Vor dem Gesetz
06.12.2006 um 16:34
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wer lust hat zu lesen ;) ->
verschiedeneinterpretationsmöglichkeiten werden vom geistlichen aufgestellt und wiederlegt:
nach der parabel [...] »Der Türhüter hat also den Mann getäuscht«, sagte K.sofort, von der Geschichte sehr stark angezogen. »Sei nicht übereilt«, sagte derGeistliche, »übernimm nicht die fremde Meinung ungeprüft. Ich habe dir die Geschichte imWortlaut der Schrift erzählt. Von Täuschung steht darin nichts.« »Es ist aber klar«,sagte K., »und deine erste Deutung war ganz richtig. Der Türhüter hat die erlösendeMitteilung erst dann gemacht, als sie dem Manne nicht mehr helfen konnte.« »Er wurdenicht früher gefragt«, sagte der Geistliche, »bedenke auch, daß er nur Türhüter war, undals solcher hat er seine Pflicht erfüllt.« »Warum glaubst du, daß er seine Pflichterfüllt hat?« fragte K., »er hat sie nicht erfüllt. Seine Pflicht war es vielleicht, alleFremden abzuwehren, diesen Mann aber, für den der Eingang bestimmt war, hätte ereinlassen müssen.« »Du hast nicht genug Achtung vor der Schrift und veränderst dieGeschichte«, sagte der Geistliche. »Die Geschichte enthält über den Einlaß ins Gesetzzwei wichtige Erklärungen des Türhüters, eine am Anfang, eine am Ende. Die eine Stellelautet: daß er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne, und die andere: dieserEingang war nur für dich bestimmt. Bestände zwischen diesen beiden Erklärungen einWiderspruch, dann hättest du recht, und der Türhüter hätte den Mann getäuscht. Nunbesteht aber kein Widerspruch. Im Gegenteil, die erste Erklärung deutet sogar auf diezweite hin. Man könnte fast sagen, der Türhüter ging über seine Pflicht hinaus, indem erdem Mann eine zukünftige Möglichkeit des Einlasses in Aussicht stellte. Zu jener Zeitscheint es nur seine Pflicht gewesen zu sein, den Mann abzuweisen, und tatsächlichwundern sich viele Erklärer der Schrift darüber, daß der Türhüter jene Andeutungüberhaupt gemacht hat, denn er scheint die Genauigkeit zu lieben und wacht streng übersein Amt. Durch viele Jahre verläßt er seinen Posten nicht und schließt das Tor erst ganzzuletzt, er ist sich der Wichtigkeit seines Dienstes sehr bewußt, denn er sagt: «Ich binmächtig», er hat Ehrfurcht vor den Vorgesetzten, denn er sagt: «Ich bin nur der untersteTürhüter», er ist nicht geschwätzig, denn während der vielen Jahre stellt er nur, wie esheißt, «teilnahmslose Fragen», er ist nicht bestechlich, denn er sagt über ein Geschenk:«Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben», er ist, wo es umPflichterfüllung geht, weder zu rühren noch zu erbittern, denn es heißt von dem Mann, «erermüdet den Türhüter durch sein Bitten», schließlich deutet auch sein Äußeres auf einenpedantischen Charakter hin, die große Spitznase und der lange, dünne, schwarze,tartarische Bart. Kann es einen pflichttreueren Türhüter geben? Nun mischen sich aber inden Türhüter noch andere Wesenszüge ein, die für den, der Einlaß verlangt, sehr günstigsind und welche es immerhin begreiflich machen, daß er in jener Andeutung einerzukünftigen Möglichkeit über seine Pflicht etwas hinausgehen konnte. Es ist nämlich nichtzu leugnen, daß er ein wenig einfältig und im Zusammenhang damit ein wenig eingebildetist. Wenn auch seine Äußerungen über seine Macht und über die Macht der anderen Türhüterund über deren sogar für ihn unerträglichen Anblick - ich sage, wenn auch alle dieseÄußerungen an sich richtig sein mögen, so zeigt doch die Art, wie er diese Äußerungenvorbringt, daß seine Auffassung durch Einfalt und Überhebung getrübt ist. Die Erklärersagen hierzu: «Richtiges Auffassen einer Sache und Mißverstehen der gleichen Sacheschließen einander nicht vollständig aus.» Jedenfalls aber muß man annehmen, daß jeneEinfalt und Überhebung, so geringfügig sie sich vielleicht auch äußern, doch dieBewachung des Eingangs schwächen, es sind Lücken im Charakter des Türhüters. Hiezu kommtnoch, daß der Türhüter seiner Naturanlage nach freundlich zu sein scheint, er istdurchaus nicht immer Amtsperson.
