Liebe Leser,
neulich hatte ich einen Traum.
Es war ein kühler Wochentag Anfang Mai und ich schlenderte durch die Stadt. Die Vögel zwitscherten laut - doch ich konnte mich nicht auf ihr Singen konzentrieren, da ich mir einen Pullover vor das Gesicht halten musste. Es stank erbärmlich. Links und rechts neben mir türmten sich Berge von Müll auf, viele Meter hoch und Wochen alt.
Seitdem die Bundesregierung von 2021 das "Bedingungslose Grundeinkommen" eingeführt hatte, wollte keiner mehr für ein kleines Gehalt einen Job wie die Müllentsorgung mehr verrichten. Die Stadtverwaltung musste die Vergütung für die "Müllmänner" anheben, daraufhin stiegen auch die Müllgebühren ins unermessliche, welche die Bürger nicht mehr bezahlen wollten - eine Teufelsspirale, deren Ergebnis mir in diesem Moment ganz schön auf die Nase schlug.
Ich blickte mich um. Hinter der nächsten Häuserzeile stieg Rauch auf, ein Müllhaufen schien zu brennen. Irgendwo war Sirenengeheul, aber ich bezweifelte, dass sie jeden Brand rechtzeitig löschen würden. Die öffentlichen Schulden waren aufgrund der BGE-Finanzierung und unerwarteter Folgekosten 2021 explodiert, für die Ausstattung von Rettungsdiensten fehlte das Geld. Ansonsten war außer mehreren Pizza-Bringdiensten überraschend wenig Verkehr auf den Straßen.
Hinter fast jedem Fenster flackerte ein Fernseher und zeigte den Menschen Reality-Shows und Bilder aus der Welt der Schönen und Reichen - eine fremde Welt für die meisten Bürger von 2021, eine Welt, die sie selbst nie erleben werden. Denn das BGE hat die Armen zum Nichtstun verdammt und die Reichen noch reicher gemacht.
Ich ging weiter. In einem Hinterhof saß ein junger Mann auf einer völlig versifften Couch und zog an einer knallroten Bong. Über dem Müllgeruch konnte ich das Gras kaum wahrnehmen.
"Interpreter?", fragte ich ungläubig.
Er blickte müde auf.
"Hallo chen", sagte er und grinste. "Wie gefällt dir meine Welt? Setz dich zu mir."
Mit einem Schrei wachte ich auf und fuhr hoch. Ich blickte auf mein Handy. Es war wieder 2012.
Mein Mitbewohner bollerte gegen die Tür.
"Ey! Ruhe da drin! Ich muss früh raus und arbeiten!"
Mit einem Seufzer der Erleichterung sank ich wieder in die Kissen. Alles war gut.
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Wir wollen heute über das Bedingungslose Grundeinkommen - kurz BGE - sprechen. Leider hat mein Kontrahent es versäumt, dem Leser erst einmal zu erklären, was das überhaupt ist. Ich würde an dieser Stelle einfach auf den Wikipedia-Artikel verlinken:
Wikipedia: Bedingungsloses GrundeinkommenUnd da offenbart sich für mich das erste Problem - es gibt so viele radikal verschiedene BGE-Modelle, dass ich nicht genau weiß, welches mein Kontrahent bevorzugt; dementsprechend mag meine Kritik an der einen oder anderen Stelle ins Leere verlaufen.
Den meisten Modellen ist aber gleich, dass alle Bürger dieses Landes einen gewissen Betrag - z.B. 1000 Euro monatlich - erhalten sollen, ohne irgendetwas dafür zu tun. Ohne sich um eine Ausbildung, einen Schulabschluss, eine Lehre - oder halt einen Job kümmern zu müssen. Ein Paradies! Ein Schlaraffenland! Eine Star-Trek-Utopie, wo man nur einen Knopf am Replikator drücken muss, und schon kommen köstliche Speisen heraus!
Zumindest die Allmystery-Userschaft ist sich einig. Eine große Mehrheit antwortet auf die Frage
"BGE mit 1000 Euro/Monat- Würdet ihr dann dennoch einer sinnvollen Beschäftigung nachgehen?" klar:
"Nein ich kassiere die Kohle und bleib schön zuhause"Das bedingungslose Grundeinkommen - wie entscheidet ihr euch?Und wer soll das alles finanzieren? Über diese - vielleicht wichtigste Frage - liefert mein Kontrahent noch nicht einmal einen Hinweis. Gigantische Steuern? Schulden? 80% Mehrwertsteuer auf alles, wie mehrfach ausgerechnet wurde?
Sollen Ausländer auch die 1000 Euro im Monat erhalten? Oder nur Deutsche? Rennt uns dann nicht die halbe Welt die Bude ein?
Alles Fragen, auf die Antworten gefunden werden müssen. Aber darauf kommen wir im Laufe des Gesprächs noch sicher zu sprechen.
