Die Tilma von Guadalupe
18.05.2005 um 12:00
Die Zeugen Jehovas
Dr. Andreas Fincke
Die Zeugen Jehovas (ZJ) sind wohl die bekannteste religiöse Sondergemeinschaft in Deutschland. Sie gelten als die "Sekte" schlechthin.
Name und Organisation
Wie bei politischen oder anderen religiösen Organisationen wird man zwischen der ideologischen Leitung und den "einfachen" Anhängern unterscheiden müssen. An der Spitze steht die "Wachtturmgesellschaft" (WTG) sowie seit 1971 eine sog. "Leitende Körperschaft". Sie verdient kritische Anmerkungen; die Mitglieder und Sympathisanten nennen sich "Jehovas Zeugen" (vgl. Jes 43, 10) und sind zumeist menschlich glaubwürdig und engagiert. Sie werden jedoch von der WTG-Organisation in so einseitiger Weise geschult, daß mitunter die Grenzen zwischen "Schulung" und Manipulation verschwimmen.
Die Wurzeln der "Ernsten Bibelforscher"
Am Anfang der Bewegung stand Charles Taze Russell (1852-1916). Russell hatte als junger Mensch unterschiedliche Kirchen kennengelernt und verschiedenes Glaubensgut in sich aufgenommen, so auch die für die späteren Zeugen Jehovas wichtige Überzeugung von der Berechenbarkeit und Datierbarkeit des Weltendes. Zunächst erwarteten Russell und seine Freunde für 1872/73 das Ende der Welt und die sichtbare Wiederkunft Christi. Als dieser Zeitpunkt verstrichen war, hoffte man auf das Jahr 1874. Nachdem sich die Wiederkunft Christi auch da nicht ereignet hatte, gründete Russell einen eigenen Bibelstudienkreis. Ab 1879 gab er eine Zeitschrift heraus, den "Zion’s Watch Tower and Herald of Christ’s Presence", den späteren "Wachtturm". Es entstanden Lesezirkel, die den Namen "Ernste Bibelforscher" erhielten. Russell wollte überkonfessionell wirken und keine neue Denomination oder gar "Sekte" gründen. Er steckte sein nicht geringes Vermögen in das von ihm gegründete Verlags- und Missionswerk, in die "Zion’s Watch Tower Tract Society" (heute: "Watch Tower Bible and Tract Society of Pennsylvania"). Ein Schwerpunkt der Botschaft der neuen Bewegung war die Verheißung, daß mit dem Jahre 1914 das Königreich Gottes auf der Erde in Gestalt eines großen Friedensreiches beginnen werde. Als auch diese Prophezeiung nicht eintrat, wandten sich Tausende enttäuscht ab. Russell starb 1916.
Die Entstehung einer straff geführten Organisation
1917 wurde Joseph Franklin Rutherford (1869-1942) Russells Nachfolger. Er macht die Bewegung zu dem, was wir heute unter den Zeugen Jehovas verstehen: Er zwängte die nur lose miteinander verbundenen Versammlungen in eine straff geführte Organisation, in die "Theokratische Organisation" der "Zeugen Jehovas". Rutherford beseitigt die demokratischen Strukturen: Die frei gewählten Ältesten werden durch eingesetzte Versammlungsleiter ersetzt (sog. "Dienstkomitees"). Es entsteht ein Netz gegenseitiger Kontrolle. Aus engagierten Laien und interessierten Bibellesern ("Bibelforschern") werden geschulte "Wachtturm"-Verkäufer. Rutherford perfektionierte die bekannten Besuche von Haus zu Haus. Auf ihn gehen auch die monatlichen Predigtdienstberichte, die jährlichen Kongresse sowie das System der "Königreichssäle" (das sind die Versammlungsräume der ZJ) zurück. Die sog. "Leitende Körperschaft" in Brooklyn versteht sich jetzt als "Offenbarungs- und Verbindungskanal Jehovas". Ihren Anweisungen und Bibelinterpretationen ist genau zu folgen. Sie baut die Organisation der Zeugen Jehovas zu einer "Propagandamaschine" aus.
