Archiv: Ein Dorf im Ausnahmezustand
Canneto
Das Sofa hat einfach Feuer gefangen. 40 Jahre wohne ich hier, nie ist was passiert. Ich saß da auf meinem Sessel. Plötzlich sehe ich es brennen. Ich bin weg, so schnell es ging. Was soll man dazu sagen?"
Große Aufregung. Die Regierung in Rom ruft den Notstand aus, Staatsanwaltschaft und militärischer Abwehrdienst werden eingeschaltet. Wissenschaftler aus ganz Italien eilen nach Sizilien, während Einwohner ihre Häuser aus Angst verlassen.
Canneto Ende April - ein Geisterdorf. Nur die Feuerwehr patrouilliert. Die Häuser – verrammelt, verschlossen. Drei Monate nach Beginn des Spuks tappen die Experten noch immer im Dunkeln. Wie der Geochemiker Professor Giuseppe Maschio von der Universität Messina: "Wir haben es hier mit einem Ereignis zu tun, das wissenschaftlich noch nie beschrieben wurde, für das es keine Vergleiche gibt. Klar, dass dieses Phänomen die Medien fasziniert – aber natürlich auch uns Wissenschaftler: Eben weil es so absolut einzigartig ist."
Was geht vor?
Was geht vor in dem kleinen Dorf an der sizilianischen Nordküste? Um das Geheimnis zu lüften, haben die Forscher es in ein Open Air - Laboratorium verwandelt. Denn es sind ja nicht nur die Brände:
Der Kompass spielt verrückt. Autos starten wie von Geisterhand. Fernseher schalten sich ein, Handys wählen von allein. Autotüren blockieren oder lassen sich nicht mehr schließen. Ein Kleinbus fliegt in die Luft, als er in Cannetos Hauptstraße einbiegt.
Der Fahrer überlebt, aber die Panik in der Bevölkerung steigt. Der Chef der Carabinieri, Colonello Francesco Chiaravalloti, wiegelt ab: "Man sollte nicht hinter allem, was nicht gleich zu erklären ist, ein Verbrechen vermuten. Hier geht es weder um Pyromanen noch um Paranormales."
Vergebliche Ursachen-Suche, Spekulationen und Gerüchte
Dann vielleicht um vulkanische Phänomene? Der Ätna – immer gut für feurige Überraschungen - ist nur ein paar hundert Kilometer entfernt. Spezialisten suchen nach unterirdischen und atmosphärischen Auslösern. Ergebnis: Nichts.
"Falls wirklich elektromagnetische Wellen schuld sind, dann lassen sie sich wahrscheinlich nur in dem Moment erfassen, in dem die Phänomene tatsächlich auftreten. Wir haben jetzt mehr als sechshundert Stunden lang kontinuierlich gemessen, das ist ja nun wirklich nicht wenig: Aber: Nichts ist passiert", erklärt Domenico Spoto, Ingenieur im Ministerium für Kommunikation.
Katastrophen-Alltag: Die Bewohner leben außerhalb des Dorfes in Notunterkünften. Nur stundenweise dürfen sie nach Hause. Um das Nötigste zu holen. Oder zum Blumengießen.
Mitte März: der Ausnahmezustand
Dann Mitte März, nach einem Monat trügerischer Ruhe, geht der Spuk in Canneto von neuem los: Wieder Brände. Wieder verkohlte Wohnungen. Jetzt müssen alle ihre Häuser verlassen. Die werden auf höchstrichterlichen Beschluss beschlagnahmt. Ausnahmezustand! Exorzisten bieten ihre Dienste an. Aber der Teufel oder ein Wahnsinniger waren’s nicht – das haben die Carabinieri amtlich festgestellt. Die Einwohner sind sauer: "Ich sehe vor allem eine große Inkompetenz bei allen Verantwortlichen. Oder sie wollen jemanden decken, was weiß ich warum? Denn wenn das wirklich Wissenschaftler sind – so nennen sie sich doch - dann hätten sie uns irgend etwas zu sagen", meint Nino Pezzino, Bürgersprecher von Canneto.
Dabei sieht es nur manchmal so aus, als täten die Experten nichts.
Messungen an der Bahnstrecke neben den Häusern von Canneto: Haben die mysteriösen Energie-Ausbrüche etwa mit den Zügen zu tun? Die ungeduldigen Einwohner haben jetzt sogar einen eigenen Sachverständigen, den Ingenieur Franco Valenti beauftragt: "Die Quelle dieser Energie ist eindeutig die Bahn. Da funktioniert die Erdung nicht richtig. Die Ströme werden nicht ordentlich abgeleitet, sie fließen bis zu den Häusern."
Canneto nur ein Randphänomen?
Der Geochemiker Maschio bezweifelt das: "Kann schon sein, die Bahn ... Aber – eher doch nicht. Vielleicht ist Canneto nur ein Randphänomen in einem viel größeren Szenario. Wir müssten uns die ganze Nordküste ansehen, auch auf vulkanische Ursachen hin. Um das jedoch zu untersuchen, bräuchten wir die Spezialschiffe der Kriegsmarine mit ihren hochempfindlichen Messinstrumenten."
Aber die sind derzeit im Irak eingesetzt. Und deshalb werden die Tore in Canneto auch für die Einwohner wohl noch länger geschlossen bleiben. Niemand kann zur Zeit sagen, wann endlich wieder ein normales Leben beginnt – in Canneto di Caronia, dem sizilianischen "Feuerdorf" am Meer. Quelle W wie Wissen
http://www.abendblatt.de/daten/2004/03/29/278533.html?prx=1 (Archiv-Version vom 03.03.2006)http://www.sueddeutsche.de/panorama/artikel/523/26497/print.html