@Subsonic Ich rechne es mal nach einem anderen Vergleich.
Am 4. Mai 1521 wurde Martin Luther, nachdem er auf dem Reichstag zu Worms unter Kirchenbann und Reichsacht gestellt worden war (er war also ein Vogelfreier), auf dem Heimweg von Bediensteten des Kurfürsten Friedrich von Sachsen entführt und auf die Wartburg verbracht ("Schutzhaft"). Im September 1522 erschien die erste Auflage des von Luther dort auf der Wartburg ins Deutsche übersetzte Neuen Testaments. In diesen nicht einmal 17 Monaten hatte Martin Luther das Neue Testament übersetzt und drucken lassen. Bei der Übersetzungsarbeit mußte natürlich erst mal der übersetzte Text handschriftlich festgehalten werden; die Übertragung in einen Drucksatz war ein weiterer Schritt.
Dabei dauerte das Niederschreiben des Neuen Testaments natürlich deutlich länger als das handschriftliche Kopieren eines vorgegebenen Textes. In Kopierstuben, Scriptorien, las für gewöhnlich einer den Text vor, während zumeist mehrere andere je eine Abschrift des Verlesenen anfertigten. Das ersparte dem/den Kopisten die Zeit, vom Schreibblatt aufzuschauen, in der Vorlage den Fortgang zu suchen, zu lesen und sich dann wieder dem Schreibblatt zuzuwenden. Luther war kein geübter Kopist, er arbeitete alleine, und auch die konkrete Übersetzung benötigte Zeit. Wenn Luther nur dreimal so viel Zeit benötigte wie ein Kopist, dann war er wohl richtig gut.
Nachdem das NT fertig übersetzt war, könnte es gut möglich sein, daß es vor Drucksetzung erst noch einmal ins Reine geschrieben werden mußte. Wenn Luther Übersetzungen nochmals änderte, wird seine Handschrift ziemlich viele Durchstreichungen und Zwischen-die-Zeilen-Gekliere enthalten haben. Buchsetzer sollen nicht erst raten müssen, ob irgendein Kringel am Rand ein Tintenklecks ist oder ein einzuschiebendes Wort.
Was die Erstellung des Schriftsatzes für den Buchdruck betrifft, so dauert dies nochmals länger als die Anfertigung einer Handschrift im Scriptorium. Man kann weit schneller ein Wort niederschreiben, als die dafür nötigen passenden Buchstabenstempel im ersten Schritt zusammenzusuchen und im zweiten Schritt nebeneinanderzustellen. Immerhin könnten mehrere Setzer gleichzeitig am Satz arbeiten; jeder kümmert sich um ein Buch, also einer macht das Matthäusevangelium, der nächste das Markusevangelium usw. Freilich gab es keie Riesenfirmen mit zig Angestellten. Und wenn auf eine Seite dreißig Zeilen a dreißig Buchstaben gehen, dann benötigt jeder beschäftigte Setzer seinen eigenen Buchstabensatz von vielleicht 2000 Stempeln, eher deutlich mehr (wenn besonders viele Es auf eine Seite kommen müssen, muß man genügend in petto haben, auf der nächsten Seite könnten dann aber besonders viele Os, Ns oder Rs benötigt werden). Ich tippe mal darauf, daß selbst mit zwei bis vier Setzern die Arbeit wiederum deutlich länger dauert als das handschriftliche Abschreiben durch einen geübten Kopisten. Der Vorteil des Buchdrucks war ja, daß nach Setzen einer Seite beliebig viele Abzüge damit gemacht werden konnten, während die "Buchauflage" eines Scriptoriums von der Zahl der Kopisten abhing.