Gleich in den ersten Augenblicken macht er den Spaß,daß er den Mann trotz dem ausdrücklich aufrechterhaltenen Verbot zum Eintritt einlädt,dann schickt er ihn nicht etwa fort, sondern gibt ihm, wie es heißt, einen Schemel undläßt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen. Die Geduld, mit der er durch alle dieJahre die Bitten des Mannes erträgt, die kleinen Verhöre, die Annahme der Geschenke, dieVornehmheit, mit der er es zuläßt, daß der Mann neben ihm laut den unglücklichen Zufallverflucht, der den Türhüter hier aufgestellt hat - alles dieses läßt auf Regungen desMitleids schließen. Nicht jeder Türhüter hätte so gehandelt. Und schließlich beugt ersich noch auf einen Wink hin tief zu dem Mann hinab, um ihm Gelegenheit zur letzten Fragezu geben. Nur eine schwache Ungeduld - der Türhüter weiß ja, daß alles zu Ende ist -spricht sich in den Worten aus: «Du bist unersättlich.» Manche gehen sogar in dieser Artder Erklärung noch weiter und meinen, die Worte «Du bist unersättlich» drücken eine Artfreundschaftlicher Bewunderung aus, die allerdings von Herablassung nicht frei ist.Jedenfalls schließt sich so die Gestalt des Türhüters anders ab, als du es glaubst.« »Dukennst die Geschichte genauer als ich und längere Zeit«, sagte K. Sie schwiegen einWeilchen. Dann sagte K.: »Du glaubst also, der Mann wurde nicht getäuscht?« »Mißverstehemich nicht«, sagte der Geistliche, »ich zeige dir nur die Meinungen, die darüberbestehen. Du mußt nicht zuviel auf Meinungen achten. Die Schrift ist unveränderlich, unddie Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der Verzweiflung darüber. In diesem Falle gibt essogar eine Meinung, nach welcher gerade der Türhüter der Getäuschte ist.« »Das ist eineweitgehende Meinung«, sagte K. »Wie wird sie begründet?« »Die Begründung«, antwortete derGeistliche, »geht von der Einfalt des Türhüters aus. Man sagt, daß er das Innere desGesetzes nicht kennt, sondern nur den Weg, den er vor dem Eingang immer wieder abgehenmuß. Die Vorstellungen, die er von dem Innern hat, werden für kindlich gehalten, und mannimmt an, daß er das, wovor er dem Manne Furcht machen will, selbst fürchtet. Ja, erfürchtet es mehr als der Mann, denn dieser will ja nichts anderes als eintreten, selbstals er von den schrecklichen Türhütern des Innern gehört hat, der Türhüter dagegen willnicht eintreten, wenigstens erfährt man nichts darüber. Andere sagen zwar, daß er bereitsim Innern gewesen sein muß, denn er ist doch einmal in den Dienst des Gesetzesaufgenommen worden, und das könne nur im Innern geschehen sein. Darauf ist zu antworten,daß er wohl auch durch einen Ruf aus dem Innern zum Türhüter bestellt worden sein könnteund daß er zumindest tief im Innern nicht gewesen sein dürfte, da er doch schon denAnblick des dritten Türhüters nicht mehr ertragen kann. Außerdem aber wird auch nichtberichtet, daß er während der vielen Jahre außer der Bemerkung über die Türhüter irgendetwas von dem Innern erzählt hätte. Es könnte ihm verboten sein, aber auch vom Verbot hater nichts erzählt. Aus alledem schließt man, daß er über das Aussehen und die Bedeutungdes Innern nichts weiß und sich darüber in Täuschung befindet. Aber auch über den Mannvom Lande soll er sich in Täuschung befinden, denn er ist diesem Mann untergeordnet undweiß es nicht. Daß er den Mann als einen Untergeordneten behandelt, erkennt man ausvielem, das dir noch erinnerlich sein dürfte. Daß er ihm aber tatsächlich untergeordnetist, soll nach dieser Meinung ebenso deutlich hervorgehen. Vor allem ist der Freie demGebundenen übergeordnet. Nun ist der Mann tatsächlich frei, er kann hingehen, wohin erwill, nur der Eingang in das Gesetz ist ihm verboten, und überdies nur von einemeinzelnen, vom Türhüter. Wenn er sich auf den Schemel seitwärts vom Tor niedersetzt unddort sein Leben lang bleibt, so geschieht dies freiwillig, die Geschichte erzählt vonkeinem Zwang. Der Türhüter dagegen ist