kafate
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Wir sind nicht normal!
22.08.2006 um 20:35lesen tut gut ;)
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Wir sind nichtnormal
Moisés Naím ist Chefredakteur der angesehenen US-Zeitschrift"Foreign Policy". Er plädiert dafür, bei der Entwicklungspolitik mehr Realismus walten zulassen
der normale mensch von heute ist arm und lebt in einem unfreien undkorrupten land!
Wenn Sie diese Zeilen lesen, gehören Siewohl zu jener Minderheit der Weltbevölkerung, die von mehr als zwei US-Dollar amTag lebt, Arbeit hat, kranken- und rentenversichert ist und sich elementarerpolitischer Freiheiten erfreut. Vor allem können Sie aber - anders als 860 MillionenMitmenschen - lesen. Der Anteil derjenigen, auf die all dies zutrifft, beläuft sichauf verschwindende 2,4 Prozent der Weltbevölkerung.
Der Weltbank zufolgemuß die Hälfte der Menschheit mit weniger als zwei Dollar am Tag auskommen. DieInternationale Arbeitsorganisation schätzt, daß ein Drittel der arbeitsfähigenBevölkerung beschäftigungslos oder unterbeschäftigt ist. Zudem verfügt die Hälfte allerMenschen über keinerlei Sozialversicherung. "Freedom House" bezeichnet 103 der 192 Länderder Welt entweder als "unfrei" oder nur "teilweise frei". Mehr als 3,6 MilliardenPersonen - 56 Prozent der Weltbevölkerung - leben in solchen Staaten.
[b]Statistisch gesehen ist ein "normaler" Mensch von heute arm und lebt in einemLand, das von sozialer und politischer Unterdrückung geprägt und von einer korrupten,autokratischen Führung regiert wird. Es gibt einen enormen Unterschied zwischen dem,was der durchschnittliche Bürger fortschrittlicher westlicher Demokratien und die reicheElite überall auf dem Globus für normal erachten, und der täglichen Lebenswirklichkeiteiner übergroßen Mehrheit. Wir halten es für normal, drei oder mehr Mahlzeiten am Tag zuuns zu nehmen, ohne Furcht auf die Straße gehen zu können, Zugang zu Trinkwasser,Elektrizität, Telefonen und öffentlichen Verkehrsmitteln zu haben. Traurigerweise ist esjedoch genau das nicht: normal. Weltweit haben 852 Millionen Menschen, darunter vieleKinder und Ältere, keine drei Mahlzeiten am Tag. Und wenn doch, versorgen dieseMahlzeiten sie nicht mit der täglichen Kalorienration, die ein normales menschlichesWesen benötigt. Rund 1,6 Milliarden Menschen verfügen über keinen Stromanschluß, und 2,4Milliarden müssen zum Kochen oder Heizen auf traditionelle Brennstoffe wie Holz oder Dungzurückgreifen.
Ein knappes Drittel der Weltbevölkerung hat noch nie telefoniert.Im größten Teil der Welt gehören Straßenkriminalität und städtische Gewalt zum ganznormalen Alltag. In Lateinamerika und der Karibik kommen im Schnitt 25 von 100 000Einwohnern durch Mord ums Leben, in Schwarzafrika liegt die Ziffer ungefähr bei 18. Inder Europäischen Union hingegen entfallen auf 100 000 Todesfälle nur drei Morde. Jedessechste Kind weltweit muß arbeiten, um zum Lebensunterhalt seiner Familie beizutragen,[b]das sind 246 Millionen Kinder. 73 Millionen von ihnen sind jünger als zehn Jahre.Während die Geburt eines Kindes in den Hochlohnländern als Grund zur Freude betrachtetwird, ist sie anderswo oft die Ursache für Tod, Krankheit und Behinderung. Nach Angabender Weltgesundheitsorganisation sterben in den Entwicklungsländern jedes Jahr mehr alseine halbe Million Frauen infolge von schwangerschaftsbedingten Komplikationen. Dortliegt die Wahrscheinlichkeit, daß eine Mutter im Kindbett stirbt, bei eins zu 61, in denreichen Ländern bei eins zu 2800.
Die gestörte Wahrnehmung dessen, was normalist, kann auch subtilere Formen annehmen. Man denke etwa an unsere Ansprüche an dieMedien. Wir gehen davon aus, daß die Nachrichten frei von Manipulation durch dieRegierungen sind. Doch in den meisten Ländern ist das nicht der Fall. Eine Untersuchungder Weltbank über die Medieneigentumsverhältnisse in 97 Ländern ergab, [b]daß sich 72Prozent der fünf größten Radio- und 60 Prozent der fünf größten Fernsehstationen instaatlicher Hand befinden. Die Autoren der Studie fanden auch starke statistischeIndizien dafür, daß die Menschen in Ländern mit einer höheren Staatsquote bei den Medienweniger politische Rechte haben, daß die Märkte unterentwickelt sind und daß esauffällige Mängel im Erziehungs- und Gesundheitswesen gibt.