Nach Rutherfords Tod 1942 wurde Nathan Homer Knorr (1905-1977) Präsident der WTG. Er ist der große Organisator, unter dessen Leitung die Gesellschaft ein rapides Wachstum erlangt. Allein in den Jahren 1939 bis 1948 verfünffacht sich die Zahl der "Verkündiger" (das sind die aktiven Zeugen) auf 230 532. Sie waren in fast 100 Ländern aktiv. 1971/72 installiert Knorr das sog. "Ältestenamt". Die Ältesten sind Funktionäre, die sich durch besonderes Engagement für die ZJ qualifiziert haben. Der Präsident verlangt strenge Disziplin. 1977 wurde Frederic William Franz (1893-1992) im Alter von 84 Jahren sein Nachfolger; seit dem 30. 12. 1992 ist Milton G. Henschel Präsident.
Statistik
1998 gab es weltweit etwa 5,5 Mio. sog. "Verkündiger". Ein nennenswertes Wachstum verzeichnet die Organisation in Osteuropa und in Lateinamerika.
Die derzeitige Lage in Deutschland
Die Zeugen Jehovas sind eine der missionarisch aktivsten Religionsgemeinschaften in Deutschland. Es gibt praktisch keinen Ort, an dem nicht missioniert wird. Zu besonderen Anlässen werden sog. "Sonderfeldzüge" ausgerufen. In Deutschland ist derzeit von etwa 166 000 Verkündigern auszugehen; die Zahlen sind in den letzten Jahren leicht rückgängig. Da Jehovas Zeugen dennoch Neuzugänge (Taufen) verzeichnen, muß man vermuten, daß jährlich viele Menschen die Organisation verlassen. Die Zentrale für Deutschland befindet sich in Selters/Taunus. Hier werden jährlich mehr als 12 Mio. Bücher und über 100 Mio. Zeitschriften hergestellt. Ein Großteil dieser Produktion geht ins Ausland.
Besonderheiten der Lehre
Grundlage ist die Heilige Schrift in der von der Wachtturmgesellschaft genehmigten Auslegung. Die Bibel wird als wörtlich inspiriert angesehen. Jede Bibelstelle gilt einer anderen gleichwertig. Häufig argumentieren Zeugen Jehovas mit biblischen Aussagen in einem völlig anderen Kontext als dem der Heiligen Schrift. Verstärkt wird dieses tendenziöse Verfahren durch eine eigene Bibelübersetzung, die sog. "Neue-Welt-Übersetzung". Hier haben viele Begriffe aus dem Sprachgebrauch der Zeugen Eingang gefunden. Eine der gravierendsten Verfälschungen in dieser Übersetzung besteht darin, daß an 237 Stellen der (angebliche) Gottesname "Jehova" in den Text des Neuen Testaments aufgenommen wurde, obwohl dieses Wort im Urtext nicht vorkommt. Die Zeugen gehen davon aus, daß Gott seinen heilsgeschichtlichen Zeitplan in der Bibel verborgen niedergeschrieben hat. Daraus folgern sie die Notwendigkeit, die Bibel und ihre Zahlenangaben "richtig" zu deuten.
Die beiden Zeitschriften der Zeugen Jehovas erscheinen in gewaltiger Auflage: "Der Wachtturm" 22 Mio., "Erwachet!" 19 Mio., und zwar in 132 bzw. 83 Sprachen. Beide Hefte kommen zweimal im Monat heraus und sind in jüngster Zeit deutlich "moderner" und ansprechender gestaltet.
Die WTG bzw. die Zeugen Jehovas kennen keine Ökumene, das heißt, sie halten sich für die einzigen richtigen Christen. Andere Kirchen oder Weltreligionen werden radikal abgelehnt und als Formen "falscher Religion" abgetan. Bei den Zeugen heißt Glauben in erster Linie "fortschreitende Erkenntnis" aufnehmen und verbreiten, also über ein abfragbares Bibelwissen zu verfügen.
Besondere Probleme
Bluttransfusionen, selbst wenn sie lebensrettend und medizinisch dringend geboten sind, werden unter Hinweis auf Apostelgeschichte 15, 29 und alttestamentliche Stellen abgelehnt. Dem ist entgegenzuhalten, daß an den angegebenen Stellen keine Bluttransfusionen gemeint sind, und dem widerspricht auch Matthäus 12,7: "Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer."