durch sein Amt an seinen Posten gebunden, er darfsich nicht auswärts entfernen, allem Anschein nach aber auch nicht in das Innere gehen,selbst wenn er es wollte. Außerdem ist er zwar im Dienst des Gesetzes, dient aber nur fürdiesen Eingang, also auch nur für diesen Mann, für den dieser Eingang allein bestimmtist. Auch aus diesem Grunde ist er ihm untergeordnet. Es ist anzunehmen, daß er durchviele Jahre, durch ein ganzes Mannesalter gewissermaßen nur leeren Dienst geleistet hat,denn es wird gesagt, daß ein Mann kommt, also jemand im Mannesalter, daß also derTürhüter lange warten mußte, ehe sich sein Zweck erfüllte, und zwar so lange wartenmußte, als es dem Mann beliebte, der doch freiwillig kam. Aber auch das Ende des Diensteswird durch das Lebensende des Mannes bestimmt, bis zum Ende also bleibt er ihmuntergeordnet. Und immer wieder wird betont, daß von alledem der Türhüter nichts zuwissen scheint. Daran wird aber nichts Auffälliges gesehen, denn nach dieser Meinungbefindet sich der Türhüter noch in einer viel schwereren Täuschung, sie betrifft seinenDienst. Zuletzt spricht er nämlich vom Eingang und sagt: «Ich gehe jetzt und schließeihn», aber am Anfang heißt es, daß das Tor zum Gesetz offensteht wie immer, steht es aberimmer offen, immer, das heißt unabhängig von der Lebensdauer des Mannes, für den esbestimmt ist, dann wird es auch der Türhüter nicht schließen können. Darüber gehen dieMeinungen auseinander, ob der Türhüter mit der Ankündigung, daß er das Tor schließenwird, nur eine Antwort geben oder seine Dienstpflicht betonen oder den Mann noch imletzten Augenblick in Reue und Trauer setzen will. Darin aber sind viele einig, daß erdas Tor nicht wird schließen können. Sie glauben sogar, daß er, wenigstens am Ende, auchin seinem Wissen dem Manne untergeordnet ist, denn dieser sieht den Glanz, der aus demEingang des Gesetzes bricht, während der Türhüter als solcher wohl mit dem Rücken zumEingang steht und auch durch keine Äußerung zeigt, daß er eine Veränderung bemerkthätte.« »Das ist gut begründet«, sagte K., der einzelne Stellen aus der Erklärung desGeistlichen halblaut für sich wiederholt hatte. »Es ist gut begründet, und ich glaube nunauch, daß der Türhüter getäuscht ist. Dadurch bin ich aber von meiner früheren Meinungnicht abgekommen, denn beide decken sich teilweise. Es ist unentscheidend, ob derTürhüter klar sieht oder getäuscht wird. Ich sagte, der Mann wird getäuscht. Wenn derTürhüter klar sieht, könnte man daran zweifeln, wenn der Türhüter aber getäuscht ist,dann muß sich seine Täuschung notwendig auf den Mann übertragen. Der Türhüter ist dannzwar kein Betrüger, aber so einfältig, daß er sofort aus dem Dienst gejagt werden müßte.Du mußt doch bedenken, daß die Täuschung, in der sich der Türhüter befindet, ihm nichtsschadet, dem Mann aber tausendfach.« »Hier stößt du auf eine Gegenmeinung«, sagte derGeistliche. »Manche sagen nämlich, daß die Geschichte niemandem ein Recht gibt, über denTürhüter zu urteilen. Wie er uns auch erscheinen mag, ist er doch ein Diener desGesetzes, also zum Gesetz gehörig, also dem menschlichen Urteil entrückt. Man darf dannauch nicht glauben, daß der Türhüter dem Manne untergeordnet ist. Durch seinen Dienstauch nur an den Eingang des Gesetzes gebunden zu sein, ist unvergleichlich mehr, als freiin der Welt zu leben. Der Mann kommt erst zum Gesetz, der Türhüter ist schon dort. Er istvom Gesetz zum Dienst bestellt, an seiner Würdigkeit zu zweifeln, hieße am Gesetzzweifeln.« »Mit dieser Meinung stimme ich nicht überein«, sagte K. kopfschüttelnd, »dennwenn man sich ihr anschließt, muß man alles, was der Türhüter sagt, für wahr halten. Daßdas aber nicht möglich ist, hast du ja selbst ausführlich begründet.« »Nein«, sagte derGeistliche, »man muß nicht alles für wahr halten, man muß es nur für notwendig halten.«»Trübselige Meinung«, sagte K. »Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht.« [...]