Die Annahmen derreichen Welt darüber, was die globalen Standards sind, sind kostspielige Illusionen.Milliarden Dollar wurden dadurch verschwendet, daß man davon ausging, Regierungen inärmeren Ländern seien mehr oder weniger wie ihre Pendants in den reichen Staaten, nur einbißchen weniger effizient. Zwar werden wir immer wieder daran erinnert, daß die meistenRegierungen auf der Welt nicht einmal etwas so Selbstverständliches wie einefunktionierende Postzustellung oder Müllentsorgung sicherstellen können. Dennoch krankendie meisten Rezepte für Problemlösungen in diesen Staaten daran, daß sie Fähigkeitenvoraussetzen, die zwar in reichen Ländern gegeben sind, aber eben nicht überall sonst.
Wir wollen, daß die Menschen ein besseres Leben haben. Und es ist nur allzunatürlich, daß unsere Vorstellungen des Normalen als ein Kompaß dienen, wenn wir anderenhelfen. [b]Die Kluft zwischen dem, was wir für normal halten, und der Realität, mit derMilliarden Menschen Tag für Tag konfrontiert sind, entspringt weniger einer engstirnigenNeigung, unsere Erfahrung auf andere zu übertragen, als dem aufrichtigen Wunsch, unsereneigenen Werten auch gerecht zu werden.
Diese Werte sollen auch nichtverleugnet werden - sie sind unser Leitstern und weisen uns den Weg zum Fortschritt. EinProblem erwächst daraus erst dann, wenn wir stark empfundenen Idealen erlauben, zurGrundlage unserer Politik zu werden. In einer Zeit, in der es im politischen Diskursüblich geworden ist, sich auf Werte zu berufen, ist es um so wichtiger zu hinterfragen,ob unsere Ratschläge womöglich auf falschen Annahmen über das Normale fußen. Denn solltedies der Fall sein, führt Wertorientierung zu unguten Entscheidungen und nicht zu mehrKlarheit.
Artikel erschienen am 16. Juli2006
das sollte man sich doch mal vor augen führen![/b][/b][/b][/b]
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Wir sind nichtnormal
Moisés Naím ist Chefredakteur der angesehenen US-Zeitschrift"Foreign Policy". Er plädiert dafür, bei der Entwicklungspolitik mehr Realismus walten zulassen
der normale mensch von heute ist arm und lebt in einem unfreien undkorrupten land!
Wenn Sie diese Zeilen lesen, gehören Siewohl zu jener Minderheit der Weltbevölkerung, die von mehr als zwei US-Dollar amTag lebt, Arbeit hat, kranken- und rentenversichert ist und sich elementarerpolitischer Freiheiten erfreut. Vor allem können Sie aber - anders als 860 MillionenMitmenschen - lesen. Der Anteil derjenigen, auf die all dies zutrifft, beläuft sichauf verschwindende 2,4 Prozent der Weltbevölkerung.
Der Weltbank zufolgemuß die Hälfte der Menschheit mit weniger als zwei Dollar am Tag auskommen. DieInternationale Arbeitsorganisation schätzt, daß ein Drittel der arbeitsfähigenBevölkerung beschäftigungslos oder unterbeschäftigt ist. Zudem verfügt die Hälfte allerMenschen über keinerlei Sozialversicherung. "Freedom House" bezeichnet 103 der 192 Länderder Welt entweder als "unfrei" oder nur "teilweise frei". Mehr als 3,6 MilliardenPersonen - 56 Prozent der Weltbevölkerung - leben in solchen Staaten.
[b]Statistisch gesehen ist ein "normaler" Mensch von heute arm und lebt in einemLand, das von sozialer und politischer Unterdrückung geprägt und von einer korrupten,autokratischen Führung regiert wird. Es gibt einen enormen Unterschied zwischen dem,was der durchschnittliche Bürger fortschrittlicher westlicher Demokratien und die reicheElite überall auf dem Globus für normal erachten, und der täglichen Lebenswirklichkeiteiner übergroßen Mehrheit. Wir halten es für normal, drei oder mehr Mahlzeiten am Tag zuuns zu nehmen, ohne Furcht auf die Straße gehen zu können, Zugang zu Trinkwasser,Elektrizität, Telefonen und öffentlichen Verkehrsmitteln zu haben. Traurigerweise ist esjedoch genau das nicht: normal. Weltweit haben 852 Millionen Menschen, darunter vieleKinder und Ältere, keine drei Mahlzeiten am Tag. Und wenn doch, versorgen dieseMahlzeiten sie nicht mit der täglichen Kalorienration, die ein normales menschlichesWesen benötigt. Rund 1,6 Milliarden Menschen verfügen über keinen Stromanschluß, und 2,4Milliarden müssen zum Kochen oder Heizen auf traditionelle Brennstoffe wie Holz oder Dungzurückgreifen.