Selbst wenn das Septembertestament so schnell gesetzt wurde, daß der Satz genauso schnell durch war wie ein einzelnes Vonhandabschreiben, dann komme ich mit Luthers Vorarbeit also auf die Dauer von fünf NT-Abschreibephasen. Das in 17 Monaten ergibt 3 1/2 Monate für die Dauer eines einmaligen handschriftlichen Abschreibens des NT durch einen Kopisten im Scriptorium. Und das ist nur die schlechteste Rechnung. Sollte Luther mehr als das Dreifache an Zeit gebraucht haben, und sollte der Setzer bzw. sollten die mehreren langsamer gewesen sein als ein Kopist, dann verkürzt sich die Zeit, die ein Kopist fürs ganze NT braucht, nochmals. Ich bin mal so frei und gehe nicht von 3 1/2 Monaten fürs Abschreiben des NT aus, sondern nur von 2 1/3 Monaten.
In einer meiner Bibelausgaben steht das NT auf 352 Seiten verteilt. Da am Ende eines Evangeliums usw. oft ein Teil der Seite frei bleibt (das nächste fängt immer auf ner neuen Seite an), sind es also weniger als 350 volle Seiten. 2 1/3 Monate sind 70 Tage. Pro Tag fünf Seiten abgeschrieben, und in 70 Tagen hat ein Kopist das NT fertig. Pro Seite eine Stunde, fünf Stunden am Tag. Oder sechs, denn am Sontag sollst Du Christenmensch ja ruhen! Ehrlich gesagt, ich hege die Vermutung, die Kopisten waren schneller. Selbst in der Schule war ich beim Schreiben eines Diktats von einer Seitenlänge oder mehr deutlich schneller.
Aber bleiben wir mal bei den 70 Tagen. Das war ja nur das NT. Das AT ist ja dicker. Die Bibel, in der ich nachgeschaut habe, zeigt nun für das AT 1132 Seiten an. Das ist knapp mehr als das 3,2-Fache des NT-Umfangs. Rechne ich nun die 70 NT-Tage aufs AT hoch, ergibt das 225 Tage. Sieben einhalb Monate. Zweieindrittel Monate zuaddiert, und die ganze Bibel ist in zehn Monaten fertiggeschrieben, in einer Sechstagewoche mit Sechsstundentag und der Norm einer Seite pro Stunde.
Zehn Monate für das Abschreiben der gesamten Bibel. Wenn die Kopisten einen lockeren Arbeitstag hatten mit viel Freizeit und einer lausig niedrigen Stundennorm. Ich könnte mir vorstellen, daß es locker in der halben Zeit zu schaffen war.
Laut
http://www.bibel.com/faq/wieviele-verse-kapitel-und-woerter-hat-die-bibel.html hat die Schlachter Bibel 2000 (eine deutsche Übersetzung) 4.410.133 Zeichen, also auch Satzzeichen und selbst Leerzeichen mitgerechnet. Nach anderen sollen es rund 3,5 Millionen Buchstaben sein.
Meine letzte handschriftlich abgegebene Seminararbeit hatte pro Seite 30 Zeilen und pro Zeile im Schnitt knapp 40 Buchstaben. Die Arbeit war 170 Seiten lang (ohne Deckblatt, Register und so). Geschrieben hatte ich natürlich weit mehr. Gedanken, Entwürfe, erste Versuche etc machten vielleicht 3...4 mal so viel Text aus. Und dann das Schreiben ins Reine, das verbrauchte mindestens nochmal 170 Seiten aus - wenn ich mich z.B. im letzten Wort auf einem Blatt verschrieben hatte, war es für'n Papierkorb. Also schrieb ich vielleicht 1000 Seiten voll, mit 1200 Buchstaben pro Seite. Macht über eine Millionen Buchstaben. Wegen Termindrucks mußte ich die (200.000 Buchstaben!) Reinschrift im Akkord schreiben, in wenigen Tagen (zu lange her, als daß ich noch sagen könnte, wie viel). Ich weiß noch, mein Mittelfinger tat dort, wo er den Füllfederhalter stützte, tierisch weh. Am Ende mußte ich den Füller fast nach jedem Satz erst mal kurz aus der Hand legen. Der Huckel am ersten Fingergelenk ist rechts noch heute dicker als an der linken Hand.