Arte reportage "Verbotene Aufnahmen"
27.10.2006 um 09:39
Mittwoch 26. Juli 2006 um 00.15 Uhr
Verbotene Aufnahmen
von Jean-TeddyFilippe
Jean-Teddy Filippe ist ein Meister im Herstellen "gefälschter"Dokumentationen, das heißt fiktionaler Filme, die aber dokumentarisch wirken. MitAufnahmen im Amateurstil von The Blair Witch Project verunsichert und verängstigt erregelmäßig einige seiner Zuschauer, die sich nicht von ihrer Überzeugung abbringen lassenwollen, dass es sich bei den Aufzeichnungen um die Darstellung realer Ereignisse handelt.
"KurzSchluss" hat bereits über den Filmemacher berichtet und stellt heute seineReihe Verbotene Aufnahmen ("Les documents interdits") vor, die zwölf Kurzfilme umfasst,die allesamt von außergewöhnlichen Ereignissen und ungelösten Rätseln handeln. Diemeisten von ihnen wirken wie Amateurfilme und bringen die Zuschauer an die Grenzezwischen Wirklichem und Unwirklichem. Die Aufzeichnungen, die einen Zeitraum von mehr alseinem halben Jahrhundert umfassen, wurden Jean-Teddy Filippe angeblich über dunkle undgeheimnisvolle Kanäle in die Hände gespielt. Der Filmemacher stellte sie daraufhin nachmonatelangen Recherchen zu einer Sammlung von "authentischen" Geschichten zusammen, anderen Echtheit man nur glauben kann.
Kurzfilme dieser Reihe sind unter anderemDer Schiffbruch, in dem der einzige Überlebende eines Schiffuntergangs Zeuge einesübernatürlichen Phänomens wird, Das Picknick, Der Außerirdische und Der Fall Fergusson.
Kommentar
Die Kurzfilme aus der Reihe VerboteneAufnahmen wirken befremdlich. Sie sind weder Parodien noch wirklich komisch, sondernlösen eher Besorgnis aus. Sie sind die gelungensten Beispiele des Genres in den letztenfünfzehn Jahren.
Um die seltsam anmutenden Geschichten von Verbotene Aufnahmenbesser einordnen zu können, hier ein Vergleich: 1999, also zehn Jahre nach den VerbotenenAufnahmen, wurde in den USA ein Horrorfilm gedreht, der rasch Kultstatus erlangte, TheBlair Witch Project. Man weiß nicht, ob die beiden Regisseure Daniel Myrick und EduardoSanchez Jean-Teddy Filippes Kurzfilmreihe kannten, aber das handwerkliche und inhaltlicheKonzept ihres Films ist dem der Verbotenen Aufnahmen sehr ähnlich.
In The BlairWitch Project machen sich drei Studenten auf, um eine Dokumentation in einem angeblichvon einer Hexe bewohnten Wald in Maryland zu drehen. Wie Verbotene Aufnahmen zeigt auchThe Blair Witch Project wenig Konkretes – es erscheint kein Monster am Bildschirm, derZuschauer erfährt nie, was wirklich passiert ist –, sondern manipuliert dieVorstellungskraft des Zuschauers. The Blair Witch Project folgt dem Postulat, dass esheute neue ästhetische und erzählerische Formen braucht, um den Zuschauer das Gruseln zulehren: chaotischer, unvorhersehbarer, eher dem Genre Dokumentation nachempfunden.
Selbst, wenn The Blair Witch Project und Verbotene Aufnahmen demselben Prinzipfolgen, so gibt es doch einen wesentlichen Unterschied: In The Blair Witch Project sollder Zuschauer in einen Horrorfilm eintauchen und wird quasi dazu gezwungen, den Film vonder Warte der Opfer zu erleben. Ganz anders in Verbotene Aufnahmen.
The Blair WitchProject baut auf erzwungene Identifizierung, Verbotene Aufnahmen dagegen auf einedeutliche Distanzierung zum Gesehenen. Ein filmisches und erzählerisches Elementunterscheidet Verbotene Aufnahmen radikal von The Blair Witch Project: die Off-Stimme,mit der die Kurzfilme kommentiert werden.
Ein anschauliches Beispiel ist derKommentar der ersten Folge, Die Taucher.
Sofort fällt auf, dass man nicht nur eineOff-Stimme hört, sondern zwei: O-Ton und Übersetzung. Außerdem werden Namen ausgepiepst.
Das Dokument wird also nicht im Originalzustand gezeigt, sondern erst nach einerpeinlich genauen Analyse durch Experten, nach Übersetzung und Zensur.
Einweiterer wichtiger Punkt ist die Stimmführung des Off-Kommentars. Der Sprecher setzt nieab, spricht ohne Punkt und Komma, scheint sich selbst zum Luftholen kaum Zeit zu nehmen.Der monotone, pausenlose Kommentar steht im krassen Gegensatz zum chaotischen Aspekt desBildes. Auf der einen Seite also ein Bild mit hektischen Schnitten, Löchern undunverständlichen Pausen, auf der anderen der eintönige, nie endende Kommentar. DieOff-Stimme scheint als Mörtel für ein radikal uneinheitliches, fast schon zerhacktes Bildzu dienen.
Bild- und Tonspur sind ganz klar nicht aus einem Guss.
Treibenwir die Überlegungen zu dieser merkwürdigen Diskrepanz zwischen Bild und Ton noch etwasweiter, anhand eines zweiten Beispiels, Der Schiffbruch.
In den ersten Minuten desFilms beschreibt die Off-Stimme – fast schon überflüssigerweise – das Bild. EinigeMinuten später wird es kompliziert: „Achten Sie genau darauf, was jetzt passiert“, „Eswird alles sehr schnell gehen“. Sämtliche Folgen der Reihe Verbotene Aufnahmen enthaltenderlei Ankündigungen eines unmittelbar bevorstehenden mysteriösen Ereignisses. DieOff-Stimme greift also vor, sie weiß etwas, was der Zuschauer noch nicht weiß. Leider hatdas mit so viel Spannung angekündigte Ereignis häufig objektiv nicht viel Mysteriöses zubieten. Der Zuschauer muss alleine mit diesem Widerspruch fertig werden.
Theoretisch könnte diese Diskrepanz zwischen Bild und Ton als bewusste Distanzierungzum Film Heiterkeit auslösen. Dabei bewirkt sie das genaue Gegenteil: Der Zuschauer istumso beunruhigter. Durch die Ankündigung sieht man das Bild anders, sucht ängstlich nachIndizien und interpretiert etwas in das Bild hinein, was dort womöglich gar nichtvorkommt. Der Kommentar manipuliert den Zuschauer, gibt ihm vor, was er zu sehen hat –manchmal bis zu einem Punkt, wo ein Fantasiegebilde die Realität verdrängt.
Dieunerklärlichen Phänomene der Kurzfilmreihe Verbotene Aufnahmen sind weniger in denDokumenten selbst enthalten als im Projektionsvermögen des angespannten Zuschauers.
Luc Lagier für KurzSchluss (Das Magazin), im Juni 2006.
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sorry, ist ein bischen lange, aber es lohnt sich zu lesen.