Ein knappes Drittel der Weltbevölkerung hat noch nie telefoniert.Im größten Teil der Welt gehören Straßenkriminalität und städtische Gewalt zum ganznormalen Alltag. In Lateinamerika und der Karibik kommen im Schnitt 25 von 100 000Einwohnern durch Mord ums Leben, in Schwarzafrika liegt die Ziffer ungefähr bei 18. Inder Europäischen Union hingegen entfallen auf 100 000 Todesfälle nur drei Morde. Jedessechste Kind weltweit muß arbeiten, um zum Lebensunterhalt seiner Familie beizutragen,[b]das sind 246 Millionen Kinder. 73 Millionen von ihnen sind jünger als zehn Jahre.Während die Geburt eines Kindes in den Hochlohnländern als Grund zur Freude betrachtetwird, ist sie anderswo oft die Ursache für Tod, Krankheit und Behinderung. Nach Angabender Weltgesundheitsorganisation sterben in den Entwicklungsländern jedes Jahr mehr alseine halbe Million Frauen infolge von schwangerschaftsbedingten Komplikationen. Dortliegt die Wahrscheinlichkeit, daß eine Mutter im Kindbett stirbt, bei eins zu 61, in denreichen Ländern bei eins zu 2800.
Die gestörte Wahrnehmung dessen, was normalist, kann auch subtilere Formen annehmen. Man denke etwa an unsere Ansprüche an dieMedien. Wir gehen davon aus, daß die Nachrichten frei von Manipulation durch dieRegierungen sind. Doch in den meisten Ländern ist das nicht der Fall. Eine Untersuchungder Weltbank über die Medieneigentumsverhältnisse in 97 Ländern ergab, [b]daß sich 72Prozent der fünf größten Radio- und 60 Prozent der fünf größten Fernsehstationen instaatlicher Hand befinden. Die Autoren der Studie fanden auch starke statistischeIndizien dafür, daß die Menschen in Ländern mit einer höheren Staatsquote bei den Medienweniger politische Rechte haben, daß die Märkte unterentwickelt sind und daß esauffällige Mängel im Erziehungs- und Gesundheitswesen gibt.
Die Annahmen derreichen Welt darüber, was die globalen Standards sind, sind kostspielige Illusionen.Milliarden Dollar wurden dadurch verschwendet, daß man davon ausging, Regierungen inärmeren Ländern seien mehr oder weniger wie ihre Pendants in den reichen Staaten, nur einbißchen weniger effizient. Zwar werden wir immer wieder daran erinnert, daß die meistenRegierungen auf der Welt nicht einmal etwas so Selbstverständliches wie einefunktionierende Postzustellung oder Müllentsorgung sicherstellen können. Dennoch krankendie meisten Rezepte für Problemlösungen in diesen Staaten daran, daß sie Fähigkeitenvoraussetzen, die zwar in reichen Ländern gegeben sind, aber eben nicht überall sonst.
Wir wollen, daß die Menschen ein besseres Leben haben. Und es ist nur allzunatürlich, daß unsere Vorstellungen des Normalen als ein Kompaß dienen, wenn wir anderenhelfen. [b]Die Kluft zwischen dem, was wir für normal halten, und der Realität, mit derMilliarden Menschen Tag für Tag konfrontiert sind, entspringt weniger einer engstirnigenNeigung, unsere Erfahrung auf andere zu übertragen, als dem aufrichtigen Wunsch, unsereneigenen Werten auch gerecht zu werden.
Diese Werte sollen auch nichtverleugnet werden - sie sind unser Leitstern und weisen uns den Weg zum Fortschritt. EinProblem erwächst daraus erst dann, wenn wir stark empfundenen Idealen erlauben, zurGrundlage unserer Politik zu werden. In einer Zeit, in der es im politischen Diskursüblich geworden ist, sich auf Werte zu berufen, ist es um so wichtiger zu hinterfragen,ob unsere Ratschläge womöglich auf falschen Annahmen über das Normale fußen. Denn solltedies der Fall sein, führt Wertorientierung zu unguten Entscheidungen und nicht zu mehrKlarheit.
Artikel erschienen am 16. Juli2006
das sollte man sich doch mal vor augen führen![/b][/b][/b][/b]