Der Alltag
Das Leben eines Zeugen Jehovas ist durch Vorgaben der WTG streng geregelt, auch wenn nicht jedes Verbot als ausdrückliches Verbot in den Publikationen genannt ist: Jehovas Zeugen wissen sehr genau, was erlaubt ist und was Jehova (bzw. die WTG) nicht wünscht. So ist persönlicher Umgang mit Menschen, die keine Zeugen Jehovas sind, in der Regel zu vermeiden. Die Lektüre kritischer Bücher und erst recht die Lektüre von Aussteigerliteratur gilt als verwerflich. Die Mitgliedschaft in Sportvereinen usw. war lange Zeit verpönt.
Viele Feste (Weihnachten, Geburtstage, Fasching etc.) werden als "heidnisch" abgelehnt. Parteien, Gewerkschaften usw. werden kritisch gesehen. Viele Jahre war den ZJ nicht nur der Wehrdienst, sondern auch der Wehrersatzdienst verboten. Ähnliches gilt für die Teilnahme an Wahlen: Viele Jahrzehnte haben Jehovas Zeugen an keiner Wahl teilgenommen. In jüngster Zeit zeigt man in dieser Frage zwar nach Außen Kompromißbereitschaft, es ist jedoch davon auszugehen, daß die kritische Haltung zum Staat dennoch beibehalten wird.
Beurteilung
Die Zeugen Jehovas beeindrucken durch ihr persönliches Engagement, ihre Rastlosigkeit und ihr oftmals glaubwürdiges Auftreten. Aber dies ist nur die eine Seite. Hinter ihrer Fassade erweist sich diese Gemeinschaft sehr schnell als restriktive Organisation, die von den Anhängern blinden Gehorsam erwartet und für kritische Rückfragen, Einwände oder Bedenken keinen Raum hat. Die Wachtturmgesellschaft schuf ein geschlossenes ideologisches System, das jedem einzelnen seinen Platz zuordnet. Mehr noch: Die Organisation verspricht ein Überleben des Weltendes durch Zugehörigkeit zu ihr als der "richtigen" Organisation und durch fortwährende Beteiligung an deren Werbeaktivitäten. Daß die Organisation damit dem Gericht Gottes vorgreift, erscheint besonders kritikwürdig. Für viele Menschen, die sich nach Orientierung, Sicherheit und Geborgenheit in ihrem Leben sehnen, liegt aber gerade darin die Faszination der Zeugen Jehovas.
Ratschläge
Häufig sind Christen ratlos, wenn Jehovas Zeugen unvermittelt an der Wohnungstür stehen. Folgende Hinweise sind hilfreich:
Streitgespräche mit Jehovas Zeugen sind wenig sinnvoll. Meist sind Laien der geschulten Gesprächsführung der Zeugen nicht gewachsen.
Sagen Sie deutlich, daß Sie keine weiteren Besuche möchten, andernfalls werden die Zeugen immer wieder sogenannte "Rückbesuche" bei Ihnen versuchen.
Machen Sie Ihren Besuchern klar, daß Sie sich bei Ihrer Kirchengemeinde (hoffentlich!) gut aufgehoben fühlen und keinen Bedarf sehen, sich einer anderen Gemeinschaft anzuschließen.
Wenden Sie sich bei weiteren Fragen an das örtliche Pfarramt oder an die EZW.
Literatur (Auswahl)
Lebensberichte ehemaliger Zeugen:
Raymond Franz, Der Gewissenskonflikt, München 1988.
Josy Doyon, Hirten ohne Erbarmen, Zürich 1986.
Günther Pape, Ich war Zeuge Jehovas, Augsburg 1988.
Grundlegende und einführende Literatur
Kurt Hutten, Seher, Grübler, Enthusiasten, Stuttgart 1982.
Friedrich-Wilhelm Haack / Thomas Gandow, Jehovas Zeugen, München 1997.
Hans-Jürgen Twisselmann, Der Wachtturmkonzern der Zeugen Jehovas. Anspruch und Wirklichkeit, Gießen 1995.
Klaus-Dieter Pape, Die Angstmacher. Wer (ver)führt die Zeugen Jehovas?, Leipzig 1998.
Detlef Garbe, Glaubensgehorsam und Märtyrergesinnung; Hans-Jürgen Twisselmann, Satans System oder Gottes Zulassung auf Zeit, EZW-Text 145, Berlin 1999.
Andreas Fincke, Wir sind kein Teil der Christenheit, Jehovas Zeugen heute, in: Materialdienst der EZW, 5/2000, 138 ff.
Tja, wo bin ich