Geschichte gegeben, haltet sie lebendig, dann habt ihr wahren Grund, stolz auf diesen Flecken Erde zu sein, auf dem sich so viele niederließen und euch ihre Geschichte vererbten. Und dann wird es auch soweit sein, dass der Rest der Welt mit geteiltem Stolz auf euch blicken wird.
O ihr Türken, lasst nicht zu, dass so kostbare Zeugnisse der Menschheit wie das Kloster Mor Gabriel zerstört, entweiht und anders benutzt werden! Ihr braucht doch nicht wirklich diesen Machtkrieg und den Machtbeweis in diktatorischer Art und Weise, dass ihr christliche Bauten, und dann auch noch das älteste erhaltene christliche Kloster, anders nutzen könnt. Merkt ihr nicht, wie sehr ihr den Christen damit Schmerzen zufügt?
Euer Volk braucht Geschichte, auf die es zu Recht stolz sein darf. Lasst euch nicht von fundamentalen Kräften missbrauchen. Respektiert den Glauben und die Heiligtümer anderer Religionen, die in eurem Land leben. Lasst sie glauben, so wie ihr glauben wollt. Euer Land ist eigentlich so vielfältig wie kaum ein anderes und wertvoll durch seine reiche Geschichte. Lasst unsere christlichen Kinder an dieser Geschichte teilhaben, die euer Land zu dem gemacht hat, was es heute ist. Ihr könnt euren Kindern und wir können unseren Kindern eine so vielfältige kulturelle Geschichte in eurem Land zeigen. Nehmt euch und nehmt uns nicht die Möglichkeit dazu.
Ob es nun die assyrische, griechische, römische, aramäische, christliche oder die islamische Geschichte ist – ihnen allen ist eines gemein: oO ihr Türken, es ist auch Teil eurer Geschichte!