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Viele Punkte, die mein Kontrahent nennt sind wichtig und gut. Ich will hier auch auf keinen Fall als Turbokapitalist gelten - im Gegenteil: Ich bin sozialpolitisch eher links eingestellt, befürworte einen Mindestlohn und weniger Steuer für Geringverdiener. Zudem gibt es viele gute Konzepte eines solidarischen Bürgergeldes, die über Hartz 4 hinausgehen, aber nicht gleich die Schlaraffenland-Utopie eines BGE bringen.
interpreter schrieb:Seit ebenso vielen Jahrhunderten, ja überhaupt, seit es genug Überschüsse in der Wirtschaft gibt, um sie Wirtschaft zu nennen, ist dieses Prinzip von einem gewaltigen Problem geplagt, das grob zusammengefasst lautet: Ein Mensch kann mehr erschaffen, als er verbraucht.
Ich habe über diesen Satz viel nachgedacht. Ich muss zudem gestehen ein Naturwissenschaftler zu sein und bei ökonomischen Fragen vielleicht naive Vorstellungen zu haben.
Aber trotzdem erscheint mir diese Feststellung sehr kurz gegriffen. Natürlich kann ein Mensch viel mehr produzieren (an Wirtschaftskraft) als er während seines Lebens verbraucht. Aber unsere Gesellschaft wächst ja mit. Wir entwickeln uns immer weite fort, bauen Technik, bauen Großstädte, bauen Menschheitsträume. Aber dann stirbt vielleicht sein Kind, in dessen Erziehung und Ausbildung die Gesellschaft viel Geld gesteckt hat, bevor es arbeiten konnte. Vielleicht kommt es zum Krieg, und alle die "Überproduktion" von Generationen ist mit einem Mal dahin. Und auf jeden Fall wird der Mensch immer älter, "verbraucht" immer mehr Gesundheitsversorgung und hat ja auch Anrecht auf einen langen und erfüllten Lebensabend.
Hier wird das BGE als Lösung für ein Problem vorgeschlagen, welches A) in meinen Augen nicht unbedingt ein Problem ist und B) die Lösung nicht wirklich hilft.
Die Gesellschaft produziert zu viel, also verdonnern wir einen Teil zum Nichtstun? Das scheint mir ein Fehlschluss.
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interpreter schrieb:Das hat in der Industrialisierung zu einer gesellschaftlichen Änderung geführt, die bis dahin nie in diesem Ausmaß vorhanden war... Arbeitslosigkeit.
Das erscheint mir nicht zwingend logisch. Arbeitslosigkeit hat viele Gründe, und Automatisierung und Überproduktion sind sicher zwei davon. Wäre das der Fall, müssten die Arbeitslosenraten in wirtschaftlich vergleichbaren Ländern ähnlich sein - sind sie aber absolut nicht.
Wir haben ja nicht nur viele Arbeitslose, wir haben auch viele leere Stellen, die nicht besetzt werden können. Ich erlebe das selber jeden Tag an unserem Institut, auch viele Bekannte aus der Industrie erzählen ähnliches.
Das Problem ist offensichtlich - aus einem arbeitslosen Schlosser kann man nicht über eine paar Umschulungen einen Neurochirurgen machen. Deswegen bin ich auch unbedingt dafür, dass sich Deutschland viel mehr um seine Bildung kümmern muss - wir sind bei Bildungsausgaben eines der Schlusslichter in Europa! Wir brauchen Ganztagsschulen, wir brauchen mehr Naturwissenschaften, wir brauchen mehr motivierte und gutbezahlte Lehrer.
Aber jedem 1000 Euro in die Hand drücken und sagen "Hier, ihr könnt faulenzen wenn ihr wollt, oder Gedichte schreiben oder arbeiten, ist eigentlich egal..." -
Nein! Eine Katastrophe!
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interpreter schrieb:Automatisierung.
An dieser Stelle vielleicht eine Überraschung: Ich bin im Prinzip für das BGE! Aber nicht in diesem Jahrzehnt. Und nicht im nächsten. Und in den darauffolgenden erst einmal auch nicht.
Für eine utopische Star-Trek-Welt sieht das anders aus. Sobald jede körperliche Arbeit von Robotern verrichtet wird und alle Produktionsketten vollautomatisiert sind, fände ich das BGE eigentlich ganz sinnvoll. Aber das wird wohl eher 2100 ein Gesprächsthema sein, nicht heute.
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interpreter schrieb:Es ist an der Zeit den Konkurrenzdruck auf dem Arbeitsmarkt aufzulösen, der Menschen dazu zwingt immer schlechtere Arbeiten für immer weniger Geld anzunehmen.
Es ist an der Zeit den Arbeitsmarkt aufzulösen, der Menschen dazu zwingt immer schlechtere Arbeiten für immer weniger Geld anzunehmen.fixed.
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In meine Recherchen ist mir aufgefallen, dass Theorien zum BGE häufig von Soziologen und linken Politikern kommen, aber nie von Ökonomen.
Ökonomen scheinen bei dem Thema kollektiv zu facepalmen. Vielleicht sollten wir auf die hören, die das Thema am besten verstehen.